Die Macht der Musik und ihre Instrumentalisierung im Rahmen sozialer Arbeit mit Jugendlichen


Diplomarbeit, 2012

107 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Jugend(kulturen) und Musik
2.1 ‚Die‛ Jugend und ihre Probleme
2.2 Die Rolle der Musik im Leben Jugendlicher
2.3 Jugendkulturen und Szenen
2.3.1 Der Begriff ‚Szene‛
2.3.2 Die Techno-Szene
2.3.3 Die HipHop-Szene
2.3.4 Die Indie-Szene
2.4 Die Beziehung zwischen Jugendlichen und Musik

3 Musik und Musikpädagogik in der sozialen Arbeit mit Jugendlichen
3.1 Musikpädagogik
3.2 Musikpsychologische Grundlagen
3.3 Musiksoziologische Grundlagen
3.4 Musikalität
3.5 Sozialpädagogische Zielsetzungen
3.6 Jugendliche als Zielgruppe sozialer Arbeit mit Musik
3.7 Methoden der Musikverwendung
3.7.1 Stimme und Gesang
3.7.2 Perkussion
3.7.3 Musikhören
3.8 Anforderungen an Musik- und SozialpädagogInnen
3.9 „Rockmobile“ in Berlin
3.10 Das HipHop-Mobil in Berlin
3.11 Soziale Arbeit mit Musik und Jugendlichen

4 Missbrauch von Musik
4.1 Rechtsrock, Skinheads und Neonazis
4.2 Musik als Rekrutierungsstrategie
4.3 Liedtexte und Analyse
4.4 Rechte Musik in der Sozialen Arbeit mit Jugendlichen
4.5 Die Macht der Musik

5 Schluss

Literaturverzeichnis

Internetquellen

1 Einleitung

Das Thema ‚Jugend und Musik‛ ist seit Jahrzehnten Teil pädagogischer, therapeu- tischer und sozialer Arbeit. Musik wird in der Literatur immer als einflussreiches Medium gesehen, welches besonders Jugendliche in ihrem täglichen Leben be- gleitet. Musik scheint etwas beinahe Mythisches zu sein, dessen Kraft und Magie man zwar nicht erklären, aber deutlich spüren kann. Menschen umgeben sich mit der von ihnen bevorzugten Musik aus vielerlei Gründen, aber der meiner Meinung nach bedeutsamste ist, dass Musik Emotionen auslösen und ausdrücken kann. Aufgrund dieser Tatsache ist Musik eines der beliebtesten Mittel, um sich ein sinnliches Erlebnis zu bescheren oder sich in ‚seine‛ eigene Welt zurückzuziehen. Man lässt sich von Musik berühren, leiten und so vereinnahmen, dass man die Realität ausblendet und zumindest für eine kurze Zeit den Problemen und Sorgen entfliehen kann.

Um sich dieser engen Beziehung zwischen Jugendlichen und Musik wissenschaftlich zu nähern, wird in den drei Teilen dieser Diplomarbeit aktuelle Literatur bearbeitet und analysiert.

Rein musiktheoretische Aspekte wie der Aufbau von Liedern mit Tonart, Melodie und Noten sowie Funktions- und Spielweisen von Instrumenten werden in dieser Arbeit nicht Untersuchungsgegenstand sein. Levitin (2009) versucht in dem Buch „Der Musik-Instinkt. Die Wissenschaft einer menschlichen Leidenschaft.“ zwar einen direkten Zusammenhang zwischen der Zusammensetzung der einzelnen Musikbausteine und emotionalen Reaktionen beim Menschen nachzuweisen, aber die individuellen und sozialen Voraussetzungen für etwaige emotionale Reaktionen lassen allgemein gültige Aussagen kaum zu.

Das Erkenntnisinteresse dieser Diplomarbeit besteht darin, die Beziehung von Jugendlichen zu Musik zu charakterisieren, ihre Besonderheiten zu entdecken und herauszufinden, wie Musik im Rahmen sozialer Arbeit eingesetzt werden kann, um Jugendliche bei ihrer Persönlichkeitsentwicklung und ihrer Integration in die Gesellschaft zu unterstützen und positiv zu beeinflussen.

