Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
2. Ildikós Heimat
2.1. Heimat und Identität
2.2. Sehnsuchtsort Vojvodina
2.3. Essen
2.4. Sprache
3. Leben in der Schweiz
3.1. Integration, Assimilation und Identifikation
3.2. Essen
3.3. Sprache
4. Fremde
4.1. Wegzug aus der Vojvodina, Ankunft in der Schweiz
4.2. Fremde in der Heimat Vojvodina
4.3. Fremdenfeindlichkeit
5. Ildikós Zwischenwelt
6. Schluss
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Mit dem Roman Tauben fliegen auf gewann die Schweizer Autorin Melinda Nadj Abonji 2010 sowohl den Deutschen als auch den Schweizer Buchpreis. Sie traf anscheinend nicht nur den Geschmack der Kritiker, sondern auch den Zeitgeist: „Das ist sie also: die zeitgemäße Form, über Emigration, entschwindende Heimat und das Leben im Dazwischen zu schreiben.“[1] Die aus dem ehemaligen Jugoslawien stammende Schriftstellerin erzählt in Rückblenden die Geschichte der Familie Kocsis aus der Vojvodina, die in die Schweiz auswandert.
Die Auseinandersetzung mit der eigenen Heimat und die Definition einer solchen ist in einer globalisierten Welt, in der unzählige Möglichkeiten des Reisens und des Arbeitens in anderen Ländern offen stehen, ein immer wiederkehrendes Thema. Auch für die Protagonistin Ildikó aus Tauben fliegen auf, die ihre Heimat aufgrund der politischen Situation verlassen musste. Heimat ist, einfach ausgedrückt, das Gegenteil von Überall oder Irgendwo. Doch es fällt schwer, den Begriff einheitlich zu definieren, da subjektive Erfahrungen die Idee von Heimat prägen. Häufig ist sie an die Kindheit gebunden, die Sozialisation, bestimmte Traditionen, auch an Essen und Sprache.
Das Bewusstsein von Heimat ist stets auch von der Vorstellung der Fremde, dem Anderen bestimmt. In meiner Hausarbeit werde ich versuchen, den Bezug der Protagonistin Ildikó zu ihren Vorstellungen von Heimat und Fremde in dem Roman Tauben fliegen auf herauszuarbeiten und für den Rahmen des Romans genauer zu bestimmen. Dabei werde ich vor allem auf die einzelnen subjektiven Faktoren, die für die Protagonistin Ildikó die Begriffe beeinflussen, eingehen. Auf die politische Situation im Roman, die Andrea Diener in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung[2] besonders stark betont hat, werde ich dabei nur am Rande eingehen. Da Heimat und Fremde ein durchgängiges Thema des Romans darstellt, wird es mir im Rahmen dieser Hausarbeit nicht möglich sein, auf jede Textstelle, die das Thema aufgreift, Bezug zu nehmen. Trotzdem werde ich versuchen, die prägnantesten Beispiele herauszuarbeiten und in den jeweiligen Kapiteln meiner Arbeit schlüssig darzustellen.
2. Ildikós Heimat
2.1. Heimat und Identität
Der Anfang von Tauben fliegen auf begeistert nicht nur die Kritikerin Andrea Diener[3], sondern verweist den Leser direkt auf ein zentrales Thema des Romans: die Auseinandersetzung mit dem Eigenen und dem Fremden und die damit verbundene Identitätsstiftung.
„Also fahren wir ein, recken unsere Hälse, um zu sehen, ob alles noch da ist, ob alles noch so ist wie im letzten Sommer und all die Jahre zuvor.“[4] Wir ist die ungarische Familie Kocsis, die aus der Vojvodina, einer autonomen Provinz in der Republik Serbien, in die Schweiz ausgewandert ist. Dort erhofften sie sich bessere politische Bedingungen und mehr Arbeit als in Titos Jugoslawien. Die Erzählerin dieses Romans ist das junge Mädchen Ildikó. Ihr Vater Miklós, ihre Mutter Rózsa, ihre Schwester Nomi und sie befinden sich am Anfang des ersten Kapitels, Titos Sommer, auf der Fahrt zu der Hochzeit von Miklós Neffe Nándor und Valéria in der Vojvodina.
