Handelt es sich beim Negativen Priming-Effekt um ein Gedächtnisphänomen?


Diplomarbeit, 2011

46 Seiten, Note: 1,1


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

Zusammenfassung

1 Theoretischer Hintergrund: Der Negative Priming-Effekt
1.1 Erklärungsmodelle
1.2 Kognitive Leistungsfähigkeit und Negatives Priming bei älteren Versuchsteilnehmern
1.3 Hypothesen

2 Methode
2.1 Stichprobe
2.2 Material
2.3 Prozedur
2.4 Design

3 Ergebnisse

4 Diskussion

5 Literaturverzeichnis

Zusammenfassung

Die vorliegende Untersuchung dient der Replikation und Erweiterung einer zuvor durchgeführten Studie von Buchner und Mayr (2004). Anhand einer auditiven Identifikationsaufgabe wurde die Leistung einer jungen Gruppe mit der Leistung zweier Senioren-Gruppen verglichen, um den auditiven Negativen Priming-Effekt im Altersvergleich zu untersuchen. Dabei stellte sich heraus, dass jede Altersgruppe einen signifikanten Negativen Priming-Effekt aufzeigte, wobei das Ausmaß des Effekts in beiden Senioren-Gruppen im Vergleich zur jungen Gruppe signifikant größer ausfiel. Damit konnte der Befund von Buchner und Mayr (2004) nur insofern repliziert werden, als dass der Effekt in beiden Senioren-Gruppen nicht reduziert war.

Zusätzlich wurde mithilfe des multinomialen Modells untersucht, welcher Mechanismus den auditiven Negativen Priming-Effekt bedingt. Das Ergebnis deutet darauf hin, dass episodische Abrufprozesse unabhängig vom Alter am Zustandekommen des auditiven Negativen Priming-Effekts beteiligt sind, da der spezifische Fehler in „Ignoriertes wiederholt“-Durchgängen im Vergleich zu Kontrolldurchgängen überrepräsentiert war. Dieser Effekt ist für jede Altersgruppe im selben Ausmaß eingetreten. Damit repliziert der vorliegende Befund die Vorgängerstudie von Mayr und Buchner (2006) und unterstützt das Modell des Abrufs der Prime-Reaktion im Rahmen des episodischen Abrufmodells.

1 Theoretischer Hintergrund: Der Negative Priming-Effekt

Folgendes Phänomen kennt wohl jeder Mensch aus dem Alltag: Man versucht sich z.B. während einer lauten Bahnfahrt mit allen verfügbaren Aufmerksamkeitskapazitäten darauf zu konzentrieren, dem eigenen Sitznachbarn ein guter Gesprächspartner zu sein, während man gleichzeitig auch Kapazitäten darauf verwenden muss, störende Reize, wie Lautsprecherdurchsagen oder „interessante“ Gespräche anderer Fahrgäste, zu ignorieren. In einer solchen Situation ist eine selektive Aufmerksamkeitszuwendung erforderlich, um die relevante Schallquelle zu extrahieren und alle anderen irrelevanten Schallquellen zu unterdrücken. Wenn aber plötzlich der eigene Name aus der irrelevanten „Geräuschkulisse“ ertönt, kommt es zu einer sofortigen Aufmerksamkeitszuwendung. Diese Erscheinung wurde in der Vergangenheit ausgiebig erforscht und als „Cocktail-Party-Effekt“ bezeichnet (Cherry, 1953). In diesem Zusammenhang war es auch interessant herauszufinden, wie viel von der Information aus dem „irrelevanten Kanal“ überhaupt verarbeitet wird und abrufbar ist. Die Anwendung eines so genannten Negativen Priming Paradigmas ist eine mögliche wissenschaftliche Herangehensweise zur Untersuchung dieser Fragestellung. Negative Priming Paradigmen wurden entwickelt, um den Negativen Priming-Effekt zu erforschen, der in einem experimentellen Kontext dadurch zum Ausdruck kommt, dass die Reaktionszeiten verzögert sind und die Fehlerrate steigt, wenn auf einen zuvor ignorierten Stimulus reagiert werden soll (Tipper, 1985; Fox, 1995; May et al., 1995).

