Wie lernen Kinder an einer Schule zur Lernförderung Rechnen?

Mit aktiv-entdeckendem Lernen zum Erfolg im Erstrechnen


Masterarbeit, 2012

129 Seiten, Note: 1,1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Eidesstattliche Erklärung

Vorwort

Zusammenfassung

I Einleitung

II Theoretischer Hintergrund
1 Begriffsbestimmungen
1.1 Sonderpädagogischer Förderbedarf im Förderschwerpunkt „Lernen“
1.2 Schwierigkeiten im Rechnenlernen
1.3 Zusammenfassung
2 Herausforderungen für den mathematischen Erstunterricht an der Schule zur Lernförderung
2.1 Zahlbegriffserwerb
2.1.1 Aspekte der Zahl
2.1.2 Entwicklungsverläufe
2.2 Zählen
2.2.1 Bedeutung und Zählkompetenzen
2.2.2 Subitizing
2.3 Vorwissen bei Schulbeginn
2.4 Spezifische Schwierigkeiten im Erstrechnen
2.5 Zusammenfassung
3 Didaktische Folgerungen für den mathematischen Erstunterricht an der Schule zur Lernförderung
3.1 Traditionelle und gegenwärtige Mathematikdidaktik
3.2 Ein revidiertes Verständnis von Mathematikdidaktik
3.3 Zusammenfassung
4 Aktiv-entdeckendes Lernen im Mathematikunterricht
4.1 Historische und theoretische Grundlagen des aktiv-entdeckenden Lernens
4.2 Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt „mathe 2000“
4.2.1 Projektidee und Ergebnisse
4.2.2 Leitlinien und Prinzipien
4.3 Realisierung an der Schule zur Lernförderung
4.3.1 Diskussion des Förderansatzes von „mathe 2000“
4.3.2 Studienergebnisse
4.3.3 Einflussgrößen bei der Umsetzung
4.4 Zusammenfassung

III Darstellung der empirischen Untersuchung
5 Ableitung von Fragestellungen
6 Methodik
6.1 Forschungsdesign
6.2 Untersuchungs- und Auswertungsinstrumente
6.2.1 Lehrplananalyse
6.2.2 Analyse des Lehrmaterials „Klick! Mathematik 1“
6.2.3 Fragebogen über die Einstellung der Lehrkraft
6.2.4 Unterrichtsanalyse
6.3 Stichprobe
7 Ergebnisdarstellung
7.1 Lehrplananalyse
7.2 Analyse des Lehrmaterials „Klick! Mathematik 1“
7.3 Fragebogen über die Einstellung der Lehrkraft
7.4 Unterrichtsanalyse
8 Interpretation der Ergebnisse
9 Beantwortung der Fragestellungen
10 Reflexion

IV Fazit und Konsequenzen

V Verzeichnisse

Literaturverzeichnis

Internetquellenverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Anhangsverzeichnis

I Einleitung

Mathe ist ein lebendiges und fröhliches Gebiet.

Ziegler 2011

Diese Behauptung stößt bei der Mehrheit der Bevölkerung (zunächst) sicher auf Unverständnis, Empörung und Widerrede. Schließlich erleben viele Schülerinnen und Schüler Mathematik als trocken, langweilig und undurchdringbar. Nicht wenigen gelingt es nur unter enormem Aufwand, selbst einfachste Rechnungen zu lösen. Trotz großer Anstrengung werden sie nicht in der vorgegebenen Zeit fertig und erleben fortlaufend Scheitern. Das hat zur Folge, dass Mathematik bei Kindern zunehmend zum Mysterium und Angstfach wird. Dies kann sich unter Umständen gar in psychosomatischen Folgen sowie in einem negativen Fähigkeitsselbstkonzept manifestieren. Im Hinblick auf die Prävalenz von 5-20% im Grundschulbereich (vgl. Werner 2009, 89) sind Rechenschwierigkeiten keineswegs als marginales Problem beiseite zu schieben. Neben den innerschulischen sind auch die außerschulischen Konsequenzen von Schwierigkeiten in der Mathematik nicht zu vernachlässigen: Auf geografischer, zeitlicher sowie ökonomischer Ebene kann die Lebensqualität der Heranwachsenden erheblich eingeschränkt werden.

Besonders relevant sind Schwierigkeiten im Rechnenlernen für den Primarbereich im Förderschwerpunkt Lernen. Schließlich gehört Mathematik zu den Fächern, die häufig ausschlaggebend für die Überweisung auf eine Schule zur Lernförderung sind.

Sonderpädagogische Publikationen weisen im mathematischen Bereich ein doppeltes Defizit auf: Zum Einen thematisieren sie meist ausschließlich die Einzelförderung, zum Anderen gehen sie kaum auf fachdidaktische Erkenntnisse ein. Dies motiviert, die wesentlichen Herausforderungen und mögliche Schwierigkeiten des Rechnenlernens aufzuarbeiten, deren Bedeutung für die Didaktik in der Mathematik herauszustellen und nach Hinweisen für den Klassenunterricht an der Schule zur Lernförderung zu suchen, der Freude und Erfolg in der Mathematik ermöglicht.

Die Arbeit klärt mit Begriffsbestimmungen in Kapitel 1 den Rahmen für Mathematikunterricht an einer Schule zur Lernförderung.

Die Frage nach der geeigneten Mathematikdidaktik kann nach Ansicht der Autorin erst nach der Auseinandersetzung mit mathematischen Stoffinhalten beantwortet werden. Denn auch die elementarste Mathematik ist keine inhaltliche Selbstverständlichkeit. Jede Lehrperson sollte höchste Kompetenz hinsichtlich der Abstraktionsleistungen und Begriffsbildungen, welche die Schülerinnen und Schüler erbringen müssen, aufweisen. Mit der Arithmetik beginnt der Mathematikunterricht in der ersten Klasse und jene dominiert auch in den folgenden Schuljahren. Des Weiteren zeigen Erfahrungen (vgl. Wehrmann 2003, 9), dass die Schwierigkeiten von Kindern in der Mathematik größtenteils in der Arithmetik zu verorten sind. Im Primarstufenbereich werden für viele mathematische Lernprozesse die Grundlagen geschaffen, welche wiederum möglichen Schwierigkeiten im Sekundarstufenbereich vorbeugen. Aus diesen Gründen fokussiert diese Arbeit den arithmetischen Anfangsunterricht, welcher auch als mathematischer Erstunterricht oder Erstrechnen bezeichnet wird. Besonders in den ersten Schuljahren sind der Aufbau des Zahlbegriffs, der Umgang mit Zahlen sowie die Orientierung in Zahlenräumen zentrale Elemente des Mathematikunterrichts. Deshalb soll im zweiten Kapitel auf die Herausforderungen des Zahlbegriffserwerbs und des Zählens im Erstrechnen eingegangen werden. Dabei ist zu beachten, dass alle Kinder bei Schuleintritt über ein beachtliches, meist unsystematisches Vorwissen verfügen. Jedoch zeigt sich bei Kindern (der Schule zur Lernförderung) ein sehr heterogenes Profil, ganz unterschiedliche Entwicklungsverläufe sind möglich und zielführend. Ausgehend von den Herausforderungen des Erstrechnens ergeben sich Schwierigkeiten, die Kinder der ersten Klassen haben oder haben können.

Zweifellos ist die Kenntnis des aktuellen Lernstandes des Kindes wichtig und die Zahlbegriffsentwicklung bereits im Vorschulalter zu thematisieren. Es existieren verschiedene Verfahren zur individuellen, lernbegleitenden Diagnostik und Förderung, die im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht vorgestellt werden sollen. Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auf den didaktischen Ideen für den mathematischen Erstunterricht an der Schule zur Lernförderung.

In der Literatur wird vorwiegend auf zwei Ebenen diskutiert: Zum einen über die Auffassung vom Wesen der Mathematik, zum anderen über die Auffassung vom Lernen und Lehren. Nachdem zunächst die Herausforderungen des Erstrechnens thematisiert worden sind, soll im Anschluss das Verständnis von Lernen und Lehren in der Mathematik diskutiert werden. Aus aktuellen Erkenntnissen über die Herausforderungen des Erstrechnens an der Schule zur Lernförderung sollen in Kapitel 3 didaktische Folgerungen gezogen werden. Die traditionelle und gegenwärtige Mathematikdidaktik an der Schule zur Lernförderung mit typischen Prinzipien der klassischen Hilfsschuldidaktik wird einem revidierten Verständnis von Mathematikdidaktik gegenüber gestellt. Dabei treten bereits die gegensätzlichen Positionen einer konstruktivistischen und einer empiristischen Orientierung hervor. Ausgehend von der konstruktivistischen Sichtweise erörtert Kapitel 4 die historischen und theoretischen Grundlagen des aktiv-entdeckenden Lernens im Mathematikunterricht. Zur Konkretisierung sollen die Ideen und Prinzipien am Beispiel des Projektes "mathe 2000" herausgestellt werden. Anschließend wird die Realisierung dieser Prinzipien an einer Schule zur Lernförderung thematisiert. Auch wenn aktuelle Studienergebnisse bezüglich des aktiv-entdeckenden Lernens erfolgversprechend sind, führt dies nicht automatisch zu einer Übersetzung in die Praxis. Verschiedene Größen beeinflussen die Umsetzung eines aktiv-entdeckenden Lernens im Mathematikunterricht an der Schule zur Lernförderung. Für diese Arbeit werden die vier Einflussgrößen Lehrplan, Lehrmaterial, Einstellung und Verhalten der Lehrkraft ausgewählt, aus welchen in Kapitel 5 die Fragestellungen abgeleitet werden. Im Teil III knüpft eine empirische Untersuchung an diese vier Ebenen der Umsetzung an. Ziel dieser Arbeit ist es, zu prüfen, inwiefern aktuelle Erkenntnisse zum aktiv-entdeckenden Lernen bei Kindern mit Lernbeeinträchtigung im mathematischen Erstunterricht an einer Schule zur Lernförderung umgesetzt werden. Das Kapitel 6 beschreibt das Forschungsdesign, die Untersuchungs- und Auswertungsinstrumente sowie die gewählte Stichprobe. Anschließend werden dann die Ergebnisse aus der Lehrplananalyse, der Analyse des Lehrmaterials „Klick! Mathematik 1“, dem Fragebogen über die Einstellung und der Unterrichtsanalyse vorgestellt und diskutiert. Nach der Beantwortung der Fragestellungen folgt eine Reflexion. Die Arbeit wird abgeschlossen durch ein Fazit und Konsequenzen.

II Theoretischer Hintergrund

1 Begriffsbestimmungen

„Dyskalkulie“ ist der nicht gelungene Umgang

mit verschiedenartigen Lösungswegen der Kinder,

mit ihren individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten

bezüglich mathematischer Sachverhalte.

Werner 2009, 101

"Lernbehindert ist, wer eine Schule für Lernbehinderte besucht" (Bleidick 1980, 130). Diese beliebte Tautologie drückt das verbreitete Unbehagen gegenüber dem Begriff Lernbehinderung, den schulischen Kontext sowie die Schwierigkeit einer genauen Definition aus. Die unklare Situation spiegelt sich in einer fortwährenden Diskussion bezüglich der Terminologie zur Bezeichnung der Institution sowie für den Personenkreis mit spezifischen Merkmalen wider. Entsprechend haben auch Schwierigkeiten beim Mathematiklernen viele Namen und die Bezeichnungen finden je nach Quelle und Sichtweise auch unterschiedliche Verwendung. Die Autorin ist sich der Problematik einer Kategorisierung, insbesondere der Gefahr von Stigmatisierung und Diskriminierung, bewusst. Es sei jedoch auf die Argumentation von Schröder (2005, 75 f) verwiesen, der aufgrund der Existenz dieser speziellen Schulform und zum Zwecke der Formulierung des Förderbedarfs die begriffliche Fassung der Lernbehinderung für legitim hält. Da die vorliegende Arbeit der Frage einer aktuellen Mathematikdidaktik an der Schule zur Lernförderung nachgeht, erscheint eine begriffliche Klärung von Sonderpädagogischem Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen sowie von Schwierigkeiten im Rechnenlernen als sinnvoll.

1.1 Sonderpädagogischer Förderbedarf im Förderschwerpunkt „Lernen“

Die Begriffe lernbehindert und Lernbehinderung sind um 1960 im Zusammenhang mit der Umbenennung der Hilfsschule in Schule für Lernbehinderte entstanden. Da die Probleme dieses Personenkreises weniger offensichtlich sind als bei anderen Beeinträchtigungen, ist eine inhaltlich klare Fassung und Abgrenzung schwierig. Die offizielle Definition der WHO[1] (ICD-10-GM[2] ) ordnet die Lernbehinderung zwar ein, definiert diese aber nicht. Zudem scheint das medizinisch orientierte Diagnosesystem wenig geeignet, personale und schulische Faktoren zu berücksichtigen (vgl. WHO 2012, Online im Internet). Es wurden zahlreiche Versuche unternommen, den Begriff Lernbehinderung zu ersetzen und sich in einem pädagogisch-psychologischen Terminus von einer Defizitorientierung abzuwenden. Um die Lernortunabhängigkeit der sonderpädagogischen Förderung zu unterstreichen, führt die KMK[3] 1999 die Bezeichnung Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen ein, welche heute den bundesdeutschen Sprachgebrauch dominiert. Die entsprechende Schule heißt Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen oder Schule für Lernhilfe (vgl. Kretschmann 2007, 6). Gemäß der KMK (1999, Online im Internet) liegt dann ein sonderpädagogischer Förderbedarf vor, wenn die Lern- und Leistungsentwicklung von Kindern und Jugendlichen erheblichen Beeinträchtigungen unterliegt, welche auch mit zusätzlichen Lernhilfen an der allgemeinen Schule nicht genügend gefördert werden können. Diesen Kindern steht dann eine sonderpädagogische Unterstützung an der Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen oder im Rahmen des Gemeinsamen Unterrichts zu (z.B. MSW 2009, § 20). Vielfach wird kritisch angemerkt, dass die Förderschwerpunkte nur eine Umformulierung der herkömmlichen Behinderungsformen darstellen und durch die milde Formulierung tatsächliche Probleme verkannt werden (vgl. Schröder 2005, 86 f). Als Lösungsmöglichkeit für die recht diffuse Terminologie bietet Bach bereits seit den Siebzigern ein Begriffssystem mit verschiedenen Bezeichnungen und Abstufungen. In seiner Klassifikation nach den drei Dimensionen Umfang, Schwere, Dauer (Bach 1977, 9) steht Lernstörung für eine geringere, Lernbehinderung für eine stärkere Ausprägung der Lernbeeinträchtigung. Bachs Hierarchien bergen zwar die Schwierigkeit der qualitativen Abgrenzung, machen damit aber auch auf die Prozesshaftigkeit von Beeinträchtigungen aufmerksam. Durch seine Einteilung gelingt eine Balance zwischen Begriffslosigkeit und Unklarheit. Schließlich bildet die Definition auch die Grundlage weiterer theoretischer Konzeptionen (z.B. nach Kanter) und leistet dadurch einen Beitrag zur Verständigung (vgl. Schröder 2005, 88-90). Aufgrund der inter- und intraindividuellen Unterschiede von Kindern mit Lernbehinderung lassen sie sich laut Bleidick (1983, 15) nicht als geschlossene Gruppe abgrenzen. In der gesamten Diskussion kommt neben der begrifflichen Schwierigkeit vor allem der schulische Kontext zum Ausdruck. Lernbehinderte stellen mit Abstand die größte Teilgruppe der Sonderschüler dar. Dazu ist ihr prozentualer Anteil an den Schülern der Primarstufe und Sekundarstufe I in ganz Deutschland, sowie einem Großteil der Bundesländer, trotz stark sinkender Schülerzahlen angestiegen (bundesweit auf 2,6%). In Sachsen beträgt dieser Anteil sogar 3,9%. Die erklärten Absichten bezüglich der schulischen Integration spiegeln sich in der Statistik keineswegs wider: Im Förderschwerpunkt Lernen befinden sich noch immer über 88% aller Schülerinnen und Schüler an Sonderschulen (vgl. Schröder 2005, 107, 113). Da die vorliegende Arbeit in die aktuelle schulorganisatorische Lage Sachsens eingebettet ist, sollen die dort gängigen Begrifflichkeiten Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen sowie Schule zur Lernförderung verwendet werden.