Das Interesse entspringt meiner eigenen Leidenschaft für Musik und der Überzeu- gung, dass Musik Menschen emotional und körperlich stark beeinflussen kann. Weitere Fragestellungen werden sein, was Musik in Jugendlichen auslösen kann, wozu sie sie brauchen und auch, wie Musik missbraucht werden kann und welche Ideologien damit transportiert werden und wie man sich damit kritisch auseinan- dersetzen kann.

Der Anspruch dieser Arbeit besteht nicht darin, ein Rezept für die korrekte Nut- zung von Musik in der sozialen Arbeit zu entwickeln, sondern vielmehr in dem Versuch, die Popularität der Musik als pädagogisches Instrument zu steigern.

Der Begriff ‚Macht‛ ist bewusst gewählt, um den Einfluss von Musik auf Men- schen zu verdeutlichen. Für diese Arbeit ist er fast durchwegs positiv besetzt, nur im dritten Teil wird gezeigt, wie man die ‚Macht‛ der Musik für negative Zwecke auch missbrauchen kann. Musik übt nicht durch sich selbst Macht aus, sondern erst der Umgang damit verleiht ihr Macht über unsere Reaktionen. Dabei spielen allerdings verschiedene Faktoren eine Rolle, die in dieser Arbeit genauer erläutert werden.

Der erste Teil beschäftigt sich mit den Problemen und Herausforderungen, denen Jugendliche sich heute überwiegend stellen müssen. Dies steht in engem Zusam- menhang mit den grundlegenden Fragen, warum Jugendliche Musik hören und welche Rolle Musik in deren Leben spielt. Um diese Fragen zu erörtern, werden soziale und persönliche Funktionen von Musik vorgestellt und auf den Kontext von Jugendszenen übertragen.

Die Tabelle von Bommersheim, Müller-Bachmann und Münch unterstreicht die essentiellen Funktionen, die Musik im Leben von Jugendlichen übernehmen kann, indem verschiedene musikalische Handlungsweisen vorgestellt werden, mit denen psychische und physische Entwicklungsaufgaben bearbeitet werden können.

Die Darstellung drei verschiedener Jugendszenen soll den Einfluss der Musik auf die Lebensgestaltung, das Verhalten, das äußere Erscheinungsbild und die Einstel- lungen Jugendlicher deutlich machen. Sie stehen für die der jeweiligen Zeit ent- sprechenden jugendkulturellen Überformungen von Musikstilen und zeichnen aufgrund ihrer Vielfalt und Größe ein gutes Bild der aktuellen jugendlichen Be- völkerung Deutschlands.

Es wird insgesamt gezeigt, dass Musik eines der wichtigsten Mittel ist, mit denen Jugendliche ihren Lebensraum gestalten und sich selbst darstellen. Mit Musik kann man sich abgrenzen oder sich integrieren, man kann sich durch sie ausdrücken oder sich von ihr verstanden fühlen, man kann sie allein für sich selbst nutzen, um die eigenen Stimmungen zu regulieren oder sie zusammen mit anderen hören und ein beinahe rauschhaftes musikalisches Erlebnis haben.

Die Wirkungen, die Musik haben kann, sind von vielen verschiedenen Faktoren abhängig, weshalb sie nie als allgemein gültig verstanden werden können. Dass Musik aber immense Wirkungen haben kann, ist unbestritten.

Diese sind die Grundlage für die Anwendung musikalischer Tätigkeiten im Rah- men sozialer Arbeit. PädagogInnen versprechen sich von musikalischen Äußerun- gen einen ersten Zugang zum emotionalen Erleben ihrer KlientInnen und eine Verbesserung der Kommunikation zwischen diesen und ihren Mitmenschen.

Der zweite Teil beginnt mit musikpädagogischen, musikpsychologischen und musiksoziologischen Grundlagen, die bei der sozialen Arbeit mit Musik mitbedacht werden müssen. Jugendliche machen in ihrer musikalischen Sozialisation unterschiedliche Erfahrungen, auf die Rücksicht genommen werden muss, um sie vor eventuellen negativen Erfahrungen zu schützen.