Ein Negatives Priming Paradigma beinhaltet typischerweise eine variierende Anzahl an Doppel-Durchgängen. Jeder Doppel-Durchgang besteht aus einer Prime- und einer Probe-Präsentation, die kurz hintereinander dargeboten werden. In beiden Präsentationen werden zwei Reize (Zielreiz und Distraktor) simultan präsentiert, wobei die Aufgabe darin besteht, so schnell und akkurat wie möglich auf den Zielreiz zu reagieren und den Distraktor zu ignorieren. Dabei kann der Zielreiz z.B. durch die Farbe, Identität oder Position im Raum spezifiziert werden. Der Negative Priming-Effekt lässt sich in einer so genannten „Ignoriertes wiederholt“-Bedingung beobachten, in der sich ein zuvor ignorierter Prime-Distraktor als Probe-Zielreiz wiederholt. Dabei kommt es in der Regel zu verzögerten und stärker „fehlerbehafteten“ Probe-Reaktionen im Vergleich zur Kontrollbedingung, in der sich die Stimuli in der Prime- und Probe-Präsentation nicht wiederholen und somit in keiner Beziehung zueinander stehen (Park & Kanwisher, 1994).

Tipper (1985) hat als erster Forscher im Rahmen seiner Distraktorinhibitionstheorie ein Erklärungsmodell für den Negativen Priming-Effekt formuliert, welches in dieser Arbeit später genauer erläutert wird. Es gelang ihm den Negativen Priming-Effekt für die visuelle Modalität nachzuweisen. In mehreren Untersuchungen präsentierte Tipper seinen Versuchsteilnehmern in Prime- und Probe-Präsentationen jeweils zwei überlagerte Linienzeichnungen. Die Farbe der Zeichnungen diente als Selektionshinweis, denn die Zielreize wurden in rot und die Distraktoren in grün abgebildet. Die Teilnehmer wurden instruiert, die Identität der Zielreize so schnell wie möglich zu benennen. Dabei zeigte sich, dass die Benennungszeiten der Probes in „Ignoriertes wiederholt“-Durchgängen im Vergleich zu Kontrolldurchgängen signifikant länger waren.

Die Entdeckung des Negativen Priming-Effekts hat viel Forschung nach sich gezogen, die sich jedoch in der überwiegenden Anzahl der Fälle auf die visuelle Modalität beschränkt. So konnten robuste, replizierbare visuelle Negative Priming-Effekte mit vielfältigem Stimulusmaterial nachgewiesen werden, wie z.B. mit Buchstaben (Fox, 1994), Wörtern (Milliken et al., 1998), geometrischen Figuren (Yee, 1991) oder Linienzeichnungen (Tipper, 1985). Der auditive Negative Priming-Effekt ist dagegen weitaus weniger gut erforscht. Banks et al. (1995) ließen in der ersten Studie zur Untersuchung des auditiven Negativen Priming-Effekts Zielwörter beschatten, während gleichzeitig Distraktor-Wörter ignoriert werden mussten. Der Effekt kam darin zum Ausdruck, dass die vokale Aussprechzeit stieg, wenn sich der Prime-Distraktor als Probe-Zielreiz wiederholte. Dem folgten einige weitere Untersuchungen, in denen auch für die auditive Modalität robuste Negative Priming-Effekte beobachtet werden konnten (siehe z.B. Buchner & Steffens, 2001; Mondor et al., 2005). Beim Vergleich des Negativen Priming-Effekts in der visuellen und auditiven Modalität darf nicht außer Acht gelassen werden, dass sich die für die Aufmerksamkeitssteuerung verantwortlichen Mechanismen bedeutend zwischen den Modalitäten unterscheiden. Während die visuelle Aufmerksamkeit durch periphere Aufmerksamkeitsmechanismen gesteuert wird, unterliegt die auditive Aufmerksamkeitssteuerung zentralen Mechanismen. So fällt es vergleichsweise leichter, visuell statt auditiv dargebotene Stimuli zu ignorieren, weil die visuelle Aufmerksamkeit z.B. durch Augenbewegungen auf einen zu beachtenden Ort verschoben werden kann (Banks et al., 1995).