Die Unterrichtung erfolgt nach speziellen Lehrplänen des Förderschwerpunktes, die sich im Lern- und Lehrverständnis häufig von denen der Regelschule unterscheiden. Im Hinblick auf die Schülerschaft stellt Scherer u.a. folgende Aspekte heraus, die im Mathematikunterricht besondere Berücksichtigung finden müssen:

- "Auf Grund der Heterogenität der Schülerschaft sind Differenzierungsmaßnahmen unabdingbar, die den individuellen Fähigkeiten der Schüler gerecht werden. [...]
- Lerninhalte der Regelschule können auf Grund der eingeschränkten Fähigkeiten nicht unverändert übernommen werden. Den unterschiedlichen Leistungen der Schüler kann jedoch nicht allein durch Reduzierung der Inhalte Rechnung getragen werden. [...]
- Der hohe Stellenwert der Übung ergibt sich sowohl aus der Struktur des Faches als auch aus den speziellen Voraussetzungen der Schüler" (Scherer 1995, 39, Hervorhebung im Original).

Die Frage nach einer lernbehindertenspezifischen Didaktik bewegt die Pädagogik der Lernbehinderung seit ihrer Entstehung. Dabei zeichnet sich ein ambivalentes Verhältnis zwischen der allgemeinen und der sonderpädagogischen Didaktik ab (vgl. Werning/Lütje-Klose 2006, 79-86). Aus unterschiedlichen Perspektiven wurden zahlreiche didaktische Konzepte entwickelt, welche zentrale Prinzipien wie Individualisierung, Differenzierung und Lebensweltorientierung in verschiedenen Nuancierungen aufgreifen. In Kapitel 3.1 wird sich genauer zeigen, wie die Charakteristika der Schülerschaft die mathematikdidaktischen Ansätze an der Schule zur Lernförderung in entscheidender Weise prägen.

1.2 Schwierigkeiten im Rechnenlernen

Für Schwierigkeiten beim Mathematiklernen gibt es vielfältige Begriffe, Definitionen und Sichtweisen. Lorenz und Radatz (1993, 17 zit. n. Wehrmann 2003, 71) konnten in der deutschsprachigen Literatur 40 verschiedene Begriffe ausfindig machen. Am geläufigsten sind die Bezeichnungen Dyskalkulie, mathematische Lernschwäche oder -störung, Rechenstörung, mathematische Schulleistungsschwäche oder Rechenschwäche. Das Phänomen Dyskalkulie an sich ist nicht neu und stellt letztlich nichts anderes fest, als dass gewisse Kinder im Mathematikunterricht nicht die erwarteten schulischen Leistungen zeigen. Der Begriff der Dyskalkulie wird vielfach als nicht klar umschriebene und operationalisierte Diagnose kritisiert, die mit der Gefahr der Pathologisierung verbunden ist. Analog zur Kategorie der Legasthenie sei die Dyskalkulie also einfach also weitere Kategorie für Schulschwierigkeiten "eingeführt" worden (vgl. Moser Opitz 2004, 180).

Da bereits bezüglich des Begriffs große Uneinigkeit herrscht, kann eine Zahl der betroffenen Kinder nur schwer festgesetzt werden. Unterschiedliche Schätzungen und Untersuchungen gehen von einer Prävalenz zwischen 5-20% im Grundschulbereich aus (vgl. Werner 2009, 89). Zudem zeichnet sich ab, dass in lerntherapeutischen Einrichtungen die Zahl von Kindern mit Schwierigkeiten in Mathematik zunehmend ansteigt. Gleichzeitig ist auch ein Ausbau außerschulischer (meist kommerzieller) Bildungsangebote in Verbindung mit dem Begriff Therapie zu beobachten. Dies birgt verschiedene Risiken: Proportional zur Inanspruchnahme solcher Hilfen wächst auch die Auffassung, solchen Problemen könne nur außerhalb der Schule begegnet werden. So schwindet womöglich auch das Bewusstsein der Lehrkräfte für ihre Verantwortung. Wegen ihres sozio-ökonomischen Hintergrunds ist es gerade Kindern der Schule zur Lernförderung nicht möglich, solche Nachhilfeeinrichtungen in Anspruch zu nehmen. Schließlich ist die Wirksamkeit der verschiedenen Angebote nicht belegt (vgl. ebd. 102-105).

Durch die WHO wird die "Rechenstörung" mittels einer Diskrepanzdefinition umschrieben (ICD-10-GM, F81.2). Die Rechenleistung des Kindes muss demnach eindeutig unterhalb des Niveaus liegen, das bei allgemeiner Intelligenz für das Alter und die Schulklasse zu erwarten ist. Des Weiteren wird vermerkt, dass die Beeinträchtigung nicht ausschließlich durch eine allgemeine Intelligenzminderung erklärbar ist und die Lese- und Rechtschreibfähigkeiten im Normalbereich liegen (vgl. WHO 2012, Online im Internet). Nach dieser Definition muss für eine Rechenstörung mindestens eine Standardabweichung von 1,5 vorliegen, ansonsten wird eher von einer Rechenschwäche gesprochen. Sowohl an der Diskrepanzdefinition als auch an dem Konzept der Teilleistungsstörungen wird von verschiedenen Seiten Kritik geübt. Besonders umstritten ist die Verwendung des "durchschnittlichen Intelligenzquotienten" als Diagnosekriterium für Lernstörungen. Entsprechend wird diskutiert, ob nicht unabhängig vom Intelligenzquotienten von sehr ähnlichen Schwierigkeiten beim Erwerb der Kulturtechniken auszugehen ist. Weiter wird angemahnt, dass die WHO-Definition dem medizinischen Paradigma folgend einseitig von statischen Fähigkeiten ausgeht. Demzufolge fehlt eine Prävention genauso wie eine Entwicklungsorientierung mit Förderhinweisen. Verbreitete Anwendung findet die Bezeichnung der Rechenstörung als Teilleistungsstörung. Dabei geht man von personenimmanenten Defekten aus, die in unzureichenden, nicht der Norm entsprechenden Schulleistungen offenbar werden. Misserfolge im Mathematikunterricht werden auf ein gestörtes Zusammenspiel verschiedener individueller Teilleistungen wie Konzentration, Gedächtnisleistungen sowie grob- und feinmotorischer Fähigkeiten zurückgeführt. Jedoch gibt es keine Untersuchungen, die einen direkten Zusammenhang zwischen mangelhaften basalen Fähigkeiten und mathematischem Lernen bestätigen. Damit ist auch das Konzept einer Schulung der allgemeinen Basisfunktionen, das durch Ayres (1984) Modell zur sensorischen Integration weite Verbreitung fand, eher fraglich. Selbstverständlich können diese Übungen einen positiven Einfluss auf die Entwicklung ausüben. Für den Ausbau mathematischer Kompetenzen bedarf es jedoch der direkten Auseinandersetzung mit dem mathematischen Gegenstand. Demzufolge ist eine Sichtweise gesucht, welche sich von der Zuschreibung statischer Eigenschaften ablöst. Neuere Erklärungsmodelle sind multikausal und weisen darauf hin, dass der Kontext, in welchem sich die Probleme äußern, zu berücksichtigen sei. Natürlich ist nicht allein die Schule oder der Mathematikunterricht an unzureichenden Leistungen Schuld. Vielmehr sollten in einem aktuellen Ansatz unterrichtliche und individuelle Aspekte gleichermaßen berücksichtigt werden, und von mathematischen Lehr- und Lernstörungen gesprochen werden (vgl. Moser Opitz 2004, 185). Auch Werner richtet ihren Fokus auf das Lehren und Lernen und stellt das Interaktions- und Kommunikationsfeld Mathematikunterricht in den Mittelpunkt. Sie beschreibt Schwierigkeiten im Mathematikunterricht als "Kommunikationsdysfunktionen im Interaktionsfeld Schule". Innerhalb dieses Feldes sind neben dem Grundverständnis von Mathematik stets auch die Vermittlungsstruktur sowie die individuellen Lernvoraussetzungen zu berücksichtigen. Sach-, Vermittlungs- und Aneignungsstruktur sind wesentliche Einflussfaktoren des Unterrichts, die sich wechselseitig bedingen (vgl. Werner 2009, 25 f). Um optimales Lernen zu ermöglichen, ist eine Passung zwischen diesen drei Komponenten anzustreben (vgl. ebd., 47 f). Diese Perspektive wird gestützt durch die Beschaffenheit der Fehler von rechenschwachen Kindern. Denn diese sind keineswegs als eine Gruppe anzusehen, deren Lernverhalten sich qualitativ von dem ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler unterscheidet. Grundsätzlich machen alle Kinder im Verlauf des Lernprozesses die gleichen Fehler, dyskalkulietypische Fehler existieren nicht. Unterschiede lassen sich lediglich in Häufigkeit und Beständigkeit ausmachen (vgl. ebd., 100 f). Im Übrigen werden Fehler in der vorliegenden Arbeit stets als individuelle und kreative Lösungsversuche seitens der Lernenden verstanden, die erst durch eine Beurteilung der Lehrkraft infolge konventioneller Regeln und Normen zum sogenannten Fehler werden. Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht länger interessant, Gruppen von Schülerinnen und Schülern zu definieren, sondern zu untersuchen, welche Schwierigkeiten diese beim Mathematikerwerb haben. Statt bei einzelnen Kindern eine Störung festzustellen, geht es also darum, mathematische Inhaltsbereiche zu beschreiben, deren Erwerb sich häufig schwierig gestaltet. Aus einem solchen Ansatz lassen sich automatisch auch Grundlagen für Diagnostik und Förderung ableiten. In Anlehnung an die dargelegten neueren Erklärungsmodelle soll die Problematik im Folgenden in systemischer Sichtweise als Interaktions- und Kommunikationsstörung im Kontext Mathematikunterricht verstanden werden. Es ist verdeutlicht worden, dass sich die verbreiteten Bezeichnungen Dyskalkulie, Rechenstörung sowie Rechenschwäche als problematisch erweisen. Die Autorin folgt deshalb einer aktuellen "Zwischenbilanz" und kennzeichnet die Thematik als "Schwierigkeiten im Rechnenlernen" (Fritz/Ricken/Schmidt 2003, 453).

1.3 Zusammenfassung

Im vergangenen Kapitel wurde deutlich, dass sowohl der S onderpädagogische Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen als auch Schwierigkeiten im Rechnenlernen stets im Kontext Schule zu verorten sind. Statt bei einzelnen Kindern eine Störung festzustellen, geht es also im folgenden Kapitel darum, mathematische Inhaltsbereiche des Erstunterrichts zu beschreiben, deren Erwerb sich schwierig gestalten kann. Später wird sich zeigen, dass die Charakteristika der Schülerschaft die mathematikdidaktischen Ansätze an der Schule zur Lernförderung in entscheidender Weise prägen.

2 Herausforderungen für den mathematischen Erstunterricht an der Schule zur Lernförderung

Kinder denken anders, als wir Erwachsene denken,

anders als wir es vermuten, und anders als wir es gerne hätten.

Kinder denken aber auch anders als andere Kinder

Und in manchen Situationen anders als in anderen,

obwohl sie im Prinzip dem gleichen Problem gegenüberstehen.

Spiegel/Selter 2003, 25

Besonders in den ersten Schuljahren stehen der Aufbau des Zahlbegriffs, der Umgang mit Zahlen sowie die Orientierung in Zahlenräumen im Mittelpunkt des Mathematikunterrichts. Dabei sind vielfältige Aspekte zu integrieren; die Entwicklung verläuft keineswegs linear. Das Zählen hat eine entscheidende Bedeutung beim Zahlbegriffserwerb. Für diese Herausforderungen im Erstrechnen bringen die Kinder bei Schuleintritt zahlreiche Vorerfahrungen mit. Hinter den Ausführungen zum Zahlbegriffserwerb steht die empirisch begründete Annahme, dass Schwierigkeiten im Rechnenlernen durch eine Entwicklungsverzögerung zu begründen sind. Demnach verläuft die Zahlbegriffsentwicklung bei Kindern im Förderschwerpunkt Lernen analog dem Entwicklungsverlauf aller übrigen Kinder (vgl. Werner 2007, 571). Neben fehleranfälligen Lernbereichen im Erstrechnen werden auch spezifische Schwierigkeiten von Schülerinnen und Schülern mit Problemen beim Mathematiklernen thematisiert.