Mit Wickel und Hartogh werden die Funktionen von Musik im Rahmen sozialer Arbeit dargestellt und das Thema ‚Musikalität‛ bearbeitet, das vielen Jugendlichen den Zugang zu aktivem Musizieren erschwert.

Im Rahmen sozialer Arbeit gibt es keine musikalischen Voraussetzungen, die man mitbringen muss, der Zugang steht jedem offen und es gibt für alle Jugendliche die Möglichkeit, sich musikalisch zu betätigen.

Zudem werden hier das Singen, Perkussion und das Musikhören als konkrete Methoden vorgestellt und das „Rockmobil“ und das „HipHop-Mobil“ als Musikprojekte für Jugendliche vorgestellt.

Die soziale Arbeit mit Musik bietet viele verschiedene Möglichkeiten für Jugend- liche. Es gibt unzählige Projekte, die sich an den Jugendszenen orientieren und die Jugendlichen nicht nur in musikalischer Hinsicht Weiterbildungsmöglichkeiten bieten.

Der letzte Teil beschäftigt sich mit Rechtsrock, der nicht im eigentlichen Sinne ein Musikstil ist, sondern vielmehr so bezeichnet wird, weil die Botschaften der Lieder rechts-orientiert und rassistisch sind. Die Musik bzw. die Rock-Musik wird von rechten Skinheads und Neonazis missbraucht, um ihre Einstellungen und Ide- ologien zu verbreiten.

Auch dieser Teil ist ein Beispiel für die Macht, die Musik ausüben kann, wenn auch kein Nachahmungswürdiges. Mit Musik versuchen rechte Organisationen Jugendliche für ihre Ideologien zu gewinnen und ein Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen. Jedoch wirkt hier Musik nicht allein, da gerade Rechtsrock aufgrund seiner radikalen Texte z.B. anti-rassistisch eingestellte Jugendliche nicht sachlich und argumentativ überzeugen kann.

Osborgs Ansatz der „subversiven Verunsicherungspädagogik“ wird als Beispiel angeführt, wie man mit rechten Jugendlichen pädagogisch arbeiten kann. Die Arbeit mit Musik steht zwar nicht explizit an erster Stelle, dennoch wird der Musik als Vergewisserung des Selbst bei rechten Jugendlichen eine tragende Rolle zugeschrieben, die analysiert werden muss.

2 Jugend(kulturen) und Musik

In diesem ersten Teil werden die Bereiche ‚Musik‛ und ‚Jugendkulturen‛ in Ver- bindung gebracht und ihre Beziehung genauer betrachtet. Obwohl diese Bezie- hung und ihre Thematisierung keine neue ist, bieten die aktuellen Jugendszenen doch immer wieder neuartige Trends und Verhaltensmuster, die es zu untersuchen gilt.

2.1 ‚Die‛ Jugend und ihre Probleme

Während der Begriff ‚Jugend‛ früher eine Lebensphase beschrieb, die den Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter kennzeichnete und von Ereignissen wie Arbeitsplatzsuche, Familiengründungsplänen und dem Aufbau einer autonomen Existenz bestimmt wurde, gilt die Jugendphase heute als eigenständige Phase des Lebens mit eigenem Wert.

Die Jugendphase ist ein offener Bereich geworden, deren Altersgrenzen nicht eindeutig zu bestimmen sind.

„Im Strafrecht wird zwischen dem noch nicht strafmündigen Kind, dem Jugendlichen (14-17 Jahre) und dem Heranwachsenden (18-20 Jahre) unterschieden. (…) In den Sozialwissenschaften gelten als Voraussetzungen für die Ausbildung von Jugend als sozialem Phänomen u.a. die Freistellung von Arbeit und anderen Verpflichtungen der eigenverantwortlichen Lebenssicherung sowie die Zusammenführung der Heranwachsenden in Gleichaltrigengruppen.“ (Meyer 2006: S.3645)

Hill und Josties (2007) dehnen die Jugendphase in dem Buch „Jugend, Musik und Soziale Arbeit“ auf 13 bis 25-jährige aus (vgl. ebd. S.26).