In der hier vorgestellten Arbeit geht es vorrangig um die Fragestellung, ob es einen Unterschied im Ausmaß des Negativen Priming-Effekts zwischen jungen und älteren Versuchsteilnehmern gibt. Die empirische Befundlage zu dieser Fragestellung ist äußerst inkonsistent und beschränkt sich fast ausschließlich auf die visuelle Modalität (siehe z.B. Guerreiro et al., 2010). So ist zumindest für die visuelle Modalität nach aktuellem Kenntnisstand der Forschung davon auszugehen, dass es keinen altersbedingten Unterschied im Ausmaß des Negativen Priming-Effekts gibt (Gamboz et al., 2002). Bislang weist nur eine einzige Studie von Buchner und Mayr (2004) darauf hin, dass diese Aussage auch für die auditive Modalität zutreffend ist. Aus diesem Grund besteht das Hauptziel der vorliegenden Studie darin, den Befund von Buchner und Mayr (2004) zu replizieren, indem das Ausmaß des auditiven Negativen Priming-Effekts im Vergleich zwischen einer jungen Personengruppe und zwei älteren Senioren-Gruppen untersucht wird. Bevor genauer auf die Motivationsaspekte der eigenen Studie eingegangen wird (siehe 1.2), sollen verschiedene Erklärungsansätze eingeführt und in ihrer Bedeutung für die akustische Modalität bewertet werden (siehe 1.1).

1.1 Erklärungsmodelle

In den folgenden Abschnitten werden insgesamt vier Erklärungsmodelle vorgestellt, wobei die Distraktorinhibitionstheorie (Tipper, 1985) und das episodische Abrufmodell (Neill & Valdes, 1992) im Vergleich zur Merkmalsdiskrepanztheorie (Park & Kanwisher, 1994) und der Diskriminationstheorie (Milliken et al., 1998) in der empirischen Forschung weitaus stärker etabliert sind. Die Distraktorinhibitionstheorie ist das erste Modell, das von Tipper (1985) zur Beschreibung des Negativen Priming-Effekts publiziert wurde. Dieses Modell führt den Effekt auf einen Inhibitionsmechanismus zurück, der durch selektive Aufmerksamkeitsprozesse gesteuert wird. Angenommen wird, dass die simultan präsentierten Stimuli (Zielreiz und Distraktor) während der Prime-Präsentation parallel verarbeitet werden und internale Repräsentationen für beide Reize angelegt werden. Allerdings werden während der Zielreiz-Selektion beide Repräsentationen auf unterschiedlicher Weise weiterverarbeitet. Denn die Zielreiz-Repräsentation wird aktiviert und die Distraktor-Repräsentation aktiv inhibiert bzw. weniger effizient verarbeitet. Die Inhibition des Distraktors dauert bis in die Probe-Präsentation an, so dass es Zeit kostet die vorliegende Inhibition zu überwinden und eine angemessene Reaktion auf den Probe-Zielreiz auszuführen. Dieser inhibitorische Aufmerksamkeitsmechanismus ermöglicht zwar einerseits effizientere Zielreiz-Reaktionen, bedingt jedoch andererseits auch eine Reaktionszeitverzögerung, wenn in „Ignoriertes wiederholt“-Durchgängen ein zuvor ignorierter und damit inhibierter Prime-Distraktor zum Probe-Zielreiz umfunktioniert wird.