2.1 Zahlbegriffserwerb

Für ein umfassendes Verständnis der Zahlbegriffsentwicklung ist die Klärung des Konstruktes Zahlbegriff mit all seinen Aspekten notwendige Voraussetzung. Unter dem Terminus Zahlbegriff wird eine ganze Bandbreite unterschiedlicher Zahlaspekte zusammengefasst. Im Folgenden ist dieser Begriff also stets als Sammelbegriff für die einzelnen Zahlbegriffskomponenten zu verstehen.

2.1.1 Aspekte der Zahl

Unabhängig vom Mathematikunterricht treffen wir in unterschiedlichsten Alltagssituationen auf Zahlen in verschiedenen Darstellungsformen. Zahlen ermöglichen einerseits die eindeutige Bestimmung von Anzahlen, Mengen, Längen, Flächen oder Volumina und bilden andererseits den unendlichen Raum ab. Darüber hinaus drücken Zahlen Wertigkeiten und Äquivalenzen, nicht zuletzt in Form von Geld, aus. Die Geschichte der Zahl lässt sich bis in die Altsteinzeit zurück verfolgen (vgl. Werner 2007, 571). Hinsichtlich ihres Ursprungs und Wesens nimmt man heute aufgrund zahlreicher Befunde eine konstruktivistische Position ein. Zahlen können also nicht losgelöst vom Menschen betrachtet werden, vielmehr sind sie von ihm erfunden, konstruiert worden und haben sich schließlich in der kulturellen menschlichen Entwicklung als notwendig und sinnvoll erwiesen. Die Zahl an sich ist nicht direkt wahrnehmbar, sondern ein gedankliches Konstrukt. Von konkreten Gegenständen ausgehend muss eine Abstraktionsleistung vollzogen werden. Einzelne Einheiten müssen wahrgenommen, in ihrer Vielheit zu einer Einheit zusammengefasst und als diese Einheit wahrgenommen werden. Infolgedessen spricht man vom Zahl begriff. Um Gegenstände miteinander zu vereinigen, bedarf es wiederum der geistigen Operation der Kategorisierung bzw. Klassenbildung. Damit schließlich die Zahl der vereinigten Elemente ermittelt werden kann, müssen diese Elemente in eine Reihe gebracht und abgezählt werden. Dabei handelt es sich um eine eineindeutige Zuordnung zwischen Gegenstand und Zahlwort. Das letztgenannte Zahlwort ist folglich doppelt besetzt: Es steht für das Ende der erfassten Gesamtheit sowie für die Anzahl der Einzelelemente, die dieser Gesamtheit angehören. Der Zahlbegriff basiert also auf zwei grundlegenden Operationen: Der Seriation (Reihenbildung) und der Kardination (Klassifikation), die in einem System koordiniert werden müssen (vgl. ebd., 573). Diese beiden elementaren Operationen betonen unterschiedliche Aspekte der Zahl. Während die Seriation (ordinaler Aspekt) die Relation einer Zahl bezüglich anderer Zahlen beschreibt, steht bei der Klassifikation (kardinaler Aspekt) die Bildung von Klassen gleicher Mächtigkeit im Mittelpunkt. Die folgende Tabelle soll der Veranschaulichung beider Aspekte dienen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Treppenmodell zur Seriation und Kardination (vgl. Werner 2007, 574)

Die Frage, ob Zahlen eher ordinal oder kardinal zu denken sind, prägt seit Jahrhunderten den Streit über das Wesen der Zahl. Im Wesentlichen lassen sich zwei Gruppen für die Zahldefinition unterscheiden: Die Ordinal- und die Kardinalzahltheorie. Nach der Ordinalzahltheorie sind die natürlichen Zahlen als arithmetische Fortschreibung definiert, die bei Eins (oder Null) beginnt. Jede weitere Zahl lässt sich dann durch wiederholte Nachfolgerbildung finden. Als wichtigster Vorläufer kann Peano (1858-1932) gesehen werden. Bei der Kardinalzahltheorie steht der Mengenaspekt im Mittelpunkt. Durch eine Stück-für-Stück-Zuordnung wird die Anzahl bestimmt. Diese Sichtweise nimmt vor allem auf Russells (1872-1970) Theorien Bezug (vgl. Moser Opitz 2008, 17 f). Beide Positionen haben auch Einfluss auf die Fachdidaktik. Einerseits findet man die Zählmethodiker, die betonen, dass man durch die Tätigkeit des Zählens zur Zahl gelangt, weil jede Zahl einen bestimmten Platz in einer Reihe hat. Die Anschauungsmethodiker auf der anderen Seite unterstreichen die simultane Erfassung und strukturierte Anschauungsbilder (vgl. Werner 2007, 575).

Da weder für den kardinalen noch für den ordinalen Aspekt eine Priorität theoretisch nachweisbar ist und beide Positionen Vor- und Nachteile aufweisen, versuchte der Entwicklungspsychologe Piaget (1896-1980), sich dieser Frage empirisch zu widmen. Zwar lässt sich an Piagets Theorie, seinen Methoden und seiner Ergebnisinterpretation viel Kritik üben (vgl. 2.1.2). Durch ein zentrales Ergebnis trug er jedoch dazu bei, den Streit zwischen den gegensätzlichen Ansichten zu beschwichtigen. Er stellte fest, dass der Zahlbegriff als abstrakter Begriff erst dann ganz entwickelt ist, wenn die Synthese beider Aspekte erfolgt ist. Folgestudien sprachen der Ordinalzahl schließlich eine frühere Entwicklung zu (vgl. Wember 2003, 53-58). Des Weiteren sind ordinale Kompetenzen besser trainierbar als kardinale (vgl. Kaufmann 2010, 17). In der Kritik an Piagets Vorstellung vom Wesen der Zahl hält man fest, dass neben dem Ordinal- und Kardinal- auch dem Maß-, Operator-, Rechenzahl- und Codierungsaspekt Beachtung geschenkt werden muss. So sei auch eher von Zahlbegriffen zu sprechen und diese vor dem Erfahrungshintergrund der Kinder zu thematisieren (vgl. Moser Opitz 2008, 61 f).

2.1.2 Entwicklungsverläufe

Trotz mehr als hundertjähriger Forschung bezüglich der Frage, wie sich das Verständnis von Zahlen, Mengen und Rechenoperationen entwickelt, lässt sich diese bis heute nicht eindeutig beantworten. Von einem geschlossenen Entwicklungsmodell kann daher nicht die Rede sein (vgl. Gerlach 2007, 6, Online im Internet).

Besonders einflussreich waren in den Sechziger- und Siebzigerjahren Piagets Erkenntnisse zur Herausbildung der Zahlvorstellung bei Kindern. Er machte es sich zur Aufgabe, den logischen und den psychologischen Zugang zur Zahl zusammenzuführen. Der Entwicklungspsychologe definiert die Zahl als ordinal und kardinal zugleich, stellt also keinen Aspekt in den Vordergrund. Piaget versteht den Zahlbegriffserwerb als operativen Prozess, bei dem eine Synthese des kardinalen und ordinalen Aspekts erfolgt. Dementsprechend ist dieses Verständnis äußerst anspruchsvoll: Da Kinder erst im Alter von etwa sieben bis elf (auf der konkret-operationalen Stufe) über solche Operationsleistungen verfügen, haben sie auch erst dann den Zahlbegriff endgültig erworben. Eine herausragende Rolle spielt für Piaget der Begriff der Invarianz. Dabei geht es um die Einsicht, dass die Quantität einer Menge durch Transformationen wie Umschütten oder Vertauschen der Elemente unverändert bleibt. Die geistigen Aktivitäten, die für diese Invarianzaufgaben nötig sind, werden seiner Auffassung nach als Grundlage jedes Denkprozesses betrachtet und sind folglich als Voraussetzung für den Zahlbegriffserwerb zu sehen (vgl. Moser Opitz 2008, 33). Piagets Theorie erklärt den Erwerb des Zahlbegriffs aber nur unzureichend, vor allem die Bedeutung der Zahlinvarianz wird heute durch zahlreiche Befunde in Frage gestellt (vgl. ebd. 62).

Säuglings- und Kleinkindstudien können belegen, dass Mathematiklernen von Geburt an stattfindet und angeborene bereichsspezifische Fähigkeiten im Entwicklungsverlauf ausgebaut und differenziert werden (vgl. Gerlach 2007, 36-39, Online im Internet). Die erläuterten Aspekte des Zahlverständnisses gründen auf unterschiedlichen, genetisch vorbereiteten kognitiven Schemata. Demnach gilt es, gewisse Muster, die in Ansätzen angelegt sind, im Verlauf der vorschulischen und schulischen Entwicklung auszubauen und miteinander zu verbinden. Der Prozess der Zahlbegriffsentwicklung folgt also keinem linearen Verlauf. Aufgrund der vielfältigen Zahlaspekte, die nicht nur erworben, sondern auch in Beziehung gesetzt werden müssen, ist der Entwicklungsverlauf nur schwer zu fassen und lässt sich nicht einfach durch das Erreichen einzelner Stufen erklären. Oft bleibt die Zahlbegriffsentwicklung anfänglich auch nur auf einen kleineren Zahlenraum beschränkt. Kinder machen also beispielsweise für die Zahlen oder Mengen von Eins bis Drei Entwicklungsfortschritte, die sie aber noch nicht auf größere Zahlen übertragen können. Diese Sachverhalte verdeutlichen, dass die Lernverläufe bezüglich der Zahlbegriffe am ehesten durch Wellenbewegungen beschrieben werden können. In der Folge ist auch Piagets Modell der Zahlbegriffsentstehung zu hinterfragen. Die von ihm beschriebenen Prinzipien sind sehr abstrakt und gelten eher für einen idealen Zahlbegriff. Sinnvolles Rechnen ist jedoch auch schon in Entwicklungsstadien möglich, in denen streng genommen nicht alle Piaget-Kriterien erfüllt sind. Unabhängig davon, welche Entwicklungsreihenfolge angenommen oder welchem Zahlaspekt mehr Bedeutung beigemessen wird, erfordert ein umfassendes Zahlverständnis grundsätzlich die Verfügbarkeit über Zahlwortreihe, Ordnungs- als auch Mengenvorstellungen. Die vollständige Integration aller Teilaspekte zu einem umfassenden Zahlbegriff erfolgt erst im Verlauf der Schulzeit (vgl. ebd., 9).

Auch wenn sich allgemeingültige Erklärungsprinzipien zur Entwicklung von mathematischem Wissen und des Zahlbegriffs finden lassen, so durchläuft doch jedes Kind ganz unterschiedliche Lernprozesse. Dieser individuelle Entwicklungsprozess umfasst die ersten Lebensjahre und wird mit dem Ende der Kindheit und dem Beginn der Jugendphase im Wesentlichen abgeschlossen. Verschiedene Alltagssituationen machen dem Kind grundlegende kognitive Operationen wie Seriation, Klassifikation und Invarianz bewusst. Bei allen Untersuchungen zu den Entwicklungsetappen mathematisch relevanter Begriffe lässt sich kein eindeutiges Ergebnis für die Rangfolge von Ordination, Kardination und Zahlinvarianz ableiten. Festhalten lässt sich:

- „Die Ordination entwickelt sich vor der Kardination.
- Ordnungszahlaspekte werden früher erworben als einfache Formen der Addition und Subtraktion.
- Kinder können Additions- und Subtraktionsaufgaben im Zahlenraum bis 10 lösen, bevor sie die Kardination verstehen. [...]
- Es führen verschiedene Entwicklungswege zum Zahlbegriff“ (Werner 2007, 580 f).

Es wird vermutet, dass das Zählen eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung des Zahlbegriffs spielt.

2.2 Zählen

Die Handlung des Zählens ist eng mit dem Zahlbegriffserwerb verknüpft. Oberflächlich betrachtet scheint es sich bei der Zählentwicklung um einen linearen und immer gleich ablaufenden Vorgang zu handeln. Die folgenden Ausführungen sollen diesen Eindruck differenzieren, indem sie zeigen, dass verschiedene kognitive, motorische sowie verbale Fähigkeiten allmählich zum eigentlichen Zählen, das kardinale Bedeutung enthält, verbunden werden.

2.2.1 Bedeutung und Zählkompetenzen

Die Auffassung über die Zählentwicklung wurde lange Zeit von Piaget beeinflusst. Dieser hielt die Zahlwortreihe und die Handlung des Zählens für nachrangig, da das Denken der Kinder vor der Existenz des Zahlbegriffs noch nicht genügend entwickelt sei. So sah er das Zählen als reine Wiedergabe einer erinnerten Sprachhülse ohne arithmetischen Sinn. Die neuere Forschung betont die Bedeutung des Zählens für den Zahlbegriffserwerb sowie für grundlegende Additions- und Subtraktionsaufgaben. Gerade für Kinder, bei denen sich Schwierigkeiten in der Mathematik abzeichnen, sei das Zählen als Lernziel in den Lehrplan zu integrieren. Schließlich ermögliche erst das Zählen eine korrekte Bestimmung der Anzahl (vgl. Moser Opitz 2008, 63 f).

Zum Aufbau der Zählkompetenzen gehören die Einsicht in fünf Zählprinzipien, der Erwerb der Zahlwortreihe, das Zählen von Objekten und das kardinale Verständnis. Auf diese Aspekte wird nun nacheinander eingegangen:

Unsere Zählfertigkeit ist auf fünf funktionalen Prinzipien gegründet. Gelman und Gallistel (1978) erklärten diese folgendermaßen:

- "Eineindeutigkeitsprinzip: Jedem Objekt der jeweils zu zählenden- endlichen- Kollektion wird ein und nur ein Zahlwort zugeordnet.
- Prinzip der stabilen Ordnung: Die beim Zählen benutzten Zahlwörter müssen in einer stabilen, stets in gleicher Weise wiederholbaren Ordnung vorliegen.
- Kardinalprinzip oder Kardinalwortprinzip: Das letzte Zahlwort, das bei einem Zählprozess benutzt wird, gibt die Anzahl Objekte der jeweiligen Kollektion an.
- Abstraktionsprinzip: Die ersten drei Prinzipien können auf eine beliebige Anzahl von Objekten angewendet werden.
- Prinzip der Irrelevanz der Anordnung: Die jeweilige Anordnung der Objekte einer Kollektion ist für den Zählakt irrelevant" (zit.n. Moser Opitz 2007, 256).