Aus dem Auto heraus prüft die Familie Kocsis genauestens, ob sich etwas in der ihr vertrauten Landschaft verändert hat oder das Altbekannte vorgefunden wird. Durch ihre lange Abwesenheit können sie nicht mehr sicher sein, ob noch alles so ist, wie es mal war und wie sie es gewohnt sind. Während der Vater mit einer leicht abwertenden Skepsis feststellt, „ hat sich nichts verändert, gar nichts“[5], freut sich Ildikó darüber, „weil sich unsere Heimat nie verändern darf“.[6] Denn was sie aus dem Auto heraus sieht, ist eine Landschaft, eine Ebene, die sie sehr liebt: „Ich habe es nie jemandem gesagt, aber ich liebe diese Ebene […].“[7] Während das Gleichgebliebene für den Vater „einen Rückschlag“, nämlich „Stillstand“[8] bedeutet, wird bei der Beschreibung der Landschaft deutlich, wie wichtig diese Umgebung für Ildikó ist und dass sie sie wiedererkennt. Die Ebene suggeriert ihr Vertrauen und eine „Welt des intakten Bewusstseins“[9]. Ildikó kann sich gerade durch das Erkennen des Bekannten mit diesem Ort identifizieren, es handelt sich eben um ihre Heimat: „bei uns, in unserer Heimat“[10]. Heimat und Identität hängen eng miteinander zusammen, denn in seiner Heimat fühlt man sich akzeptiert, aufgehoben und zugehörig. Dieses Gefühl formt und beeinflusst den Menschen. Bei Ildikós Geschichte und ihrer Entwicklung im Laufe des Romans Tauben fliegen auf wird das besonders deutlich. Obwohl es sich bei dem Begriff Heimat eher um einen räumlich lokalisierbaren handelt und Identität eine innere Struktur beschreibt, einen lebenslangen Prozess[11], lassen sich beide Aspekte im Roman nicht komplett getrennt voneinander analysieren.
Heimat ist für Ildikó vor allem die Vojvodina, doch gerade in der fernen Schweiz, in der Auseinandersetzung mit der Fremde, entdeckt sie das Eigene, und damit sich selbst. Fremderfahrung bedeutet also stets auch Selbsterfahrung. So ist es ebenso bezeichnend, dass Melinda Nadj Abonji die Idee zu Tauben fliegen auf in dem ihr bis dahin fremden, französischen Teil der Schweiz bekam. „Dort, wo die Stimmen anders und lauter klangen, habe die Erinnerung eingesetzt: an das untergegangene Zuhause, das in der dichterischen Beschwörung wieder auferstehen kann.“[12] Laut dem Soziologen Stuart Hall spielt in einem Identifikationsprozess die Differenz sogar eine größere Rolle als die Zugehörigkeit.[13] In Tauben fliegen auf wird Identität vor allem durch den Begriff der Heimat geschaffen. Ildikó setzt sich in Blick auf ihre Heimat mit sich selbst auseinander und indem sie sich in diesem Prozess auch von denen, die ihr bisheriges Leben bestimmt haben, abnabelt, kommt sie sich näher. So dient der Begriff der Heimat auch als Gegenbegriff zur Entfremdung.
2.2. Sehnsuchtsort Vojvodina
Der Begriff der Heimat setzt sich aus verschiedenen Elementen zusammen. Auf der einen Seite dienen Freunde, Verwandte, der Wohnort, die Umgebung, die Natur dazu den Heimatbegriff einzugrenzen, auf der anderen Seite gehören emotionale Aspekte unlösbar zu einem Heimatgefühl.[14] Auch bei Ildikó spielen sowohl die territorialen, gemeinschaftlichen Elemente eine Rolle als auch die Gefühle, die in der Vojvodina bei ihr ausgelöst werden.