Buchner und Steffens (2001) liefern in einer Untersuchung zum auditiven Negativen Priming empirische Evidenz für die Distraktorinhibitionstheorie, da ihr Befundmuster darauf hindeutet, dass Distraktorinhibition tatsächlich eine wichtige Komponente des Negativen Priming-Effekts ist. Diese Untersuchung (Experiment 2) war wie folgt aufgebaut: In der Prime-Präsentation kündigte ein Hinweisreiz das zu beachtende Ohr an. Der dort präsentierte Zielreiz sollte als Blas- oder Streichinstrument klassifiziert werden, während der Distraktor im anderen Ohr gleichzeitig ignoriert werden musste. Anschließend wurde das Probe-Stimuluspaar präsentiert und die Teilnehmer urteilten darüber, welcher Ton früher eingetreten ist. Tatsächlich wurden beide Töne aber simultan dargeboten. Urteile über die zeitliche Anordnung von Tönen sollen die Schnelligkeit und Effizienz perzeptueller Verarbeitungsprozesse abbilden. Die Untersuchung zeigte, dass die Versuchsteilnehmer dazu tendierten, einen zuvor ignorierten Ton als später eintretend wahrzunehmen. Bei zuvor beachteten und neuen Tönen zeigten sich dagegen keine Urteilsunterschiede. Dieses Ergebnis deckt sich mit den Vorhersagen der Distraktorinhibitionstheorie, welche langsamere und stärker „fehlerbelastete“ Probe-Reaktionen auf eine aktive Inhibition dieses Reizes in der Prime-Präsentation zurückführt. Da die Inhibition bis in die Probe-Präsentation andauert, wird der Probe-Zielreiz weniger effizient verarbeitet. Somit scheinen selektive Aufmerksamkeitsmechanismen unter anderem dazu zu dienen, die Verarbeitung ignorierter Stimuli zu hemmen (Tipper, 1985).

Ein großes Problem für die Distraktorinhibitionstheorie stellen Befunde dar, in denen sich die Manipulation des Preprime-Prime-Intervalls (Intervall zwischen der Prime-Präsentation und der davor liegenden Stimuluspräsentation) auf den Negativen Priming-Effekt auswirkt. Denn das Modell kann nicht erklären, warum das Preprime-Prime-Intervall überhaupt eine Rolle für das Ausmaß des Effekts spielen soll (Neill & Valdes, 1992; Mayr & Buchner, 2006).

Diese Befunde bekräftigen jedoch das episodische Abrufmodell, das ursprünglich auf Logans (1988) Instanztheorie der Automatisierung beruht: Während der Präsentation eines Objekts wird eine Gedächtnisspur angelegt, die Informationen über das Objekt enthält (z.B. Informationen über die Farbe, Position, Reaktion auf das Objekt). Wenn das Objekt erneut präsentiert wird, wird die entsprechende Gedächtnisrepräsentation abgerufen, so dass das Objekt nicht mehr vollständig verarbeitet werden muss und eine schnelle, automatisierte Reaktion erfolgen kann. Je häufiger das Objekt präsentiert wird, desto mehr Gedächtnisepisoden werden angelegt und desto wahrscheinlicher wird es, dass eine dieser Episoden in der Probe-Präsentation abgerufen wird. Logans Überlegungen wurden von Neill und Valdes (1992) aufgegriffen und zum episodischen Abrufmodell erweitert. Das Modell nimmt für die „Ignoriertes wiederholt“-Bedingung folgenden Mechanismus an: In der Prime-Präsentation werden während der simultanen Darbietung eines Zielreizes und Distraktors Gedächtnisrepräsentationen für beide Stimuli angelegt. Die Gedächtnisrepräsentation des Distraktors enthält unter anderem die Information, dass auf diesen Reiz nicht reagiert werden soll. Wenn der zuvor ignorierte Prime-Distraktor in der Probe-Präsentation als Zielreiz wiederholt wird, dann dient dieser Stimulus als Hinweisreiz für den Abruf der vorherigen Prime-Episode. Dabei wird das „Reagiere Nicht“-Attribut, das mit dem Prime-Distraktor assoziiert ist, aus der Prime-Episode abgerufen und interferiert mit der erforderlichen Reaktion auf den Probe-Zielreiz. Die Konfliktlösung kostet Zeit und kommt in Form von verzögerten Reaktionszeiten zum Ausdruck. Diese Reaktionszeitverzögerung sollte sich in Kontrolldurchgängen nicht zeigen, da sich die Stimuli in der Prime- und Probe-Präsentation nicht wiederholen, so dass konkurrierende Informationen nicht interferieren können.