Für diese Arbeit wird - wenn auch nicht immer explizit erwähnt - ebenfalls diese Altersspanne gelten, da die immer früher einsetzende Pubertät und die durch eine längere Schul- bzw. Ausbildungszeit verlängerte Adoleszenz, eine Ausdehnung der Altersspanne erfordert.

Durch den Geburtenrückgang in den letzten Jahren in Deutschland ‚veraltet‛ unse- re Gesellschaft immer mehr und die Zahl junger Menschen geht zurück. Diese Begebenheit und die Tatsache, dass unsere Gesellschaft stark leistungsorientiert ist, führt zu einer Abwertung älterer Menschen und einer Aufwertung der Lebens- phase Jugend.

‚Jugendlich-Sein‛ wird assoziiert mit Leistungsfähigkeit, Schönheit, Stärke, Le- bensfreude und Erlebnisorientiertheit. Diese durchwegs positiv besetzten Attribute machen Jugendliche zur wichtigsten Zielgruppe der Konsumgesellschaft. Medien, Werbung und Industrie orientieren sich an den Interessen der Jugendlichen. Ju- gendlichkeit ist heute nicht mehr nur eine Zeitspanne des Lebens, sondern ein Lebensgefühl, das man sich aufgrund der positiven Merkmale, die mit ihr verbun- den werden, so lange wie möglich erhalten will (vgl. Ganguin/Niekrenz 2010: S.8f.).

Erdheim (2010) führt in seinem Aufsatz „Adoleszente Intensität der Erfahrungen und Realitätsveränderungen. Ethnopsychoanalytische Überlegungen“ drei zentrale Themen an, die Jugendliche beschäftigen.

Das erste Thema ist die Sexualität, deren zunehmende Kraft einen zentralen An- trieb für Jugendliche darstellt, sich mit Personen außerhalb der Familie zu umge- ben. Sie suchen sich neue Liebesobjekte, mit denen sie neue Erfahrungen sam- meln können.

Das zweite Thema sind die Allmachtsphantasien Jugendlicher. Sie bringen Ju- gendliche dazu, Grenzen zu überschreiten und das Bedürfnis und der Wunsch, „(...) stärker, gescheiter, sportlicher, schöner als die anderen zu sein, lassen dem Individuum keine andere Wahl: Es muss sich in das Getümmel werfen. Es geht (…) um die Lustangst, die die Umsetzung der Größen- und Allmachtsphantasie fördert. Dazu gehört auch der Rausch, der die Größe und Allmacht des Individuums bestätigen soll.“ (Erdheim 2010: S.35f.)

Das Gefühl alles erreichen zu können und der Wunsch nach Anerkennung können allerdings auf der Suche nach intensiven Erfahrungen auch Risiken bergen. Das Streben nach intensiven und rauschartigen Erlebnissen sollte mit einer gewissen Vernunft und Selbstbewusstsein einhergehen, damit man bei riskanten Angeboten auch nein sagen kann. Radikale Gruppierungen, religiöse Sekten und auch Drogendealer machen sich nicht selten das Bedürfnis Jugendlicher nach extremen Erfahrungen zunutze (vgl. ebd. S.35f.).

Das dritte Thema bezieht sich auf den Generationskonflikt zwischen Eltern und Jugendlichen. In der modernen Gesellschaft erwartet man von Jugendlichen, dass sie sich nicht mehr nur an den Erfahrungen der vorherigen Generation orientieren, sondern dass sie eigene, neue Erfahrungen machen. Für beide Seiten bedeutet das einen schweren Ablösungsprozess, der oftmals mit Streitereien einhergeht. Die Interessen und Einstellungen sind zu unterschiedlich, um den jeweils anderen zu verstehen und vielleicht oft, ohne es zu wollen, ist es doch notwendig für Jugendliche, sich von den Eltern abzunabeln und auch ohne deren Einverständnis, die eigenen Ziele zu verfolgen. Dieser Prozess bringt neue Erfahrungen mit sich, von denen Jugendliche ihr ganzes Leben profitieren können.

