"Kindermord! traum ich oder wach ich? - ist sie möglich, die That [...]? Verhüll’ dein Antliz Jahrhundert! beug dich nieder Europa! von deinen Richterstühlen erschallet die Antwort - Zu tausenden werden meine Kinder von der Hand der Gebährenden erschlagen."
Die Worte, die dieser Einleitung voranstehen, sind zwar voller Pathos und erscheinen höchst hyperbolisch, doch sie spiegeln durchaus die Realität des 18. Jahrhunderts wider: Zu dieser Zeit sah sich insbesondere Deutschland mit einer derart hohen Anzahl an Kindsmordfällen konfrontiert, dass sich daraus Auswirkungen auf Justiz, Medizin, Pädagogik und sogar die Literatur ergaben.
Besonders zwei Aspekte waren es, die die Öffentlichkeit in diesem Zusammenhang bewegten. So formuliert der Schweizer Pädagoge JOHANN HEINRICH PESTALOZZI in seiner wegweisenden Abhandlung „Ueber Gesezgebung und Kindermord“ (1783), aus der auch das vorangehende Zitat stammt, folgende Frage: „Europa! was bringt deine Gebährerinn zum Mord ihrer Kinder? woher quillt die Verzweiflung im Busen des Mädchens? daß es – o Gott! [...] erwürget des Kind seiner Schmerzen.“ Die Frage nach den Motiven, die Frauen dazu bewegten, ihre Neugeborenen zu töten, bildete einen der beiden Schwerpunkte in der Diskussion um den Kindsmord. Den anderen zentralen Aspekt spricht PESTALOZZI ebenfalls gleich zu Beginn seines Aufsatzes an und verdeutlicht seinen Standpunkt dazu mit klaren Worten: „Stek ein das Schwerdt deiner Henker Europa! es zerfleischet die Mörderinnen umsonst!“ Der Schweizer Sozialreformer zeigt sich als absoluter Gegner des außerordentlich rigorosen damaligen Strafrechts, das vor allem auf Abschreckung setzte, und deshalb für das Delikt des Kindsmords die Todesstrafe vorsah.
Neben juristischen, medizinischen und pädagogischen Schriften entstanden besonders in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auffallend viele literarische Werke, die den Kindsmord thematisieren. Für die vorliegende Arbeit wurden aus dieser Fülle von Veröffentlichungen exemplarisch zwei Gedichte ausgewählt, die durch ihre Entstehungsgeschichte eng miteinander verbunden sind: „Seltha, die Kindermörderin“ (1781) von GOTTHOLD FRIEDRICH STÄUDLIN und „Die Kindsmörderin“ (1782) von FRIEDRICH SCHILLER.
Bevor genauer auf Gestalt und Inhalt dieser beiden Werke eingegangen wird, soll zunächst ein Überblick über deren historischen Kontext, die damaligen sozialen Bedingungen, bestimmte politische und juristische Aspekte bezüglich des Kindsmords gegeben werden. [...]
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Der Kindsmord in der Zeit der Aufklärung
- Stäudlins „Seltha" und Schillers „Die Kindsmörderin“
- Eine schwäbische Dichterfehde
- Form, Sprechhaltung und Ausgangssituation
- Skrupelloser Verführer und unschuldige Verführte?
- Der Mord und die Mordmotive
- Sprache und Bildlichkeit
- Zusammenfassung und Fazit
- Literaturverzeichnis
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit untersucht das Motiv des Kindsmords in zwei exemplarischen Gedichten des 18. Jahrhunderts: „Seltha, die Kindermörderin“ von Gotthold Friedrich Stäudlin und „Die Kindsmörderin“ von Friedrich Schiller. Im Fokus steht die Analyse der literarischen Gestaltung dieses Themas, der Vergleich der beiden Gedichte sowie die Einordnung in den historischen Kontext der Aufklärung und der Sturm-und-Drang-Literatur.
- Die Entstehung des Kindsmordmotivs in der Literatur der Aufklärung
- Der Einfluss von sozialer Ungleichheit und juristischen Strafen auf den Kindsmord
- Der Vergleich der literarischen Gestaltung des Kindsmords bei Stäudlin und Schiller
- Die Rolle der Sprache und Bildlichkeit in der Darstellung des Mordes
- Die Bedeutung des Themas Kindsmord für die Literatur des 18. Jahrhunderts
Zusammenfassung der Kapitel
- Einleitung: Die Einleitung präsentiert das Motiv des Kindsmords im 18. Jahrhundert und beleuchtet die Relevanz dieses Themas in Literatur, Justiz und Gesellschaft. Der Fokus liegt auf der Frage nach den Motiven für Kindsmord und den damaligen Strafen.
- Der Kindsmord in der Zeit der Aufklärung: Dieses Kapitel beleuchtet die historische Entwicklung des Kindsmords in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Es werden die sozialen und rechtlichen Umstände, die das Delikt begünstigten, sowie die Reaktionen der Gesellschaft und der Wissenschaft auf die steigende Anzahl von Kindsmordfällen beleuchtet.
- Stäudlins „Seltha" und Schillers „Die Kindsmörderin“: Dieses Kapitel beschäftigt sich mit den beiden untersuchten Gedichten, „Seltha, die Kindermörderin“ und „Die Kindsmörderin“. Es wird ein Vergleich der beiden Werke in Bezug auf Form, Sprechhaltung, Figuren, Handlung und Sprache durchgeführt.
Schlüsselwörter
Kindsmord, Aufklärung, Sturm und Drang, Gotthold Friedrich Stäudlin, Friedrich Schiller, „Seltha“, „Die Kindsmörderin“, Soziale Ungleichheit, Strafrecht, Literatur, Sprache, Bildlichkeit, Motivgeschichte.
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- Dipl.-Bibl. Regina Männle (Author), 2008, "Vergossen, Mutter! Kindesblut", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/200299