Mayr und Buchner (2006) untersuchten die zeitliche Persistenz des auditiven Negativen Primings und liefern Evidenz für das episodische Abrufmodell. In zwei Untersuchungen (Experiment 1A und 1B) wurden die Intervalle zwischen Preprime-Reaktion und Prime-Präsentation (Preprime-RSI) und die Intervalle zwischen Prime-Reaktion und Probe-Präsentation (RSI) randomisiert innerhalb der Versuchsteilnehmer manipuliert. Das episodische Abrufmodell sagt bei langem Preprime-RSI und kurzem RSI einen größeren Negativen Priming-Effekt vorher, da die zeitliche Nähe zwischen Prime- und Probe-Präsentation größer ist und somit die Wahrscheinlichkeit steigt, die Prime-Episode erfolgreich zu erinnern und sie nicht mit der Preprime-Episode zu verwechseln. Denn dies stellt die Voraussetzung für den Negativen Priming-Effekt dar. Bei einem kurzen Preprime-RSI und einem langen RSI wird dagegen ein kleinerer Negativer Priming-Effekt prognostiziert, da unter dieser Bedingung die Verwechslungswahrscheinlichkeit zwischen Preprime und Prime größer ist, was gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit reduziert, die vorangegangene Prime-Reaktion in der Probe-Präsentation abzurufen (Neill & Valdes, 1992). Dieses erwartete Befundmuster trat in Experiment 1A ein. Dabei bestand die Aufgabe darin, bei jeder Präsentationsform (Preprime, Prime und Probe) den Zielreiz im beachteten Ohr als Streich- oder Blasinstrument zu klassifizieren und den simultan präsentierten Distraktor im unbeachteten Ohr zu ignorieren. In Abbildung 1 wird die Manipulation des Preprime-RSIs und des RSIs für beide Versuchsbedingungen veranschaulicht.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Dargestellt ist das Preprime-RSI und RSI für beide Versuchsbedingungen: (1) vs. (2) in Experiment 1A.

In Experiment 1B waren die zeitlichen Abstände zwischen Preprime, Prime und Probe identisch und betrugen jeweils 500 ms (Bedingung 1) vs. 5000 ms (Bedingung 2). Gemäß dem episodischen Abrufmodell wurde erwartet, keinen Unterschied im Ausmaß des Negativen Priming-Effekts zu finden, da aufgrund derselben zeitlichen Abstände, die Verwechslungswahrscheinlichkeit zwischen Preprime und Prime sowie zwischen Prime und Probe gleich groß war, was genauso eingetreten ist. Somit deutet dieses Ergebnis darauf hin, dass das Verhältnis zwischen Preprime-RSI und RSI das Ausmaß des Negativen Priming-Effekts determiniert bzw. dass der Effekt von der zeitlichen Diskriminierbarkeit der Prime-Episode abhängig ist. Damit konnte der Befund von Neill und Valdes (1992) aus der visuellen Modalität in der akustischen Modalität repliziert werden, was darauf hindeutet, dass episodische Abrufprozesse auch am Zustandekommen des auditiven Negativen Priming-Effekts beteiligt sind.

Dem episodischen Abrufmodell zu Folge basiert der Negative Priming-Effekt auf einem antwortbasierten Mechanismus. Perzeptuelle Urteile, wie beispielsweise Urteile über die zeitliche Anordnung auditiver Signale, sollen keinen Einfluss auf den Effekt ausüben (Neill & Valdes, 1992). Somit sagt der Ansatz auch nicht vorher, dass eine langsamere oder weniger effiziente Signalverarbeitung für zuvor ignorierte Stimuli eintritt oder, dass Versuchsteilnehmer die Tendenz entwickeln, zuvor ignorierte Stimuli als später eintretend wahrzunehmen. Jedoch konnten Buchner und Steffens (2001) genau dies in ihrer Untersuchung (Experiment 2) aufzeigen, so dass dieser Befund nicht mit dem episodischen Abrufmodell vereinbar ist.