Auf dem Weg zur Hochzeit von Miklós‘ Neffe in der Vojvodina vergleicht Ildikó die Umgebung und die Natur, an der sie vorbeifahren und die Beziehung, die sie zu dieser hat, mit ihrer jugendlichen Liebesgeschichte zu dem Italiener Matteo. Ein Zustand voll „Taumel“ und „Schönheit“, der ihr „den Verstand raubt“[15] wird in ihr hervorgerufen. Sie wünscht sich bei dem Betrachten der Landschaft „auch diesmal stehenzubleiben“[16], obwohl „du [von dieser Ebene] nichts wollen kannst“[17], andere diese Gefühle nicht nachvollziehen könnten. Sie ersehnt sich ein Anhalten, denn die Ebene bietet ihr Schutz: „und das ist der Schutz, den sie dir gewährt.“[18] Einen Schutz, den ihr das Bekannte und das Beständige bietet, den sie festhalten will. Einen Schutz, den ihr auch die Erinnerung bietet, eine Erinnerung an die „Atmosphäre [ihrer] Kindheit“[19], die für sie Heimat bedeutet. Der Volkswirtschaftler Klaus Weigelt fand heraus, dass die meisten Menschen Heimat mit ihrem Geburtsort, ihrer Kindheit und ihrem Elternhaus assoziieren und diese Erinnerungen mit dem Stichwort „Geborgenheit“ umschreiben.[20] Diese Geborgenheit empfindet auch Ildikó beim Betrachten des ihr Bekannten, Liebgewonnenen, nämlich in dem Gefühl angenommen zu sein und dazuzugehören.
Die Atmosphäre ihrer Kindheit ist für Ildikó stark mit Sinneseindrücken verbunden und in einem hohen Maße durch die Natur und durch ihre Liebe zu der heimatlichen Landschaft bestimmt.
Vor allem die imposanten Bäume der Vojvodina erwähnt Ildikó häufig:
„das was ich von meinem Land erzählen wollte, […] über die Luft zwischen den majestätischen Pappeln und Akazien, die winzigen Blumen, die zwischen den Pflastersteinen wachsen“[21]
„die staubigen Strassen und die Pappeln, die Pappelblätter, die so zärtlich waren mit der Luft- […] alles, was ich geliebt habe“[22]
In der Schweiz, in der sie aufgrund gesellschaftspolitischer und wirtschaftlicher Umstände leben muss, erscheint ihr ihre eigentliche Heimat, die Vojvodina wie ein ferner Sehnsuchtsort. Jedes Mal wenn sie in der Schweiz ihre Koffer packt, fühlt sie sich wie „eine, die weggeht und nicht weiss, ob sie jemals zurück kommt.“[23] Sie ist auf diesem Weg „keine Reisende“[24], sondern eine Heimkehrerin, denn in der Schweiz fühlt sie sich noch lange nicht angekommen.
Obwohl Ildikó schnell Deutsch lernt, in der Schweiz einen geregelten Alltag hat und weiß, dass sich das Leben in ihrer Heimat durch den Krieg geändert hat, bleibt die Sehnsucht groß. Auch nach Jahren noch beschreibt Ildikó bei einem weiteren Aufenthalt in der Vojvodina ihren Wunsch, dass die Zeit dort nicht endet, „dann wünsche ich mir, dass die Nacht und der Tag zusammengehören, so dass die Nacht sich nicht an den nächsten Morgen verliert.“[25]
2.3. Essen
Der Germanist und Volkskundler Helge Gerndt ist der Meinung, dass sich Verheimatung in einer Welt alltäglicher Kultur vollzieht.[26] In Tauben fliegen auf wird diese Annahme anhand der Beschreibung des Essens und Trinkens in der Vojvodina besonders deutlich. Bestimmtes Essen und Trinken sind eine der wichtigsten Merkmale verschiedener Kulturen. „Zudem ist die Nahrungsauswahl eng mit unserer individuellen und kollektiven Identität verbunden.“[27] Dies verweist wieder auf eines der zentralen Themen des Romans.
[...]