Diese werden jedoch nicht in Form direkter Regeln vermittelt oder erworben. Vielmehr bauen Kinder durch Erfahrung in sozialen Kontexten schrittweise indirekte Handlungskonzepte auf und verfeinern diese. Die dargelegten Zählprinzipien werden von Kindern etwa ab dem 4. Lebensjahr berücksichtigt (vgl. Werner 2007, 582).

Bei der Untersuchung der frühen Zählentwicklung kann zwischen den Dimensionen Sequenz, Zählen und kardinale Bedeutung des Zählens differenziert werden: Bevor Objekte überhaupt gezählt werden können, muss die Zahlwortreihe korrekt produziert werden. In diesem Kontext geht es also um die Beherrschung und das (größtenteils bedeutungslose) Aufsagen der Zahlen als Wortfolge, nicht um die Benutzung zum Zählen von Objekten. Wird die Zahlwortsequenz auf Objekte angewandt, kann gezählt werden. Eine vorgegebene Menge wird genau dann vollständig gezählt, wenn jedem Element ein Zahlwort zugeordnet wird, oft begleitet von Zeigen. Die kardinale Bedeutung des Zählens meint, dass das Zahlwort für die Mächtigkeit einer Anzahl von Objekten oder Ereignissen steht (vgl. Gerster 2007, 55-61). Die Gliederung in diese drei zentralen, aber sehr unterschiedlichen Prozesse oder Kontexte von Zählvorgängen mündet in Fusons Modell zu Erwerb und Elaboration der Zahlwortreihe. Schon in der frühen Kindheit beginnt mit den ersten Zahlwörtern, die Kinder von Eltern oder Geschwistern hören, der Prozess der Zählentwicklung. Dieser wurde von Fuson (1988) ausführlich untersucht und beschrieben. Ein Großteil der Veröffentlichungen bezüglich Zähl- und Zahlbegriffsentwicklung übernimmt sein Modell zur Beschreibung des Erwerbs der Zahlwortreihe, das von fünf aufeinander folgenden Niveaus (deutsche Übersetzung Moser Opitz 2008, 86 f) ausgeht. Im Folgenden sind diese verschiedenen sequenziellen Levels dargestellt, welchen Zähl-, kardinale, ordinale und Maßzahlkontexte zugeordnet werden.

- "Ganzheitsauffassung der Zahlwortreihe (String Level): Die Zahlwortreihe wird als unidirektionale Ganzheit aufgefasst und wird wie ein Lied oder ein Gedicht rezitiert. Dabei werden die Zahlwörter zum Teil noch nicht voneinander unterschieden. Vier-fünf-sechs kann z. B. als eine immer wieder vorkommende Einheit betrachtet werden. Die Elemente werden nicht gezählt, und die Zahlwörter haben keine kardinale Bedeutung.
- Unflexible Zahlwortreihe (Unbreakable List Level): Die Zahlwörter werden als Einheiten aufgefasst. Die Kinder können die Zahlwortreihe aufsagen , allerdings müssen sie immer wieder bei Eins beginnen, eine beliebige Zahl kann noch nicht als Ausgangspunkt genommen werden. Vorgänger und Nachfolger einer bestimmten Zahl können nur genannt werden, indem das Kind sie innerhalb der Zahlwortreihe zu bestimmen versucht. Eins-zu-eins-Korrespondenz zwischen Zahlwort und Element kann hergestellt werden. Die Kinder können durch Zählen eine bestimmte Anzahl an Elementen bestimmen (,Gib mir drei`).
- Teilweise flexible Zahlwortreihe (Breakable Chain Level): Die Zahlwortreihe kann von einem beliebigen Zahlwort aus aufgesagt werden. Vorgänger und Nachfolger können direkt genannt werden. Rückwärtszählen gelingt zum Teil. Fuson (ebd.) merkt an, dass sich das Rückwärtszählen z. T. erst zwei Jahre nach dem Vorwärtszählen entwickelt.
- Flexible Zahlwortreihe (Numberable Chain Level): Jedes Zahlwort wird als Einheit betrachtet. Von jeder Zahl aus kann eine bestimmte Anzahl an Schritten weiter gezählt werden (zähle von 14 aus drei Schritte vorwärts).
- Vollständig reversible Zahlwortreihe (Bidirectional Chain Level): Es kann von jeder Zahl aus vorwärts und rückwärts gezählt werden, Richtungswechsel erfolgen schnell und ohne Schwierigkeiten, Vorgänger und Nachfolger einer bestimmten Zahl können unverzüglich genannt werden" (Fuson 1988 zit. n. Moser Opitz 2008, 86 f).

Im Verlauf der fortschreitenden Entwicklung werden die Aspekte Sequenz, Zählen und kardinale Bedeutungen immer mehr miteinander in Beziehung gesetzt und erfahren allmählich eine Integration zu einem Zahlbegriff, der Zähl- und Kardinalzahlvorstellungen umfasst.

Aufgrund der kulturellen Vermittlung spielt der jeweilige Sprachgebrauch für die Zählentwicklung selbstverständlich eine entscheidende Rolle. Beispielsweise erwerben Kinder des asiatischen Raums aufgrund der systematisch aufgebauten Positionen die Zahlwortreihe schneller als deutschsprachige Kinder, die zusätzliche Ausnahmen lernen müssen. In der deutschen Sprache werden die Zahlwörter von 1 bis 12 auswendig gelernt. Von 13 bis 19 kann dann nach einem einheitlichen Prinzip konstruiert werden. Zwar sind die Zehnerzahlen (zwanzig, dreißig usw.) mit den Zahlwörtern im ersten Zehner verwandt. Wegen der Endung - zig und einigen Besonderheiten (zwanzig und nicht zweizig) müssen auch diese Zahlen erlernt werden. Die Zahlen 21 bis 29, 31 bis 39 usw. können wiederum konstruiert werden. Doch auch hier weist die deutsche Zahlsyntax Ausnahmen auf: Während ab 13 zuerst die Einer, dann die Zehner genannt werden, muss nach 100 ein Richtungswechsel erfolgen. Ab 21 muss zusätzlich die Silbe und eingefügt werden. So ist es leicht nachvollziehbar, dass es innerhalb dieses Konstruktionsprozesses immer wieder zu (logischen) Verzählungen kommt. Insbesondere bei Kindern mit einer anderen Erstsprache als Deutsch kann dies zu Fehlern führen und macht somit eine besondere Unterstützung erforderlich (vgl. Scherer/Moser Opitz 2010, 106 f). Je mehr Gelegenheiten Kinder erhalten, die Zahlwortreihe zu lernen und zu erproben, desto sicherer wird deren Beherrschung. Auf diesem Weg erhält die Zahlwortreihe eine fortlaufend differenziertere Bedeutung und kann ihre Anwendung in Zählsituationen finden. Diese Anwendung erfolgt bereits im Alter von 3½ Jahren. Dabei werden das Eineindeutigkeitsprinzip sowie das Prinzip der Irrelevanz der Anordnung bedeutsam. Es geht also darum, jedem Objekt genau ein Zahlwort zuzuordnen und jedes Objekt durch Antippen, Zeigen oder Augenfolgebewegung genau einmal zu zählen. Die Herausforderung liegt in der Koordination verschiedener Handlungen, wobei den Kindern verschiedene Fehler unterlaufen können. Fuson (1988 zit. n. Moser Opitz 2008, 88 f) unterscheidet zwischen einer fehlerhaften Zuordnung von Zahlwort und Zeigen sowie der fehlerhaften Zuordnung von Zeigen und Objekt. Zusätzlich können diese Fehlerformen vermischt und Objekte fälschlicherweise erneut gezählt werden. Verschiedene Umstände erschweren bzw. erleichtern das Zählen von Objekten. Jüngere Kinder machen insbesondere dann mehr Fehler als ältere, wenn es sich um eine größere Anzahl von Objekten handelt. Ein weiterer Einflussfaktor ist die Beschaffenheit der Objekte: Bei einer Homogenität der Gegenstände kommt es eher zu Mehrfachzählungen oder -nennungen. Des Weiteren sind geordnete Dinge einfacher zu zählen als ungeordnete. Um Kindern das Zählen von Objekten zu erleichtern, sollten diese folglich geordnet sein und zur selben Klasse von Gegenständen gehören, allerdings unterschiedliche Form, Farbe und Größe besitzen. Unterstützend wirkt auch das Zählen durch Verschieben gegenüber dem Zählen nur durch Antippen (Towse/Hitch 1996 zit. n. Moser Opitz 2008, 89). Auf der Grundlage vom Zählen von Objekten reift langsam aber sicher die Einsicht in die Kardinalität. Es wird davon ausgegangen, dass Kardinalität nicht ein Bestandteil des Zählens an sich oder grundlegendes Prinzip ist. Eher gibt es verschiedene Wege zum Verstehen der Kardinalität. Zählen ist also ein Mittel unter anderen zur Anzahlbestimmung oder zum Vergleich zweier Mengen. Je nach Situation können auch subitizing (vgl. 2.2.2), Schätzen oder das Herstellen einer Stück-für-Stück-Korrespondenz zum Einsatz kommen. Zur differenzierten Betrachtung ist zwischen dem Prozess des Zählens und dem Resultat des Zählvorgangs zu unterscheiden (vgl. ebd., 84-86). Entscheidend für das Verständnis der kardinalen Bedeutung des Zählens ist das Entdecken des Kardinalwort-Prinzips. Dabei handelt es sich um die Erkenntnis, dass das letztgenannte Zahlwort die genaue Anzahl einer Menge bezeichnet. Kinder verstehen also den Zusammenhang von Zählen und kardinaler Bedeutung, wenn sie auf die Frage Wie viele sind es? zunächst mit Zählen reagieren und zur Beantwortung der Frage das letztgenannte Zahlwort wiederholen (vgl. Moser Opitz 2007, 257). Moser Opitz (2008, 90 f) resümiert, dass das Verstehen der Kardinalität zunächst auf eine einzelne Menge beschränkt bleibt und Kinder erst später zu Mengenvergleichen in der Lage sind.

2.2.2 Subitizing

Ein zentraler Streitpunkt ist die Frage, ob die Denkmuster, die bei Kindern zum Zählen führen, angeboren oder erlernt sind. Zu Beginn der neunziger Jahre präsentierte Wynn verschiedene Studien, die zeigten, dass schon Kleinkinder auf die Veränderung kleiner Anzahlen reagieren und diese auch benennen können. Diese Fähigkeit der simultanen Erfassung von kleinen Anzahlen wird als s ubitizing bezeichnet (vgl. Moser Opitz 2008, 64-66). Wynn schloss aus ihren Ergebnissen auf ein angeborenes numerisches Wissen. Entsprechend wurde subitizing als Vorläuferfähigkeit für den Zahlbegriffserwerb gesehen. Neueste Studien sprechen dafür, dass es sich beim subitizing um eine Fähigkeit der Mengenrepräsentation handelt, die auf visueller Wahrnehmung basiert (vgl. Simon/Vaishanavi 1996, Simon et al. 1998 zit. n. Moser Opitz 2008, 83). Auch Lorenz (2005, 32-34) beleuchtet die vermeintlich frühe mathematische Kompetenz kritisch und ordnet sie als eigenständigen Prozess der frühen visuellen Informationsverarbeitung ein. Dieses aktuelle Verständnis versteht subitizing demnach nicht als Ausdruck numerischer Kompetenz. Auch bezüglich der Zählprinzipien existieren verschiedene Positionen. Einige nehmen an, dass die Prinzipien, welche den verbalen Zählprozess steuern, als Prinzipien bereits dem präverbalen subitizing immanent seien. Andere meinen, dass lediglich das subitizing angeboren sei, die Zählprinzipien dagegen erlernt werden müssen.

"Festgehalten werden kann, dass Zählprinzipien vermutlich nicht vollständig genetisch angelegt, wohl aber vorbereitet sind" (Gerlach 2007, 49, Online im Internet).

Gegenwärtig ist eine Annäherung der kontroversen Ansichten zu beobachten: Aktuelle Überlegungen sehen sowohl subitizing als auch die Zählkompetenzen als bedeutsam für den Erwerb des Zahlbegriffs an und untersuchen entsprechende Zusammenhänge (vgl. Moser Opitz 2007, 255). Im Fazit bleibt festzuhalten, dass Zählen nicht auf angeborenen Zählprinzipien basiert, sondern sich vor allem durch Erfahrungen während der Anwendung des Zählens entwickelt.

2.3 Vorwissen bei Schulbeginn

Wie jegliches Lernen fließend beginnt und verläuft, so lässt sich auch im Mathematiklernen keine „Stunde Null“ ausmachen. Durch die Erhebung des Mengen- und Zahlvorwissens der Kinder im Kindergarten lassen sich wichtige Hinweise für eine Risikovorhersage gewinnen. Im Vergleich zum Intelligenzquotient oder der Gedächtniskapazität sind die numerischen Vorkenntnisse zur Prognose späterer Rechenleistungen eher verlässlich. Untersuchungen (u.a. Moser Opitz 2008, Schmidt 2003, Fuson 1992) ergaben, dass die Kenntnisse von Schulanfängern bezüglich der Zahlaspekte bisher häufig unterschätzt wurden. Dies trifft auch auf Kinder mit beeinträchtigter Entwicklung zu.

Hengartner/Röthlisberger führten mit Schulanfängern in der Schweiz eine Untersuchung mit den Utrechter Testaufgaben durch, um die Diskrepanz zwischen Erwartung und Leistung nachzuweisen. Sie vermuten folgende Erklärungen für die Kluft: Lehrerinnen und Lehrer sind sich der Heterogenität des Vorwissens ihrer Schülerinnen und Schüler durchaus bewusst und sehen die größte Schwierigkeit darin, die Kinder mit den massivsten Problemen in Mathematik zu erreichen und zu fördern. Daraus folgern sie, ihren Unterricht möglichst voraussetzungslos zu beginnen. Für leistungsstärkere Kinder wird ein solcher Unterricht dann aber häufig zur Erschwernis, da er keine Herausforderung für sie birgt. Dieser Umstand wird jedoch nicht direkt offenbar und damit nicht zu einem vordergründigen Problem für die Lehrkraft. Weil es Lehrpersonen also gewohnt sind, die Planung ihres Unterrichts auf alle Kinder, besonders auf jene mit geringem Vorwissen, auszurichten, schätzen sie die Rechenfähigkeit ihrer Schülerinnen und Schüler zu tief ein (vgl. Hengartner/Röthlisberger 1995, 67-73).