Aus diesen drei Themen lassen sich zwei Tendenzen herauslesen: Die erste ist die Suche nach Sicherheit, Anerkennung und Geborgenheit. Die zweite, fast bedeutendere Tendenz für die Jugendphase ist die Suche nach neuen Erfahrungen, nach dem Fremden, dem Aufregenden (vgl. ebd. S.35f.).

Baacke (1993) weist in seinem Buch „Jugend und Jugendkulturen. Darstellung und Deutung“ auf Problemstellungen hin, mit denen Jugendliche heute konfron- tiert werden.

Durch die Bildungsexpansion kommt es zu einer Verlängerung der Schul- bzw. Ausbildungszeit, weshalb viele Jugendliche länger bei den Eltern wohnen müssen, da sie selbst noch kein Einkommen haben. Dadurch kann es zu „explosiven Ablösungsprozessen“ (ebd. S.207) kommen, weil durch das Zusammenleben auch Spannungen entstehen können.

Gleichzeitig wird es immer schwieriger, einen geeigneten Beruf zu finden, da man sich durch die vermehrten Wahlmöglichkeiten schwerer entscheiden kann und der Arbeitsmarkt eine gesteigerte Flexibilität erzwingt (vgl. ebd. S.207f.).

Baacke vergleicht die Probleme der heutigen Jugend mit denen der Jugend um 1900. In den literarischen Werken geht es um junge Menschen, die an den inneren und äußeren Unsicherheiten zerbrechen und sich daraufhin das Leben nehmen. Damals stieg der Druck auf Jugendliche aus der Mittelschicht, da die Geburtenrate zurückging und die Schulbildung die wichtigste Grundlage für spätere Chancen wurde. Einhergehend mit erhöhten Chancen auf dem Bildungsweg steigt der Druck auf die Jugendlichen heute, einen sicheren und gut bezahlten Beruf zu er- greifen und gleichzeitig sind sie durch die Liberalisierung mit den Wahlmöglich- keiten überfordert. Es gibt keine standardisierten Lebensläufe mehr, an denen sie sich orientieren müssen, sie sind gezwungen, sich ihren Platz im Leben selbst zu suchen (vgl. ebd. S.206ff).

„Ritualisierte Statusübergänge nehmen immer mehr ab, verlieren immer mehr an Gewicht (z.B. Hochzeit, Heirat). Wesentlicher ist, dass heute die Institutionalisierung der Jugend einen gewissen Höhepunkt erreicht hat. Bildungssystem, Jugendberatung, Freizeitmaßnahmen und Freizeitangebo- te, außerschulische Bildung, Bafög und Sozialhilfe - das gesellschaftliche Netz legt sich über jeden Jugendlichen und verschärft damit die subjekti- ven Erfahrungen seiner Statusprobleme.“ (ebd. S.210; Hervorhebungen im Original)

Lebensereignisse, die damals zu erwarten waren, haben heute nicht mehr densel- ben Stellenwert und müssen in der Biographie eines Jugendlichen nicht mehr er- scheinen. Die Sicherheit eines vorgegebenen Lebenslaufs bricht weg und die Freiheit, sein Leben komplett nach eigenen Vorstellungen gestalten zu können, führt oft zu Überforderung und dem Gefühl, verloren zu sein und keinen Halt zu finden. Gleichzeitig wird man durch Fördermöglichkeiten und Freizeitangebote diverser Institutionen ständig damit konfrontiert, sich positionieren zu müssen (vgl. ebd. S.206ff).

Auch Hitzler und Niederbacher (2010) beschäftigen sich in ihrem Buch „Leben in Szenen. Formen juveniler Vergemeinschaftung“ mit den Herausforderungen für Jugendliche, die durch strukturelle Veränderungen der Gesellschaft entstanden sind.

Die ausgedehnte Schul- bzw. Ausbildungszeit bedeutet für Jugendliche zwar mehr Freiheit, aber um später Chancen auf dem Arbeitsmarkt ergreifen zu können, müssen sie in dieser Zeit trotzdem die Kompetenzen erwerben, die dafür nötig sind. Heute garantiert ein Studienabschluss oder eine Ausbildung allein keinen sicheren und gut bezahlten Arbeitsplatz mehr, weshalb die Anforderungen an Ju- gendliche bezüglich Flexibilität, Mobilität und Eigeninitiative immer höher wer- den.