Im Rahmen des episodischen Abrufmodells existiert neben dem ursprünglichen Erklärungsansatz (Abruf des „Reagiere Nicht“-Attributs) auch eine alternative Erklärungsvariante, die von Mayr und Buchner (2006) publiziert wurde (eine inhaltlich äquivalente Idee verfolgten auch Rothermund et al., 2005). Dabei wird ebenfalls angenommen, dass der Probe-Zielreiz einen Hinweisreiz für den Abruf der Prime-Episode darstellt. Im Vergleich zum ursprünglichen Erklärungsansatz ist die alternative Version umfassender, da diese vorhersagt, dass prinzipiell sämtliche Verarbeitungsprozesse aus der Prime-Episode während der Probe-Präsentation abgerufen werden und die Probe-Reaktion beeinträchtigen können. Neben dem Abruf des „Reagiere Nicht“-Attributs, ist auch ein Abruf der vorherigen Prime-Reaktion als Auslöser für den Negativen Priming-Effekt denkbar. Vorrangig wird jedoch angenommen, dass der Abruf der vorherigen Prime-Reaktion am wahrscheinlichsten ist. Beide Erklärungsansätze schließen sich damit nicht gegenseitig aus, denn möglich ist, dass sowohl das „Reagiere Nicht“-Attribut, als auch die Prime-Reaktion abgerufen werden, wenn sich der Prime-Distraktor als Probe-Zielreiz wiederholt. Um diese beiden Erklärungsansätze gegeneinander zu testen, haben Mayr und Buchner (2006) in zwei Untersuchungen (Experiment 2 und 3) für die auditive und visuelle Modalität eine multinomiale Modellierung des spezifischen Fehlers durchgeführt. Von einem spezifischen Fehler spricht man dann, wenn auf den Probe-Zielreiz mit der vorangegangenen Prime-Antwort reagiert wird. Mithilfe des multinomialen Modells nach Mayr und Buchner (2006) lässt sich bestimmen, mit welcher Wahrscheinlichkeit verschiedene Verarbeitungsstufen bei der Generierung der Probe-Antwort involviert sind. Das Modell beinhaltet verschiedene Parameter, die Abrufprozesse repräsentieren und denen Wahrscheinlichkeitsangaben zugeordnet sind. Das Modell und die entsprechenden Parameter werden im Ergebnisteil näher erläutert. Beide Erklärungsansätze machen bzgl. des Parameters p ra, der den spezifischen Fehler repräsentiert, unterschiedliche Vorhersagen. Somit eignet sich die Untersuchung dieses Parameters, um beide Ansätze voneinander abzugrenzen. Der ursprüngliche Erklärungsansatz (Abruf des „Reagiere Nicht“-Attributs) sagt vorher, dass die Wahrscheinlichkeit den spezifischen Fehler auszuführen und damit mit der ehemaligen Prime-Antwort auf den Probe-Zielreiz zu reagieren in „Ignoriertes wiederholt“-Durchgängen genauso groß ist wie in Kontrolldurchgängen: p ra (Iw) = p ra( K). Man erwartet also keinen Anstieg des spezifischen Fehlers in „Ignoriertes wiederholt“-Durchgängen, sondern vielmehr einen Reaktionszeitanstieg in Kombination mit einer unspezifisch erhöhten Fehlerrate (Neill & Valdes, 1992). Der alternative Erklärungsansatz (Prime-Reaktionsabruf) prognostiziert dagegen, dass die Wahrscheinlichkeit für den spezifischen Fehler in „Ignoriertes wiederholt“-Durchgängen größer ist: p ra ( Iw) > p ra (K) (Mayr & Buchner, 2006).