"Das mengen- wie das zahlbezogene Vorwissen konnten als spezifische Vorläuferfertigkeiten schulischer Mathematikleistungen identifiziert (...) werden. Kinder, die im Kindergartenalter an den Aufgaben zum Mengen- und Zahlenvorwissen gescheitert sind, waren auch diejenigen, die später in der Schule Probleme im mathematischen Anfangsunterricht hatten und eine Rechenschwäche zeigten" (Krajewski 2003, 211).

Das Mengenvorwissen umfasst nach Krajewski (2005, 53-55) die Seriation, den Mengenvergleich (hierher gehört auch das Verständnis der Zahlinvarianz) und Längenvergleiche. Das Zahlenvorwissen beinhaltet Zählfertigkeiten, arabisches Zahlwissen (Zahlen in der Ziffernschreibweise) und Rechenfertigkeiten bezogen auf konkrete Situationen.

Fuson (1992, 70) fasst Aufgabentypen zusammen, die von über 90% der Kindergartenkinder ohne besondere Vermittlung oder Übung gelöst werden:

- Austauschaufgabe, Endmenge unbekannt
- Kombinationsaufgabe, Gesamtmenge unbekannt
- Vergleichsaufgabe, Differenzmenge unbekannt
- Austauschaufgabe, Austauschmenge unbekannt.

Auch wenn mathematische Förderung für Kindergartenkinder bislang nicht verbindlich vorgeschrieben war, so konnten diese ohne spezielle Einübung durch konkrete Modellierung semantisch eingekleidete Additionsaufgaben (und etwas später Subtraktionsaufgaben) verstehen und durch Zählen lösen (vgl. Gerlach 2007, 74, Online im Internet).

Nach Schmidt (2003, 32) verfügen Schulanfänger im Hinblick auf Zählkompetenzen über die folgenden Fähigkeiten:

1. Mindestens bis 10 (15 bzw. 20) können 96,8% (84,3% bzw. 70%) der Schulanfänger die Zahlwortreihe fehlerfrei aufsagen.
2. 78% der Kinder können alle 10 Ziffern lesen, 89,2% noch 8 Ziffern. Etwa ⅓ der Kinder kann auch zweistellige Zahlen korrekt lesen.
3. Beim Ziffernschreiben treten häufig Spiegelverkehrungen auf; bei zweistelligen Zahldarstellungen tritt das Vertauschen von Zehnern und Einern hinzu.

Die Untersuchungsergebnisse von Moser Opitz (2008, 149-151) weisen nach, dass die Mehrzahl der Kinder, die in eine Förderschule eingeschult werden, pränumerische Aufgaben richtig lösen, die Zahlen bis 10 benennen, bis 10 oder weiter zählen, die Anzahlen bis 6 bestimmen und viele sogar rückwärts zählen können. Des Weiteren wird deutlich, dass die Vorkenntnisse beim Schuleintritt äußerst heterogen sind.

2.4 Spezifische Schwierigkeiten im Erstrechnen

In Kapitel 1.2 ist der Fokus von der Störung beim Kind auf mathematische Inhalte, deren Erwerb sich häufig schwierig gestaltet, gelenkt worden. Dabei kann man unterscheiden zwischen fehleranfälligen Lernbereichen und spezifischen Schwierigkeiten von Schülerinnen und Schülern mit Problemen beim Mathematiklernen. Themenbereiche der ersten Gruppe sind das Dividieren, die Null, das Schätzen, Runden und Überschlagen sowie das Problemlösen, besonders in Textaufgaben (vgl. Scherer/Opitz 2010, 13). Im Hinblick auf den Personenkreis der Schule zur Lernförderung erscheinen jedoch die spezifischen Schwierigkeiten besonders relevant. Scherer/Opitz stellen verschiedene Forschungsergebnisse vor, wobei sie die betroffenen Kinder unabhängig von den Ursachen und dem Grad ihrer Beeinträchtigung als lernschwach bezeichnen: Zahlreiche Studien zeigen auf, dass lernschwache Kinder Probleme beim Automatisieren haben und noch über die Grundschulzeit hinaus dem zählenden Rechnen anhaften. Außerdem konnten geringere Zählkompetenzen im Vergleich zu Kindern ohne Schwierigkeiten nachgewiesen werden. Lernschwache Schülerinnen und Schüler verfügen oft über eine mangelnde Einsicht in das dezimale Stellenwertsystem. Entsprechend haben sie Schwierigkeiten beim Bündeln, der Stellenwertschreibweise und im Umgang mit dem Zahlenstrahl. Damit fehlt ihnen wiederum die Grundlage für Rechenoperationen und den Erwerb von Größen und Maßen. Als Problem von lernschwachen Kindern werden weiterhin die allgemeinen mathematischen Lernziele, insbesondere das Mathematisieren und Problemlösen, herausgestellt (vgl. ebd., 12-15).

Als Ursache für Schwierigkeiten im Rechnenlernen können u.a. individuelle Faktoren angenommen werden. Defizitäres Vorwissen und anforderungsspezifische Schwierigkeiten bedingen sich wechselseitig. Jedoch gelten mangelnde Problemlösefähigkeiten als Hauptschwierigkeit vieler Kinder. Diese Tatsache kann, neben anderen, als ein Hinweis dafür gesehen werden, "dass Schwierigkeiten beim Mathematiklernen durch die Art und Weise, wie Mathematikunterricht gestaltet wird, mitbestimmt werden" (ebd., 16). Dabei gibt es zahlreiche unterrichtliche Einflussfaktoren: die Betonung des Auswendiglernens oder der Einsicht in zentrale Inhalte sowie komplexe Zusammenhänge, die verwendeten Veranschaulichungen oder das Fachwissen der Lehrkraft.

Die Kapitel 3 und 4 werden Möglichkeiten der Vorbeugung von Schwierigkeiten im Mathematikunterricht aufzeigen.

2.5 Zusammenfassung

Mit den Worten Lorenz (2003, 93) soll festgehalten werden, dass sich die Herausforderungen und Ziele für Kinder der Schule zur Lernförderung nicht von denen anderer Kinder unterscheiden:

"Alle Schüler sollen

- einen Zahlensinn,
- ein Verständnis der Rechenoperationen,
- einen flexiblen Einsatz der Rechenstrategien,
- ein Problemlöseverhalten,
- ein Anwenden von mathematischen Kenntnissen in Alltagssituationen u.Ä. entwickeln.

Die Zielsetzung kann und sollte für rechenschwache Kinder nicht anders aussehen, […]".

Bezogen auf den mathematischen Erstunterricht kann Folgendes festgehalten werden:

- Da eine Zahl nicht nur durch den Kardinal- und Ordinal-, sondern auch durch den Maß-, Operator-, Rechenzahl- und Codierungsaspekt bestimmt wird, sollte von Zahlbegriffen gesprochen werden. Entsprechend sind diese verschiedenen Aspekte auch im Unterricht zu thematisieren.
- Für den Erwerb der Zahlbegriffe ist die Ordinalzahl wichtiger als die Anzahl.
- Ein umfassendes operationales Zahlbegriffsverständnis sowie das Verständnis für Invarianz sind nicht, wie von Piaget angenommen, unabdingbare Voraussetzung für numerisches Arbeiten und mathematisches Lernen. Vielmehr werden diese in Auseinandersetzung mit dem mathematischen Gegenstand selber gewonnen.
- Schon in der frühen Kindheit werden einfache Klassifikation, Seriation und Mengenvergleich durch Stück-für-Stück-Zuordnung entwickelt und ermöglichen so die Einsicht in Ordination und Kardination.
- Die Aktivität des Zählens beeinflusst die Herausbildung der Zahlbegriffe positiv und sollte im Erstunterricht entsprechende Beachtung finden.
- Alle Kinder verfügen beim Schuleintritt bereits über numerische Kenntnisse, die häufig unterschätzt werden. Im Erstrechenunterricht sollte dieses Vorwissen, das meist kontextgebunden ist, Beachtung finden.
- Auf die festgestellte Leistungsheterogenität ist differenzierend einzugehen.
- Spezifische Schwierigkeiten im Erstrechnen treten im Ablösen vom zählenden Rechnen, im Stellenwertsystem sowie im Problemlösen auf.

Diese Punkte werden im Folgenden als zentrale Anforderungen an den Mathematikunterricht verstanden.

3 Didaktische Folgerungen für den mathematischen Erstunterricht an der Schule zur Lernförderung

Ein guter Unterricht [...] ist wahrscheinlich

für den weniger begabten Schüler noch wertvoller als für den Begabten,

denn jener wird leichter als dieser durch schlechten Unterricht aus der Bahn geworfen.

Bruner 1970, 23

Im vorangegangenen Kapitel zeichneten sich bereits die Auswirkungen von Piagets Zahlbegriffstheorie auf das Verständnis von mathematischem Lernen und Lehren ab. Sein Einfluss auf mathematikdidaktische Entwicklungen spiegelt sich in Lehrplänen, Lehrmitteln und schließlich dem praktizierten Erstunterricht wider. Piagets Zahlbegriffsverständnis zufolge müssen der Arbeit mit Zahlen stets pränumerische Übungen vorangehen (vgl. Moser Opitz 2008, 100 f). Dieses Kapitel führt vor, dass eine solche Auffassung auch in den traditionellen und gegenwärtigen Prinzipien der Mathematikdidaktik an der Schule zur Lernförderung steckt. Deutlich wird dies etwa durch ein kleinschrittiges Vorgehen, bei dem im ersten Schuljahr nur mit den Zahlen eins bis sechs gearbeitet wird (vgl. ebd., 106). Im Folgenden soll die Unterrichtspraxis und die Effektivität einzelner sonderpädagogischer Prinzipien vor dem Hintergrund der in Kapitel 2.5 gestellten Anforderungen an den Mathematikunterricht erörtert werden. Davon ausgehend wird ein revidiertes Verständnis von Mathematikdidaktik vorgestellt.

3.1 Traditionelle und gegenwärtige Mathematikdidaktik

In der klassischen Hilfsschulpädagogik haben sich nach und nach typische Prinzipien heraus gestellt, welche induktiv aus der Praxis heraus entwickelt worden sind und auf der Annahme der Wesensverschiedenheit dieser Kinder basieren. Dabei werden normative Bezugsrahmen und wissenschaftlich begründete Theorie außer Acht gelassen. Auf inhaltlicher Ebene soll durch Heimatbezug, Lebensnähe und Stoffbeschränkung einer Überforderung vorgebeugt werden. Ein differenzierter, kindgemäßer und motivierender Unterricht soll durch die methodischen Prinzipien der Anschauung, Ganzheit und Bewegung, der Wiederholung, der kleinsten Schritte und der Isolierung von Schwierigkeiten gewährleistet werden. Die genannten Prinzipien kann man weitgehend als defizitorientiert bezeichnen. In der Folge ergibt sich ein lehrerzentrierter Unterricht, der der Lehrkraft die Verantwortung überträgt, jegliche Inhalte methodisch und didaktisch so aufzubereiten, dass sie von den Lernenden einfach aufgenommen werden können. Während die Lehrkraft also der dominierende Akteur der unterrichtlichen Interaktion ist, wird der einzelnen Schülerin oder dem einzelnen Schüler eine passive Rolle zugewiesen (vgl. Wember 2007, 81-84). Im nächsten Kapitel wird deutlich werden, dass die klassische Hilfsschulpädagogik in der passivistischen Tradition steht.

Nach Wittmann (2001, 2 f, Online im Internet) lassen sich unter den traditionellen Förderkonzepten typisierend zwei Ideen herausstellen: der differential-diagnostische Ansatz und der Ansatz des kleinschrittig-reproduktiven Übens. Der erste Ansatz folgt der Schulmedizin mit ihrer ausgebildeten Differenzialdiagnostik. In didaktischen Forschungen geht es also stets darum, Ursachen für Schwierigkeiten im Rechnenlernen aufzuspüren, Defizite genau zu benennen und Therapien zu deren Beseitigung oder Kompensation anzuwenden. Der Ansatz des kleinschrittig-reproduktiven Übens steht in der Tradition des belehrenden Mathematikunterrichts. Dabei wird Kindern mit dem Förderschwerpunkt Lernen das Erreichen allgemeiner Lernziele wie Mathematisieren, Entdecken, Argumentieren oder Darstellen nicht zugetraut. Es gilt der Grundsatz: Je größer die Schwierigkeiten im Rechnenlernen, desto kleinschrittiger müssen Unterricht und Fördermaßnahmen angelegt sein. Sicher ist es Pädagogen durch beide Ansätze vielfach gelungen, Kindern im Mathematikunterricht zu helfen. Dennoch sind die Ideen zu hinterfragen. In Kapitel 1 ist das Phänomen Dyskalkulie bereits ausführlich diskutiert worden. Dabei wurde deutlich, dass keine stimmigen Theorien über Ursachen einer Rechenschwäche und entsprechende Therapien vorgewiesen werden können. Innerhalb eines belehrenden Unterrichts hält sich der kleinschrittig-reproduktive Ansatz, da die Kinder in eine Abhängigkeit von kleinschrittigen Hilfsangeboten versetzt werden.

In jüngerer Zeit rücken in der Mathematikdidaktik das operative Denken sowie das Lernen in Zusammenhängen in den Vordergrund. Außerdem zeigt sich eine stärkere fachwissenschaftliche Orientierung, die auch in veränderten Inhalten zum Ausdruck kommt. Bei der Auswahl der Unterrichtsinhalte bleiben aber die Kindgemäßheit und die Gefahr der Überforderung entscheidende Kriterien. Die gegenwärtige Unterrichtspraxis an der Schule zur Lernförderung wird merklich durch die Prinzipien der klassischen Hilfsschulpädagogik beeinflusst. Im aktuellen Mathematikunterricht finden sich neben der inhaltlichen Reduktion weitere sonderpädagogische Prinzipien: Lebensweltbezug, Isolierung der Schwierigkeiten, Vorgehen in kleinen Schritten, Vorgabe fester Lösungswege, Anschaulichkeit, mechanisches Üben sowie Differenzierung (vgl. Scherer 1995, 75). Gewiss sind die dargelegten Prinzipien stets in der Absicht entstanden, allen am Lernprozess Beteiligten zu helfen. Aufgrund fehlender empirischer Belege für den Lerngewinn der Schülerinnen und Schüler wie für den Nutzen aufseiten der Lehrerinnen und Lehrer, scheint eine kritische Auseinandersetzung angebracht.