Durch die zunehmende Individualisierung der Gesellschaft entfallen ‚Normalbio- graphien‛ immer öfter als Vorbild und Jugendliche müssen ihr Leben selbst ge- stalten. Dies erfordert Entscheidungen, die sie aus Unsicherheit immer später tref- fen wollen, weshalb sich die Jugendphase zeitlich ausdehnt. Das Individuum ge- winnt einerseits an Handlungsspielraum, da der Lebensweg nicht wie früher vor- gezeichnet ist und sich die Möglichkeiten vermehren. Andererseits verliert es dadurch auch an Sicherheiten, da eine ungewisse Zukunft diese nicht bieten kann (vgl. ebd. S.11ff).

Die Konsequenzen dieser strukturellen Veränderungen für Jugendliche hängen stark mit der Identitätsbildung Jugendlicher zusammen. Sie müssen aus einer Fül- le von Möglichkeiten wählen, wie ihr Leben aussehen soll, wer sie sein wollen und ihre Prioritäten festlegen. Der Erwartungsdruck ist nicht nur auf Seiten der Eltern groß, sondern auch bei den Jugendlichen selbst. Sie haben oft dank des Lebensstils ihrer Eltern eine erfüllte Kindheit und einen im Vergleich zu anderen relativ hohen Lebensstandard genossen, den sie sich auch erhalten wollen (vgl. ebd. S.11).

Neben dem Problem, woran man sich bei der Wahl des Lebensstils orientieren sollte, bestehen auch Schwierigkeiten in der Erreichung dieses Lebensstils. Ein Studienabschluss garantiert - wie bereits erwähnt - heute nicht zwingend einen sicheren und gut bezahlten Arbeitsplatz. Man hat die Qual der Wahl und dafür zu wenige Vorbilder, an denen man sich orientieren könnte. Einerseits ist die Ent- wicklung weg von vorgezeichneten Lebenswegen hin zu freien Gestaltungsmög- lichkeiten begrüßenswert, andererseits sind viele Jugendliche damit überfordert. Woher soll man in so jungen Jahren auch wissen, wo man mit 30, 40 oder 50 Jah- ren stehen möchte, wenn es eine Million Möglichkeiten gibt, sein Leben zu gestal- ten? (vgl. ebd. S.11ff).

2.2 Die Rolle der Musik im Leben Jugendlicher

Musik ist allgegenwärtig, sie umgibt uns permanent: In Kaufhäusern, an Bahnhöfen, in Restaurants, in Filmen, in Wartezimmern, in Fitnessstudios, in der Werbung, um nur einige Beispiele zu nennen. Musik wird dabei zu bestimmten Zwecken eingesetzt: im Wartezimmer einer Arztpraxis soll die Musik entspannend wirken, während sie in einem Fitnessstudio motivieren soll.

Wenn man im Bus sitzt oder die Straße entlang geht, sieht man kaum noch jemanden ohne Kopfhörer. Besonders Jugendliche scheinen ohne die Ohrstöpsel nicht mehr leben zu können.

Diese Entwicklung ist u.a. den vielen technologischen Neuerungen der Musik- branche zu verdanken, die Musik vor allem durch das Internet leicht und schnell erhältlich und durch I-Pods und Handys mit MP3-Player portabel gemacht haben.

Musik stellt für Jugendliche ein lebensweltübergreifendes Phänomen dar. Jugendliche umgeben sich bewusst und unbewusst permanent mit Musik. Sie suchen in ihr Verständnis für ihre psychischen und emotionalen Konflikte und versuchen durch sie der Realität zu entfliehen, die durch Eltern, Schule oder Ausbildung und anderen äußeren Zwängen und Verpflichtungen repräsentiert wird, die diese Konflikte häufig auslösen (vgl. Baacke 1997: S.14f.).

Lehmann (2011) unterscheidet in seinem Buch „Soziale Einflüsse auf die Musik- Elaboration Jugendlicher“ zwischen zwei Bedeutungsarten von Musik. Die eine bezieht sich auf die Person selbst, weshalb sie „persönliche Bedeutung“ genannt wird. Die andere bezieht sich auf Gruppen bzw. soziale Beziehungen, die eine Person zu anderen hat, weshalb sie „soziale Bedeutung“ genannt wird.