[1] Birrer, Sibylle: Zärtlichkeit und Wut - Melinda Nadj Abonjis Roman «Tauben fliegen auf» erzählt von doppelter Fremdheit. In: Neue Züricher Zeitung 02.10.10. http://www.nzz.ch/magazin/buchrezensionen/zaertlichkeit_und_wut_1.7776185.html (05.03.2012).
[2] Vgl.: Diener, Andrea: Melinda Nadj Abonji: Tauben fliegen auf. Ein Krieg ist ein Krieg, ein Arbeitslager ist ein Arbeitslager. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 10.09.10.
[3] Vgl.: Diener, Andrea: Melinda Nadj Abonji: Tauben fliegen auf. Ein Krieg ist ein Krieg, ein Arbeitslager ist ein Arbeitslager. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 10.09.10. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/melinda-nadj-abonji-tauben-fliegen-auf-ein-krieg-ist-ein-krieg-ein-arbeitslager-ist-ein-arbeitslager-11014479.html (05.03.12)
[4] Nadj Abonji, Melinda: Tauben fliegen auf. Salzburg und Wien: Jung und Jung 2010. S. 5.
[5] Ebd.: S. 6.
[6] Ebd.: S. 21.
[7] Ebd.: S. 8.
[8] Ebd.: S. 7.
[9] Vgl. Bausinger, Hermann: Heimat und Identität. In: Heimat und Identität. Probleme regionaler Kultur 22. Deutscher Volkskunde Kongress in Kiel vom 16. bis 21. Juni 1979. Hrsg. im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde von Konrad Köstlin und Hermann Bausinger. Neumünster: Wachtholz 1980 (=Studien zur Volkskunde und Kulturgeschichte Schleswig-Holsteins, Bd. 7). S. 9.
[10] Nadj Abonji, Melinda: Tauben fliegen auf. S. 15.
[11] Vgl. Identität als lebenslanger Prozess bei Hall, Stuart: „Who needs Identity?“ In: Questions of Cultural Identity. Hrsg. von Stuart Hall und Paul du Gay. London: Sage 1996. S 1-18, hier S. 3.
[12] Haas, Daniel: Deutscher Buchpreis 2010. Ein Integrations-Roman gewinnt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 05.10.10.
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/2.1769/videos/deutscher-buchpreis-2010-ein-integrations-roman-gewinnt-11054585.html (05.03.12).
[13] Vgl.: Hall, Stuart: Rassismus und kulturelle Identität. Hrsg. und übersetzt von Ulrich Mehlem. Hamburg: Argument Verlag 2000. S. 17.
[14] Vgl.: Bastian, Andrea: Der Heimat Begriff. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung in verschiedenen Funktionsbereichen der deutschen Sprache. Tübingen: Niemeyer 1995. S. 33ff.
[15] Nadj Abonji, Melinda: Tauben fliegen auf. S. 5.
[16] Ebd.: S. 6.
[17] Ebd.: S. 8.
[18] Ebd.: S. 8.
[19] Ebd.: S. 19.
[20] Vgl.: Weigelt, Klaus: Heimat - der Ort personaler Identitätsfindung und sozio-politischer Orientierung. In Heimat und Nation. Zur Geschichte und Identität der Deutschen. Hrsg. von Klaus Weigelt. Mainz: Hase & Koehler 1984. S. 3-32, hier S.15.
[21] Nadj Abonji, Melinda: Tauben fliegen auf. S. 241-242.
[22] Ebd.: S. 277.
[23] Ebd.: S. 138.
[24] Ebd.: S. 138.
[25] Ebd.: S. 115.
[26] Gerndt, Helge: Kultur als Forschungsfeld. Über volkskundliches Denken und Arbeiten. München: Vereinigung für Volkskunde 1986 (= Münchner Beiträge zur Volkskunde, Bd. 5). S. 207.
[27] Bauer, Theres: Ist Essen Heimat? Das Beibehalten und das Verändern von Koch- und Essgewohnheiten in der Migration. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde. Hrsg. von der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde. Basel: Revue 2005. S. 21-37, hier S. 21.