Da bei der Beschränkung der Inhalte verschiedene Fachleute ganz unterschiedliche Themen für relevant halten, erfolgt eine solche Auswahl wohl eher willkürlich. Auch hinsichtlich der Reihenfolge der Operationen und der entsprechenden Lösungsverfahren zeigt sich eine Uneinheitlichkeit. Folglich erscheint die sonderpädagogische Reduktion fragwürdig (vgl. Scherer 1995, 79).

Gemäß dem Prinzip der Lebensbedeutsamkeit sollen mathematische Probleme stets so ausgewählt werden, dass sie das Kind befähigen, reale Zusammenhänge selbst zu entdecken. Eine besondere Chance bietet diesbezüglich das Sachrechnen. In der Regel bleibt das Sachrechnen in der Praxis auf Textaufgaben und eingekleidete Aufgaben beschränkt, die eher abstrakt als konkret sind und wenig mit komplexen Alltagsproblemen zu tun haben. Weil die Aufgaben nur die Informationen enthalten, die zur Lösung benötigt werden, wird den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit genommen, zwischen wesentlichen und unwesentlichen Merkmalen einer Situation unterscheiden zu lernen. Mit der Schulung von Realitätsbewältigung hat dies nicht mehr viel gemeinsam (vgl. Häsel-Weide 2007).

Das Prinzip der Isolierung der Schwierigkeiten (Kleinschrittigkeit) verkennt natürliche Ganzheiten in der Mathematik und verhindert Einsichten in Strukturen und Zusammenhänge. Wie im zweiten Kapitel dargelegt worden ist, besteht ein Zusammenhang zwischen den einzelnen Stoffgegenständen. Statt einzelne Inhalte in kleinste Einheiten zu zerlegen, sollte sich der Unterricht am Ganzen orientieren und an Schwerpunkten begrifflich arbeiten. Wehrmann (2003, 201) sieht bei einer kleinschrittigen Vorgehensweise die Gefahr, "den inhaltlichen Gesamtzusammenhang aus dem Auge zu verlieren und ein verständiges Begreifen durch die akribische Beherrschung von Teilfähigkeiten zu ersetzen." Aus Sicht der Schülerinnen und Schüler müssen neue Inhalte doch aber gerade dann eine Schwierigkeit darstellen, wenn nicht an vorhandenes Wissen angeknüpft wird und Beziehungen zu früheren Inhalten thematisiert werden. Werden zudem bestimmte Inhalte, wie das Überschreiten der Zehner, als besondere Hürde präsentiert, so erzeugt dies bei den Kindern künstliche und überflüssige Hemmschwellen. Peilt man nicht die Zone der nächsten Entwicklung an, werden Grenzüberschreitungen zu zukünftigen Inhalten beinahe unmöglich gemacht. Außerdem begünstigt das stufenweise Vorgehen das zählende Rechnen und gibt den Kindern keinen Anlass, von ineffektiven Strategien abzulassen (vgl. Wittmann 1993, 159).

"Dass die Kinder dann im Zahlenraum bis 6 noch an den Fingern abzählen, rechtfertigt für die Lehrerin, weiterhin in diesem Zahlenraum zu verweilen (Verwechslung von Ursache und Wirkung?)" (Scherer 2011, 10).

Die Vorgabe fester Lösungswege schult eher die Anpassungsbereitschaft und Fähigkeit der Kinder, die von der Lehrperson erwartete Antwort zu erraten. Die Förderung des Denkens und der Transferfähigkeit, die eigentlich Ziel des Mathematikunterrichts sein sollte, kann auf diese Weise nicht umgesetzt werden. Auch Kinder der Schule zur Lernförderung sind darauf angewiesen, dass man ihnen etwas zutraut, damit sie sich weiterentwickeln können (vgl. Scherer 1995, 63, 80). Zu bedenken ist auch, dass der vermittelte Lösungsweg in vielen Fällen nicht den Gedankengängen der Schülerinnen und Schüler entspricht. Kann der vorgeschriebene Weg vom Kind nicht einsichtsvoll nachvollzogen werden, so belastet (und verlangsamt) er den Denkprozess zusätzlich. Und wie soll das allseits geforderte langfristige Lernen umgesetzt werden, wenn die Schülerinnen und Schüler nicht verschiedene Lösungswege kennen und flexibel einsetzen lernen? Es sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass Fehler meist nicht auf zufällige Verhaltensweisen zurückzuführen sind. Die meisten Kinder entwickeln ein Bild von der Mathematik, wonach mit dem passenden Algorithmus eigentlich jedes Problem lösbar ist. Entsprechend suchen sie bei Schwierigkeiten auch nach Regeln und entwickeln diese notfalls auch selbst. Diese für die Einzelne oder den Einzelnen durchaus logischen und teilweise funktionierenden Techniken können sich verfestigen, wenn sie nicht entdeckt werden. Solche Strategien sind ausgesprochen resistent gegenüber neuen Erklärungen (vgl. Wehrmann 2003, 199).

Das Prinzip der Anschaulichkeit integriert die bereits beschriebenen Prinzipien, indem es dem Nachmachen dient. Zahlreiche Pädagogen haften heute noch der Idee an, dass gerade Kinder mit Schwierigkeiten im Rechnen möglichst viele Anschauungsmaterialien benötigen, aus denen sie dann das entsprechende oder ansprechendste Material auswählen können. In der Praxis sind Würfelbilder, Steckbretter, Handkarten, Stäbe, Schnüre, Steckwürfel, Punktebilder und vieles andere mehr bekannt (vgl. Born/Oehler 2011, 81). Der Gebrauch unterschiedlicher Materialien ist zunächst deshalb kritisch zu sehen, weil die selbstständige Auswahl eine kognitive Überforderung für das Kind darstellt. Da es nicht zwischen Vor- und Nachteilen abwägen kann, bleiben nur Farbe und Form als oberstes Kriterium. Hinzu kommt, dass die Handlungen für Rechenoperationen sich an den einzelnen Darstellungsmitteln grundlegend unterscheiden und nicht übertragen werden können. Das bedeutet für das Kind jeweils eine Übersetzungsleistung, die Kapazität im Arbeitsspeicher beansprucht und eigentliche arithmetische Prozesse beeinträchtigt. "In diesem Sinne muss jedes Veranschaulichungsmittel neu gelernt werden (Lorenz 2003, 36)." Hinzu kommt, dass Anschauungsmittel nur dann unterstützend auf das Lernen wirken, wenn sich daraus mathematische Begriffe und Einsichten ableiten lassen und wenn sie den Unterrichtszielen sowie der individuellen Lernhistorie entsprechen (vgl. Scherer 1995, 68). Bezüglich der Materialien sollte also gelten: Weniger ist mehr.

Die herausragende Bedeutung des Übens ergibt sich einerseits aus dem Lernverhalten von Kindern mit Förderschwerpunkt Lernen (vgl. 1.1), andererseits aus der Struktur der Mathematik, die Routinefertigkeiten verfolgt. Vielfach wird daraus gefolgert, dass diese Routine auch durch mechanisches Üben erreicht werden könne. Vor dieser Praxis ist jedoch zu warnen, da Übungen zur reinen Wiederholung oder Reproduktion schematische Denkstrukturen verfestigen und hohe Ansprüche an die Merkfähigkeit stellen (vgl. Scherer 1995, 71). Zu fordern ist also ein sinnvolles und variierendes Üben, das für Vielfalt des Übens sorgt und Schülerinnen und Schüler zum Erkennen von Zusammenhängen anregt- ein sogenanntes operatives Üben, welches durch verschiedenste Erhebungen in seinen Vorteilen bestätigt ist. In den gängigen Lehrwerken sind solche operative Übungen jedoch kaum zu finden. Abwechslung wird meist darauf beschränkt zusammenhangslose, austauschbare Aufgaben auf verschiedene Weisen zu verpacken, in der Hoffnung zu motivieren (vgl. 4.2.2). Inhaltlich wird sehr lange bei pränumerischen Übungen verweilt, was das Vorwissen der Kinder verkennt.

Aus den Charakteristika der Schülerschaft wurde die Differenzierung als wesentliche Anforderung des Mathematikunterrichts abgeleitet (vgl. 1.1). Nestle (1980 zit. n. Klein 2012, 22) führt sechs didaktische Variablen der Differenzierung auf: Soziale Organisation, Stoff/Inhalt/Thema des Unterrichts, Handlungsformen, Präsentationsformen, Lernziele und Lernzeit. In der Unterrichtspraxis sind vor allem Differenzierungsversuche hinsichtlich der Methoden, Medien, Ziele und Inhalte zu finden. Nachdem die Lehrkraft die Kinder eingeschätzt und sortiert hat, ordnet er ihnen passende Lernangebote zu. Aus zwei Gründen ist dies kritisch zu bewerten: Dem Kind wird jede Selbstbestimmung und Eigenaktivität genommen. Und wie kann die Lehrkraft sicherstellen, eine Schülerin oder einen Schüler nicht doch falsch einzuschätzen und damit zu über- oder zu unterfordern? Eine Lösung bieten offene Aufgaben, denen man jedoch eher skeptisch gegenübersteht. "Vermutlich erzeugt die Unkontrollierbarkeit derartiger offener Situationen bei Lehrern Unsicherheit und (fälschlicherweise) Angst, die Kinder zu überfordern" (Scherer 1995, 75).

3.2 Ein revidiertes Verständnis von Mathematikdidaktik

Die fachwissenschaftlichen und didaktischen Ausführungen sowie die gefolgerten Anforderungen an den Mathematikunterricht an der Schule zur Lernförderung werden nun zu einem aktuellen Verständnis zusammengeführt.

Auf der Grundlage der theoretischen Ausführungen zum Erstrechnen empfiehlt Wember (2003, 63), im Unterricht beide zentralen Zahlaspekte aufzugreifen, sowohl Anzahlen als auch Ordnungszahlen zu betrachten. Im weiteren Verlauf sollten auch die erweiterten Aspekte der Operator-, Maß- oder Nominalzahl eingeführt werden. Die Ordinalzahl stellt die kindgemäße Zählzahl dar und sollte entsprechend vor der Kardinalzahl thematisiert werden. Es ist gezeigt worden, dass die Aktivität des Zählens die Herausbildung von Zahlbegriffen positiv beeinflusst und entsprechende Beachtung im Erstrechenunterricht verdient. Dabei sollte stets vorhandenes Zähl- und Zahlwissen mit neuem verknüpft werden. Um dies zu ermöglichen, müssen Probleme auf verschiedenen Wegen gelöst werden. Beispielsweise sollten die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von subitizing, Eins-zu-Eins-Zuordnung, Schätzen oder Zählen beim Mengenvergleichen erfahrbar werden. Moser Opitz (2008, 94) liefert konkrete Hinweise zur Umsetzung im Unterricht. Neben der Bedeutsamkeit des Zählens sei aber auch auf die Verknüpfung mit Übungen zum Ordnen, Vergleichen und Gliedern von Anzahlen oder Mengen hingewiesen, welche unabdingbar für den Aufbau umfassender Zahlbegriffe und arithmetischer Strukturen sind. Denn das Zählen für sich genommen führt nicht zu Mengen- und Mächtigkeitsvorstellungen und begünstigt abzählendes Rechnen bzw. Fingerrechnen. Diese Strategie führt allerdings nur zu Anfangserfolgen und kurzfristigen Lernvorsprüngen. Für große Zahlenräume ist die Zählmethode ineffektiv, weil darüber hinaus simultane, kardinale Vorstellungen sowie Zerlegungen in Teilmengen notwendig sind (vgl. Werner 2007, 583).

Insgesamt ist bei der Auswahl der Lerninhalte stets auf eine Beschränkung und Vertiefung der Kernideen der Arithmetik zu achten. Mittel der Anschauung sollten hinsichtlich dieser Grundideen sorgsam ausgewählt und sparsam eingesetzt werden. Traditionellerweise wird bei Schwierigkeiten im Erstrechenunterricht (an der Schule zur Lernförderung) auf pränumerische Übungen gesetzt, da diese als Vorläuferfunktion der numerischen Kompetenz betrachtet werden. Dabei wird im Sinne von Piagets Invarianzversuchen das Arbeiten mit Zahlen nachrangig behandelt. Mittlerweile wurde jedoch gezeigt, dass einfaches Klassifizieren und Reihenbilden die Grundlage für den Zahlbegriffserwerb bildet und das richtige Lösen der Invarianzaufgaben keine notwendige Voraussetzung darstellt. Bei Problemen im mathematischen Erstunterricht sollte entsprechend auf Angebote gesetzt werden, die Kindern numerische Erfahrungen ermöglichen. Durch das Trainieren vermeintlich unterentwickelter unspezifischer Vorläuferfähigkeiten werden die Schülerinnen und Schüler Mathematik nicht lernen (vgl. Moser Opitz 2007, 254 f).

Aus ihren Untersuchungen zum oft unterschätzten Vorwissen von Kindern, die in eine Schule zur Lernförderung eingeschult werden, zieht Moser Opitz (2008, 149-151) pädagogische Schlüsse: Der bereits vorhandene Mengenbegriff müsse differenziert erfasst und weiterentwickelt werden. Dafür seien weniger ausgedehnte pränumerische Übungen und kleinschrittiges Vorgehen, sondern Erfahrungen in einem erweiterten Zahlenraum geeignet. Daraus ergibt sich insgesamt ein höheres Anforderungsniveau, wobei selbstverständlich durch eine Individualisierungs- und Differenzierungspraxis die festgestellte Leistungsheterogenität zu berücksichtigen ist. Schulanfängerinnen und Schulanfänger verfügen vordergründig über Kenntnisse aus dem Bereich der Alltagsmathematik. Die Entwicklung hin zu abstrakterem und formalem mathematischen Wissen muss begleitet und gefördert werden. Demnach ist es Aufgabe des Mathematikunterrichts die Alltags- mit der Schulmathematik zu verbinden (vgl. ebd., 122). Um die Möglichkeiten für reiche mathematische Aktivitäten und eigene Lernwege der Schülerinnen und Schüler auszubauen, sollte ein mechanisches Üben durch operative Übungsformen abgelöst werden.