Das experimentelle Design von Mayr und Buchner (2006) sah in beiden Untersuchungen wie folgt aus: Jeder experimentelle Durchgang beinhaltete eine Prime- und eine Probe-Präsentation. In jeder Präsentation wurden zwei von vier Umweltgeräuschen (Frosch, Klavier, Trommel, Klingel) als Zielreiz und Distraktor simultan präsentiert, wobei so schnell und akkurat wie möglich auf den Zielreiz reagiert werden sollte. Die Datenauswertung ergab einen signifikanten auditiven Negativen Priming-Effekt bezogen auf die Reaktionszeiten und Probe-Fehlerhäufigkeiten. Zusätzlich ergab die multinomiale Modellierung des spezifischen Fehlers, dass die Wahrscheinlichkeit den spezifischen Fehler in Reaktion auf den Probe-Zielreiz auszuführen in „Ignoriertes wiederholt“-Durchgängen im Vergleich zu Kontrolldurchgängen signifikant überrepräsentiert war. Denn unter der Restriktion, dass p ra (Iw) = p ra (K) ist, ergaben Anpassungs-Tests eine signifikante „Nicht Passung“ der beobachteten Daten, so dass das Modell abgelehnt werden musste. Dies widerspricht dem ursprünglichen Erklärungsansatz von Neill und Valdes (1992) und bekräftigt die alternative Version.

Im Folgenden soll auf die verbleibenden zwei Erklärungsmodelle (Merkmalsdiskrepanzmodell und Diskriminationsmodell) Bezug genommen werden, die im Vergleich zu den eben vorgestellten Modellen empirisch weniger fundiert sind. Das Merkmalsdiskrepanzmodell von Park und Kanwisher (1994) führt den Negativen Priming-Effekt auf konkurrierende Symbolmerkmale zurück, die in der Prime- und Probe-Präsentation nicht übereinstimmen. Der Effekt lässt sich gemäß dem Modell dann beobachten, wenn ein „Positionsidentitätskonflikt“ zwischen dem Prime-Distraktor und dem Probe-Zielreiz eintritt, was dann der Fall ist, wenn der Probe-Zielreiz an derselben Position erscheint wie zuvor der Prime-Distraktor, aber eine andere Identität aufweist. Das bedeutet, dass der Negative Priming-Effekt nicht aufgrund des Ignorierens des Prime-Distraktors bzw. der Prime-Distraktor-Lokation zustande kommt, sondern aufgrund der Tatsache, dass sich Probe-Zielreiz und Prime-Distraktor unterscheiden. Empirische Evidenz für das Merkmalsdiskrepanzmodell lieferten Park und Kanwisher (1994, Experiment 4) selbst. Sie verwendeten dabei eine Lokalisationsaufgabe, in der in einer Prime- und einer Probe-Präsentation an zwei von vier möglichen Positionen ein Zielreiz und ein Distraktor simultan präsentiert wurden. Die Aufgabe bestand darin, so schnell wie möglich auf die Position des Zielreizes („o“) per Tastendruck zu reagieren und den Distraktor („x“), der eine andere Identität aufwies, zu ignorieren. Der Negative Priming-Effekt kam darin zum Ausdruck, dass die Probe-Reaktionszeiten verlangsamt waren, wenn der Probe-Zielreiz („o“) in „Ignoriertes wiederholt“-Durchgängen an derselben Position erschien wie der Prime-Distraktor („x“). Damit deckt sich dieses Befundmuster mit den Vorhersagen des Merkmalsdiskrepanzmodells.

Problematisch für das Modell sind jedoch Studien zur Untersuchung des auditiven Negativen Priming-Effekts, die zeigen, dass der Effekt auch ohne die Erzeugung von Merkmalsdiskrepanz bestehen bleibt, was darauf hindeutet, dass Merkmalsdiskrepanz keine Determinante des Negativen Priming-Effekts ist (Banks et al., 1995; Buchner & Steffens, 2001; Mondor et al., 2005). So verwendeten beispielsweise Buchner und Mayr (2004, Experiment 1) eine auditive Kategorisierungsaufgabe, in der innerhalb eines jeden Durchgangstyps, die beachteten Primes und Probes in der Hälfte der Durchgänge im selben Ohr (keine Orts-Identitäts-Diskrepanz) und in der anderen Hälfte in verschiedenen Ohren (Orts-Identitäts-Diskrepanz) dargeboten wurden. An dieser Stelle würde das Merkmalsdiskrepanzmodell einen größeren Negativen Priming-Effekt für die Bedingung vorhersagen, in der eine Orts-Identitäts-Diskrepanz erzeugt wurde. Stattdessen ergab die Datenauswertung, dass die Orts-Identitäts-Diskrepanz keinen Einfluss auf das Ausmaß des Negativen Priming-Effekts ausübt. Die Annahmen des Merkmalsdiskrepanzmodells spielen allerdings für die vorliegende Untersuchung keine Rolle, da der Prime-Distraktor und der Probe-Zielreiz immer auf derselben Seite präsentiert wurden, so dass es in „Ignoriertes wiederholt“-Durchgängen, in denen diese beiden Stimuli identisch waren, zu keiner Orts-Identitäts-Diskrepanz kommen konnte. Somit kann Merkmalsdiskrepanz auch nicht herangezogen werden, um einen möglichen Negativen Priming-Effekt zu erklären.