In diesem revidierten Verständnis von Mathematikdidaktik zeigt sich auch eine veränderte Rolle der Lehrkraft: Sie wird zum Begleiter und Unterstützer von Lernprozessen. Aus den genannten didaktischen Folgerungen resultiert auch eine entsprechende Lehrerbildung. Untersuchungen legen die Vermutung nahe, dass einige Lehrkräfte selbst nur über unzureichende mathematische Kenntnisse verfügen (vgl. Wehrmann 2003, 202). Entsprechend ist eine Aufwertung der mathematischen Lerninhalte zu fordern. In die Ausbildung sollten neben den arithmetischen Grundlagen und ihrer Didaktik auch die Psychologie des kindlichen Lernens in der Mathematik, die Förderdiagnostik sowie die Interventionsmöglichkeiten bei Schwierigkeiten integriert werden. Thematisiert werden müssen also die in Kapitel 1.2 beschriebenen Faktoren Sach-, Aneignungs- und Vermittlungsstruktur.

3.3 Zusammenfassung

Im aktuellen Mathematikunterricht finden sich die klassischen sonderpädagogischen Prinzipien Reduktion, Lebensweltbezug, Isolierung der Schwierigkeiten, Vorgehen in kleinen Schritten, Vorgabe fester Lösungswege, Anschaulichkeit, mechanisches Üben sowie Differenzierung wieder. Eine solche Didaktik ist jedoch kritisch zu beurteilen, da sie den gestellten Anforderungen an den Mathematikunterricht an einer Schule zur Lernförderung nicht gerecht werden kann. Ein revidiertes Verständnis von Mathematikdidaktik für die Schule zur Lernförderung wurde vorgestellt. Dabei zeigte sich: Es kommt weniger auf konkrete Förderprogramme als vielmehr auf einen guten Mathematikunterricht an. Dieser sollte an Kernideen der Mathematik orientiert sein, das Vorwissen der Lernenden anerkennen und einbeziehen, Zahlen im Alltag thematisieren, eigene Lernwege ermöglichen, ganzheitliche Zugänge, geeignete Veranschaulichungen und Arbeitsmittel sowie operative Übungsformen anbieten und die Lehrperson als unterstützenden Lernbegleiter verstehen. Diese veränderte Auffassung von Mathematikdidaktik im Förderschwerpunkt Lernen kann nur dann realisiert werden, wenn die Lehrpersonen selbst über das notwendige fachliche und fachdidaktische Hintergrundwissen verfügen.

4 Aktiv-entdeckendes Lernen im Mathematikunterricht

Lernen und Üben in Sinnzusammenhängen

entspricht dem Wesen der Mathematik und ihren Anwendungen.

So wird eine Motivation aus der Sache heraus ermöglicht

und ein natürlicher Rahmen für soziales, sinnerfülltes Lernen geschaffen.

Wittmann 1993, 164

Wer sich unvoreingenommen damit vertraut macht,

wird die elementare Mathematik in einem ganz neuen Licht sehen.

Wittmann/Müller 1993, 4

Aus der Sicht der heutigen Lernpsychologie ist Wissen nichts Vorgefertigtes, das Lehrerinnen und Lehrer den Schülerinnen und Schülern vermitteln, sondern das Resultat einer konstruktiven Aufbauleistung, die auf der Grundlage des individuellen Vorwissens von den Lernenden selbst erbracht werden muss. Dieses aktive Lernen erfordert Selbstverantwortung der Lernenden für ihre Lernfortschritte. Um diese Kompetenz zugleich zu fördern, sollte die Lehrkraft herausfordernde Anlässe finden und anbieten, ergiebige Arbeitsmittel und produktive Übungsformen bereitstellen sowie eine Kommunikation aufbauen und erhalten, die für alle Lernenden förderlich ist.

Das aktiv-entdeckende Lernen im Mathematikunterricht führt das revidierte didaktische Verständnis aus Kapitel 3.2 fort. Einführend werden historische und theoretische Grundlagen erläutert. Um die konstruktivistische Sichtweise des aktiv-entdeckenden Lernens im Mathematikunterricht zu konkretisieren, sollen Ideen und Prinzipien am Beispiel „mathe 2000“ herausgestellt werden. Die Leitlinien dieses Projektes werden sich auch durch den empirischen Teil dieser Arbeit ziehen. Der letzte Teil dieses Kapitels widmet sich der Frage, inwiefern aktiv-entdeckendes Lernen im Mathematikunterricht an der Schule zur Lernförderung realisiert werden kann.

4.1 Historische und theoretische Grundlagen des aktiv-entdeckenden Lernens

In der Geschichte der Theorie und Praxis des Lehrens und Lernens lassen sich typisierend zwei kontroverse Positionen ausmachen: Die empiristische (passivistische) und die konstruktivistische (aktivistische) Position. Didaktische Theorien und die reale Unterrichtspraxis haben sich stets zwischen diesen Extremen bewegt. Allerdings kann man meist klar entscheiden, welche Position dominiert. Nach einem durchgängigen Vorherrschen der empiristischen Perspektive, konnten sich die konstruktivistischen Theorien im vergangenen Jahrhundert zunehmend durchsetzen. Auch in der aktuellen Mathematikdidaktik und -methodik lässt sich die empiristische Tradition von der konstruktivistischen abgrenzen. Der empiristische Ansatz versteht Mathematik als Abbild der Wirklichkeit und leitet daraus die Notwendigkeit der systematischen Vermittlung mathematischer Begriffe und Verfahren ab. Demzufolge wird dem Lehrenden die aktive Rolle zugewiesen, während der Lernende Inhalte passiv aufnimmt. Im Gegensatz dazu gehen konstruktivistische Konzeptionen davon aus, dass sich der Lernende seine Mathematik selbst aufbaut und erarbeitet. Die konstruktivistische Position rückt den Gebrauchswert der Mathematik in den Mittelpunkt und spricht sich für ein aktives und entdeckendes Lernen aus (vgl. Wember2011, 244). Im Folgenden sollen die beiden Pole als passivistisch und konstruktivistisch bezeichnet werden.

Hinsichtlich unterrichtlicher Konsequenzen ist eine präzise Definition von aktiv-entdeckendem Lernen schwierig. Es handelt sich weniger um einen eindeutig bestimmbaren, beobachtbaren Lernvorgang, sondern vielmehr um eine umfassende Idee vom Lernen und Lehren. Man kann also von einer Leitidee sprechen, welche besagt, dass Mathematik durch aktives Tun und eigenes Erfahren effektiver gelernt wird als durch Belehrung und gelenktes Erarbeiten. Relevant sind dabei sowohl die Ebenen des Wissens und Könnens als auch jene des Verstehens und Anwendens (vgl. Scherer 1995, 85 f).

Die mathematikdidaktischen Überlegungen des 20. Jahrhunderts verdeutlichen den Versuch, das Beibringen, Darbieten und Vermitteln durch das Erwerben oder Entdecken von Rechenverfahren zu ersetzen. So bezieht sich beispielsweise Wittmann (1995, 158) auf den Rechendidaktiker Kühnel (1869-1928), der sich dafür ausspricht, dass sich Kinder ihre Kenntnisse selbst erwerben können. Demnach kommt es weniger darauf an, den Stoff zu vermitteln und darzubieten, als den Schülerinnen und Schülern Angebote zur aktiven Auseinandersetzung mit dem Stoff zu unterbreiten. Damit verändert sich nicht nur die Rolle der Lehrerin oder des Lehrers, sondern auch die der Schülerin oder des Schülers: An die Stelle des Empfangens tritt das Erarbeiten. Statt "Leitung und Rezeptivität" werden entsprechend "Organisation und Aktivität" als Lehrverfahren der Zukunft bezeichnet. Lange Zeit konnten sich Kühnels Ideen jedoch auf der Ebene der Lehrpläne nicht durchsetzen. Als Ursache wird ein scheinbarer Widerspruch zwischen der starken Fachstruktur der Mathematik und der Sichtweise eines aktiven und entdeckenden Lernens gesehen. Anfang der 80er Jahre fanden die neuen Zugänge zum Mathematiklernen schließlich Einzug in die Schulpraxis.

Das Prinzip des aktiv-entdeckenden Lernens ist nicht nur mit der Mathematik verbunden. Die Grundlagen lassen sich aus aktivistischen Lerntheorien, insbesondere aus der genetischen Epistemologie des Schweizer Psychologen Piaget, herleiten. In seinen Darstellungen über Entwicklung und Lernen rückte er stets den aktiven Lerner in den Mittelpunkt. Wiederholt soll damit betont werden, dass keineswegs das gesamte Konzept Piagets in Frage gestellt wird. Sein konstruktivistisches Lern- und Entwicklungsverständnis bleibt bis heute aktuell und bildet die Basis des aktiv-entdeckenden Lernens (vgl. Moser Opitz 2008, 106-108).

Die enormen numerischen Kenntnisse, über die Schulanfänger verfügen (vgl. 2.3) sind ein Beleg dafür, dass Kinder bereits vor schulischer Lehre Wissen selbstgesteuert erwerben. Dieses Vorwissen kann demzufolge als Argument für die konstruktivistische Sicht gelten.

Vertreter des Konstruktivismus gehen davon aus, dass systematische Belehrung das aktiv-entdeckende Lernen gefährdet:

„Was Kinder auf eigenen Wegen und in individueller Weise gelernt haben, wird durch nochmaliges schrittweises Erarbeiten mit der Klasse nicht nur entwertet, sondern auch empfindlich gestört, wenn nicht gar blockiert“ (Hengartner/Röthlisberger 1995, 85).

Besonders für lernschwache Schülerinnen und Schüler stellt es eine weitere Erschwernis dar, ihren eigenen Lernweg zu verlassen, um sich auf andere Wege der Lehrperson oder des Lehrmaterials einzulassen. Die Rezepte, mit denen Lehrerinnen und Lehrer den Kindern helfen wollen, stellen nur zusätzlichen Lernstoff für diese dar. Nicht alle Kinder verfügen über die Fähigkeit, sich von solchen Mustern abzulösen oder sie in ihre eigenen Konzepte zu integrieren. Zu fordern sei deshalb "für alle Kinder, gerade auch für die schwächeren, ein Recht auf eigenes Denken" (ebd.). In einem neuen Verständnis von Unterricht sollte deshalb nicht mehr auf Belehrung und Kleinschrittigkeit, sondern auf Raum für eigene Entdeckungen durch Lehrerbegleitung gesetzt werden.

Es ist zu betonen, dass es sich bei der Darstellung der konstruktivistischen und der traditionellen Lernkultur nicht um ein Schwarz-Weiß-Denken handelt. Eher liegt eine Akzentverschiebung verursacht durch einen Paradigmenwechsel vor, die ins Gleichgewicht gebracht werden muss. Es geht also nicht darum, alles bisher Erreichte zu vergessen und sich hastig in neue Ideen zu stürzen. Der Übergang ist reflektiert, mit einer Balance zwischen traditioneller und konstruktivistischer Auffassung sowie zwischen Veränderung und Bewahrung anzugehen.

4.2 Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt „mathe 2000“

Konkrete Umsetzung erfuhr der Ansatz des aktiv-entdeckenden Lernens im Projekt „mathe 2000“, das 1987 an der Universität Dortmund zur Entwicklung und Erforschung des Mathematikunterrichts gegründet wurde. Mit diesen Leitlinien und Prinzipien wird es den in Kapitel 2.5 gestellten Anforderungen in Verbindung mit einer konstruktivistischen Sichtweise gerecht: Prinzip des aktiv-entdeckenden und sozialen Lernens, Orientierung an Kernideen, ganzheitliche Zugänge, Sparsamkeit in Demonstrations-, Arbeits- und Darstellungsmitteln, individuelle Lernwege fördern, natürliche Differenzierung, Produktives Üben, Alltagsbezug, konstruktivistische Lernbegleitung.

4.2.1 Projektidee und Ergebnisse

Das wissenschaftliche Projekt „mathe 2000“ wurde 1987 an der Universität Dortmund gegründet, um den Mathematikunterricht aller Stufen, ausgehend von einer Auffassung der Mathematik als Wissenschaft von interaktiv erforschbaren Mustern und Strukturen, zu entwickeln und erforschen. Aus der Einsicht "Mathematik lernt man nur durch Mathematik" (Wittmann/Müller 2012, 158) resultiert eine betont mathematische Fundierung. Das Projekt verfolgt keine Spezialisierung auf Einzelfragen der Mathematikdidaktik, sondern versteht das Design von Lernumgebungen, die empirische Forschung, die Lehrerbildung, die Bildungsberatung und die Öffentlichkeitsarbeit als Gesamtaufgabe. Die Autoren intendieren, einen Gegenpol zu pädagogisch-didaktischen Moden und zu bildungspolitischem Aktionismus zu setzen und aus einer neutralen Position heraus Lehrerinnen und Lehrern durch praxistaugliche Materialien zu helfen. Historische Bemühungen zur Verbesserung von Erziehung und Unterricht wurden bewusst aufgegriffen. Als die vier „Erzväter“ von „mathe 2000“ gelten: der amerikanische Bildungsphilosoph John Dewey (1859-1953), der deutsche Pädagoge und Didaktiker Johannes Kühnel (1869-1928), der Schweizer Psychologe und Erkenntnistheoretiker Jean Piaget (1896-1980) sowie der deutsch-niederländische Mathematiker Hans Freudenthal (1905-1990). Ein zentrales Prinzip von „mathe 2000“ ist der kontinuierliche Ausbau eines Theorie-Praxis-Netzwerks, das einen Austausch quer über alle Bereiche gewährleisten soll (vgl. Universität Dortmund 2012, Online im Internet).

Das zweibändige Handbuch produktiver Rechenübungen verkörpert als Basistext den Kern von „mathe 2000“. Es erschien erstmals 1990 und sucht die zentralen Themen des Mathematikunterrichts für das Vorwissen und die individuellen Rechenwege der Kinder zu öffnen. Dabei wird der Schwerpunkt auf das Üben gesetzt (vgl. Wittmann/Müller 1993). Ein weiteres Ergebnis des Dortmunder Projektes ist Das Zahlenbuch, welches die unmittelbare Verbindung von Theorie und Praxis verkörpert. Nach der positiven Resonanz auf das Handbuch produktiver Rechenübungen entwickelten Wittmann und Müller 1992 Das Zahlenbuch für die Klassenstufen 1 bis 4 im bundesdeutschen Gebiet. Es folgten eine Adaption für die Schweiz durch Hengartner und Wieland sowie weitere Bände für das 5. und 6. Schuljahr (vgl. Hess 2003, 123). Das Werk ist fokussiert auf die zentralen Inhalte der Arithmetik (Einspluseins, Einmaleins, halbschriftliches Rechnen, schriftliche Rechenverfahren) und deren Anwendungen auf das Sachrechnen. Bewusst wird bei der Wahl der Anschauungsmittel auf Überschaubarkeit und Altbewährtes gesetzt. Wendeplättchen, Zwanzigerfeld, Stellentafel und Zahlenstrahl werden durch passende Neuentwicklungen wie Wendekarten oder Poster zum Einspluseins komplettiert (vgl. Wittmann/Müller 2012). Besondere Relevanz für diese Arbeit hat Das Zahlenbuch 1. Im Vorwort betonen die Autoren den aktiven und interaktiven Zugang, der unterschiedliche Lernvoraussetzungen auffängt. Bemerkenswert ist auch die konsequente Umsetzung der Bildungsstandards. Inhaltsbezogene, prozessbezogene sowie allgemeine Kompetenzen werden gefördert und im Layout kenntlich gemacht (vgl. Wittmann/Müller 2004). Spezielle Hinweise zur Arbeit mit Kindern mit Schwierigkeiten in der Mathematik liefert der Heilpädagogische Kommentar zum Schweizer Zahlenbuch 1 (Schmassmann/Moser Opitz 2007). Nachdem während der ersten 15 Jahre die Entwicklung des Mathematikunterrichts der Grundschule im Vordergrund stand, wurde von 2000 bis 2006 ein geschlossenes Programm für die mathematische Frühförderung im Kindergarten entwickelt. Aktuell wird an der Erweiterung des Ansatzes auf die Sekundarstufe gearbeitet.

4.2.2 Leitlinien und Prinzipien

Die Grundkonzeption von „mathe 2000“ versteht Mathematik als Wissenschaft von Mustern. Relevant sind dabei nicht vorgefertigte Muster, sondern solche, die erst entstehen. Dementsprechend sind das Erforschen, Fortsetzen, Verändern und Erfinden von Mustern im Forschungsprozess leitend. Dabei tritt ein spielerischer Charakter der Mathematik hervor, wobei der „reine Aspekt“ sowie der „angewandte Aspekt" offenbar werden (Wittmann 2006, 1, 5, Online im Internet). Beides, also innermathematische Beziehungen mit der Ästhetik schöner Muster sowie Bezüge zur Realität und die Lösung praktischer Probleme sind untrennbar miteinander verbunden. Die Lernmotivation soll direkt aus dieser Struktur der Mathematik, weniger aus sekundärer Motivation erwachsen.

Nachstehend werden die Ideen und Prinzipien der Grundkonzeption von „mathe 2000“ herausgearbeitet:

Prinzip des aktiv-entdeckenden und sozialen Lernens

Das zentrale didaktische Prinzip der Konzeption „mathe 2000“ ist das aktiv-entdeckende und soziale Lernen. Dieses entspringt der im vorigen Kapitel beschriebenen konstruktivistischen (aktivistischen) Lerntheorie. Ein so verstandener Unterricht kann jedoch nicht kleinschrittig erfolgen, sondern muss Raum für Eigenaktivität und soziale Interaktion schaffen (vgl. ebd., 5).

Orientierung an Kernideen

Die Begrenztheit der Unterrichtszeit erfordert eine Konzentration des Stoffes auf tragende Grundideen, welche für die Erschließung der Umwelt sowie das Verständnis der Fachstruktur unabdingbar sind. Als zentrale Grundideen der Arithmetik gelten:

- „Zahlenreihe
- Rechnen, Rechengesetze, Rechenvorteile
- Zehnersystem, Rechenverfahren
- Arithmetische Gesetzmäßigkeiten und Muster
- Zahlen in der Umwelt
- Übersetzung in die Zahl- und Formensprache" (Moser Opitz 2008, 108).

Bei der Zielsetzung gilt es, zwei Ebenen zu unterscheiden und parallel zu verfolgen: die inhaltlichen und die allgemeinen Lernziele. Inhaltliche Lernziele beschreiben Wissen und Fertigkeiten, allgemeine Lernziele thematisieren Grundprozesse mathematischen Arbeitens. Da sich beide Ebenen gegenseitig bestärken, fokussiert „mathe 2000“ sowohl eine Konzentration auf inhaltliche als auch auf folgende allgemeine mathematische Kompetenzen:

- „Problemlösen
- Kommunizieren
- Argumentieren
- Modellieren
- Darstellen von Mathematik“ (KMK 2004, 7, Online im Internet).

In der didaktischen Konsequenz bedeutet das, Zusammenhänge durch Skizzen oder Geschichten zu verdeutlichen, Lernumgebungen zu arrangieren, Lösungswege zu verbalisieren sowie verschiedene Ausdrucksweisen für mathematische Sachverhalte zu schulen. Dabei sollte sich vergegenwärtigt werden, dass bei inhaltlichen Lernzielen meist schneller sichtbare Lernerfolge zu verzeichnen sind, während sich hinsichtlich allgemeiner Lernziele nur langfristig Fortschritte einstellen. Insbesondere bei Kindern der Schule zur Lernförderung sind die Eingangsvoraussetzungen in den allgemeinen mathematischen Kompetenzen oft niedrig. Daraus sollte nicht ein Vernachlässigen, sondern ein geduldiges Fördern dieser Kompetenzen abgeleitet werden (vgl. Wittmann 2006, 4, Online im Internet).

Ganzheitliche Zugänge

Dazu zählt zum Einen das Lernen im Spiralprinzip. Das bedeutet, die grundlegenden Inhalte in mehreren Durchgängen zu erarbeiten und zu üben. Für die Entwicklung der Zahlbegriffe ist bereits herausgestellt worden, dass Verstehensprozesse nicht linear verlaufen. Aus einem konstruktivistischen Verständnis heraus lässt sich Lernen eher folgendermaßen charakterisieren: "Es besteht im aktiven Fortknüpfen und Umstrukturieren von Netzen aus Wissenselementen und Fertigkeiten" (Wittmann 2006, 1, Online im Internet, Hervorhebung im Original). Aus diesem Grund sollte den Schülerinnen und Schülern immer wieder aufs Neue die Gelegenheit gegeben werden, ihr mathematisches Wissen zu festigen und auszubauen. So wird erneut die Notwendigkeit der Beschränkung auf zentrale arithmetische Grundideen deutlich. Der Unterricht soll diese wiederkehrend aufgreifen, vertiefen und auf folgenden Stufen weiterführen. Ein weiteres Charakteristikum ist das vorwegnehmende und fortsetzende Lernen, welches davon ausgeht, dass jedes Kind auf jeder Entwicklungsstufe jeden Inhalt verstehen kann, wenn er durch geeignete Darstellungsmittel gelehrt wird. Das bedeutet für den Unterricht, einzelne Sachverhalte schon früh und in konkreter Form zu thematisieren. Ein weiterer Grundsatz des Spiralprinzips ist die fortschreitende Schematisierung. Materialien helfen Kindern, Einsichten in mathematische Strukturen zu erhalten. Zugleich verinnerlichen sie diese in einem natürlichen Prozess und benötigen Anschauungsmaterialien dann plötzlich nicht mehr. Folglich sollte Unterricht jedem Kind den Freiraum gewähren, sich dort von Hilfen zu lösen, wo es diese nicht mehr braucht, aber auch eine Rückkehr zum Material nicht ausschließen (vgl. Hess 2003, 71). Durch die Arbeit im Spiralprinzip tauchen die Themen immer wieder auf und werden von verschiedenen Seiten betrachtet und auf einem immer höheren Niveau bearbeitet. Dieser Prozess führt zu erweitertem Wissen, zu einem tragfähigen Wissensnetz und ermöglicht ein individuelles Niveau. Zugleich impliziert das Spiralprinzip ein ganzheitliches Vorgehen, um große Sinnzusammenhänge nicht zu deformieren: Die Zahlen sollen entsprechend nicht Ziffer für Ziffer (, im 1.Schuljahr an der Schule zur Lernförderung nur von 1-6,) eingeführt werden. Stattdessen ist der Zahlenraum von 1-20 von Anfang an als ganzheitlicher Erfahrungsraum anzubieten (vgl. Wittmann/Müller 1993/2004; Moser Opitz 2008, 108). Über das Spiralprinzip wird er sukzessive verinnerlicht. Dahinter steckt die Idee, dass Teile stets nur im Zusammenhang mit dem Großen und Ganzen durchdrungen werden können. Hinsichtlich eines ganzheitlichen Zugangs sind auch Strategien zu fördern: Es sollte auf Bündeln und Strukturieren statt auf Abzählen gesetzt werden. Strukturierte Mengenbilder oder ein dynamischer Gebrauch der Finger können bei der Ablösung vom zählenden Rechnen helfen (vgl. Moser Opitz 2008, 115).

Sparsamkeit in Demonstrations-, Arbeits- und Darstellungsmitteln

Die Ganzheitlichkeit wird in der Konzeption dadurch unterstützt, dass grundsätzlich nur Arbeitsmittel eingesetzt werden, die für jede Aufgabe eine Gesamtübersicht gewährleisten. Beim Einspluseins sind dies beispielsweise die Einspluseinstafel und das Zwanzigerfeld, eine Anordnung von 20 Punkten strukturiert in 5er und 10er Abschnitte, auf welche mit farbigen Plättchen Mengen gelegt werden oder die Orientierung an der Zahlenreihe erfolgt. Wittmann (2006, 9, Online im Internet) fasst die Notwendigkeit der Sparsamkeit in Darstellungsmitteln zusammen:

"Anschauungs- und Arbeitsmittel wirken weder unmittelbar noch unmissverständlich. Vielmehr müssen sich die Kinder erst in sie einarbeiten. Dies kostet Zeit. Angesichts des engen Zeitrahmens verbietet es sich daher, eine große Zahl von Materialien zu verwenden."

Bezüglich der Materialien sollte also gelten: Weniger ist mehr. Dies wird im Projekt „mathe 2000“ folgendermaßen umgesetzt: "Genau diejenigen Materialien wurden ausgewählt, welche die mathematischen Grundideen am besten verkörpern" (ebd.). Auch wirken die Darstellungsmittel nicht direkt aus sich heraus. Erst durch intensive Schüleraktivitäten können äußere Anschauungen in innere Vorstellungen transformiert werden (vgl. Wittmann/Müller 1993, 8). Daher wird sowohl aus finanziellen als auch praktischen und didaktischen Gründen auf eine längerfristige Verwendung sowie leichte Handhabbarkeit der Materialien gesetzt. Mithilfe übersichtlicher Strukturierungen soll der Aufbau innerer (mentaler) Vorstellungsbilder und die Ablösung vom zählenden Rechnen begünstigt werden (vgl. Moser Opitz 2008, 109).

Eigene Lernwege der Kinder fördern

Im Zentrum des aktiv-entdeckenden Lernens steht der persönliche Lern- und Lösungsweg eines jeden Kindes. Deshalb müssen auch im Unterricht verschiedene Vorgehensweisen bewusst gefördert werden. Im Erstrechnen sind vor allem verschiedene Möglichkeiten strukturierter Mengenerfassung relevant. Durch die Gestaltung von Lernumgebungen kann Raum für individuelles Lernen geschaffen werden. Eine Lernumgebung ist "fachlich strukturiertes Wissen, das nach didaktischer Gestaltung als Unterrichtseinheit taugt" (Hess 2003, 41). Kennzeichen von Lernumgebungen sind:

- Repräsentation zentraler mathematischer Ziele, Inhalte, Prinzipien
- Förderung von Schüleraktivität
- Soziale Interaktion
- Flexibilität
- Integration mathematischer, psychologischer, pädagogischer Aspekte des Lehrens und Lernens (vgl. Wittmann 1998, 337).

Gerade im Erstunterricht (an der Schule zur Lernförderung) kann der Zugang zur Mathematik oft noch spielerischen Charakter haben. Nichtsdestotrotz sollte stets auf echte Lernanlässe gesetzt werden. Sogenannte Pseudoaktivitäten, die durch bunte Bilder die Mathematik schmackhaft zu machen suchen, sind nicht nur überflüssig, sondern mitunter gar schädlich. Denn solche Verpackungen entstellen dass Fach und stehen somit der Genese einer richtigen Einstellung zur Mathematik im Wege. Mathematische Aktivitäten, die spielerisch und echt zugleich sind, schließen sich keineswegs aus. Die Konzeption des aktiv-entdeckenden Lernens macht sich zum Ziel, die Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler wahrzunehmen, aufzugreifen und durch entsprechende Lernanlässe an sie anzuknüpfen, sodass wiederum neue Lernprozesse ausgelöst und in Bewegung gehalten werden können. Darüber hinaus zeichnen sich gute Lernanlässe dadurch aus, dass sie Herausforderungen für alle Kinder, gleich welcher mathematischen Begabung, enthalten (vgl. Schmassmann2004, 4). Bei der Verwirklichung solch binnendifferenzierender Aufgaben können Lehrkräfte auf verschiedene Anregungen und Beispiele zurückgreifen, wie etwa die "Lernumgebungen für Rechenschwache bis Hochbegabte" (Hengartner 2011, Online im Internet). Aus der Fähigkeit von Kindern, eigene Lösungswege zu beschreiten, darf nicht fälschlicherweise gefolgert werden, dass alle mathematischen Inhalte selbst entdeckt werden können. Grundlegende Konventionen müssen stets vermittelt werden. Aus diesem Grund ist das aktiv-entdeckende und soziale Lernen stets mit einem fachlichen Rahmen verbunden (vgl. Wittmann/ Müller 2012, 165).

[...]


[1] World Health Organization (Weltgesundheitsorganisation).

[2] International Classification of Diseases der WHO, 10. Ausgabe, German Modification.

[3] Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland.

Ende der Leseprobe aus 129 Seiten

Details

Titel
Wie lernen Kinder an einer Schule zur Lernförderung Rechnen?
Untertitel
Mit aktiv-entdeckendem Lernen zum Erfolg im Erstrechnen
Hochschule
Universität Leipzig  (Förderpädagogik)
Note
1,1
Autor
Jahr
2012
Seiten
129
Katalognummer
V203126
ISBN (eBook)
9783656320012
ISBN (Buch)
9783656322559
Dateigröße
3508 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Mathematik, Erstrechnen, aktiv-entdeckendes Lernen, mathe 2000
Arbeit zitieren
Julia Bockisch (Autor:in), 2012, Wie lernen Kinder an einer Schule zur Lernförderung Rechnen?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/203126

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