Das Diskriminationsmodell von Milliken et al. (1998) ist der letzte Erklärungsansatz, der im Rahmen dieser Arbeit vorgestellt werden soll. Das Modell macht für verschiedene Versuchsbedingungen explizite Vorhersagen. So wird für „Ignoriertes wiederholt“-Durchgänge folgender Mechanismus angenommen: Wenn der Probe-Zielreiz dargeboten wird, erscheint dieser vertraut, da er eine unbeachtete Komponente der Prime-Episode ist. Jedoch ist dieser Reiz nicht vertraut genug, um sofort als „alt“ identifiziert zu werden, weil der Prime-Distraktor nur unzureichend beachtet und verarbeitet wurde. Daraus entwickelt sich eine Ambiguität im Hinblick auf die Kategorisierung des Reizes als „alt“ oder „neu“, so dass die gesamte Reizverarbeitung verlangsamt abläuft. Dies ist dem Modell zu Folge der Grund dafür, weshalb sich der Negative Priming-Effekt in Form von verzögerten Reaktionszeiten in „Ignoriertes wiederholt“-Durchgängen einstellt. Für „Beachtetes wiederholt“-Durchgänge, in denen die Zielreize in der Prime- und Probe-Präsentation identisch sind, erwartet das Modell hingegen schnelle Reaktionszeiten, da der Probe-Zielreiz in dieser Bedingung sofort als „alt“ klassifiziert wird, so dass die Reaktion durch automatische, gedächtnisbasierte Prozesse schneller abgerufen und ausgeführt werden kann. Im Vergleich dazu sagt das Modell für Kontrolldurchgänge vorher, dass der Probe-Zielreiz augenblicklich als „neu“ identifiziert wird. Der Abruf der vorherigen Prime-Episode kann die Reaktion nicht erleichtern. Stattdessen muss der Probe-Zielreiz vollständig perzeptuell analysiert werden, wobei algorithmische Prozessmechanismen helfen, eine angemessene Reaktion zu generieren. Allerdings erstreckt sich dieser Prozess über eine längere Zeitspanne, so dass in dieser Bedingung verzögerte Reaktionszeiten im Vergleich zur „Beachtetes wiederholt“-Bedingung erwartet werden. Das Diskriminationsmodell unterscheidet somit zwischen zwei Prozessen, die an der Generierung der Probe-Antwort beteiligt sind. Wenn der Probe-Zielreiz sofort als „alt“ klassifiziert werden kann oder vertraut erscheint, dann helfen automatische, gedächtnisbasierte Prozesse eine angemessene Reaktion auszuführen. Wenn der Stimulus allerdings als „neu“ identifiziert wird, dann treten algorithmische Prozessmechanismen in Kraft und der Stimulus muss einer vollständigen perzeptuellen Analyse unterzogen werden.

[...]

Ende der Leseprobe aus 46 Seiten

Details

Titel
Handelt es sich beim Negativen Priming-Effekt um ein Gedächtnisphänomen?
Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Note
1,1
Autor
Jahr
2011
Seiten
46
Katalognummer
V194739
ISBN (eBook)
9783656201045
ISBN (Buch)
9783656204893
Dateigröße
709 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
untersuchung, aufmerksamkeit, negativen, priming, paradigmas
Arbeit zitieren
Tatjana Beck (Autor:in), 2011, Handelt es sich beim Negativen Priming-Effekt um ein Gedächtnisphänomen?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/194739

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