Bei der persönlichen Bedeutung von Musik spielt „der Einsatz von Musik zur Stimmungsregulation“ (ebd. S.38) eine große Rolle. Lehmann führt hier die Mood-Management-Theorie an, die bereits 1988 von Zillmann, einem amerikani- schen Verhaltensforscher, entwickelt wurde. Die Theorie besagt, dass Menschen durch den Einsatz von Musik entweder positive Stimmungen bewahren oder nega- tive umgehen wollen.

Die Musikauswahl geschieht demnach entweder nach dem „ Isoprinzip: Ausdrucksqualitäten und Stimmungen entsprechen sich“ oder nach dem „ Kompensa tionsprinzp: Ausdrucksqualitäten und Stimmung entsprechen sich nicht.“ (ebd. 2011: S.41; Hervorhebungen im Original)

Dies bedeutet, dass mittels Musik Stimmungen evoziert oder unterdrückt bzw. sogar eliminiert werden können. Wenn eine Person bspw. traurig ist, wählt sie ein Musikstück aus, mit dem sie eine fröhliche Erinnerung verbindet und verspricht sich von dem Anhören der Musik wieder in diese fröhliche Stimmung versetzt zu werden (vgl. ebd. S.38ff).

Der Fehler in dieser Theorie liegt in der Folgerung, dass man sich, um traurige Stimmungen zu umgehen, nur heitere Musik aussuchen würde, um sie in eine fröhliche umzukehren, da man davon ausgeht, dass jeder Mensch glücklich sein möchte. Das ist in der Realität aber nicht immer der Fall: Manchmal möchte man die traurige Stimmung nicht sofort loswerden, sondern die Intensität des traurigen Gefühls durch die Musik noch verstärken.

Die Theorie müsste demnach um die Hypothese ergänzt werden, dass, wenn man sich mit der aktuellen Stimmung - auch wenn es eine traurige Stimmung ist - wohl fühlt, Musik auch nach dem Isoprinzip auswählen kann (vgl. ebd. 2011: S.39ff).

Immer zu bedenken ist hierbei, dass die Bedeutungen, die Musik zugeschrieben werden, aus dem subjektiven Empfinden einer Person entstehen und diese niemals verallgemeinernd benutzt werden können. Was für den/die Eine/n Musik zum Entspannen ist, kann für den/die Andere/n Musik sein, die Aggression hervorruft.

Die BesucherInnen einer Techno-Party bspw. empfinden den starken Bass und die elektronischen Rhythmen als positiv und können durch ihre Vorliebe für diese Musik ein intensives Hochgefühl erleben, während diese Musik für andere beina- he eine Lärmbelästigung darstellt oder sie von der Monotonie der Töne gelang- weilt sind.

Die sozialen Bedeutungen von Musik liegen für Lehmann im Austausch über Mu- sik mit anderen und in der Beschäftigung mit Musik, z.B. im aktiven Musizieren als Band. Der Ausbildung eines eigenen Musikgeschmacks kommt bei Lehmann eine besondere Rolle zu. In einer Studie von Rentfrow und Gosling von 2006 ent- puppt sich der Musikgeschmack als wichtigster Indikator für die Beurteilung einer Person. Die jugendlichen Probanden dieser Studie ordneten Personen anhand ihrer Musikpräferenzen in soziale Kategorien ein und sprachen ihnen damit bestimmte Einstellungen und Verhaltensweisen zu.

Dies zeigt, dass Musik und Musikpräferenz dazu genutzt werden, sich in einem sozialen Kontext zu positionieren, diesen auch bewusst zur Schau zu stellen und dass sie auch als Maßstab zur Einschätzung anderer verwendet werden (vgl. Leh- mann 2011: S.46ff).

„(...) Die Identifikation von musikalischen Stilkategorien, das kompetente Verfügen über musikalische Symbolsysteme interpretieren wir als Distink- tion, als Prozess, in dem das Individuum kundtut, als wer es von den ande- ren angesehen werden möchte und in welche kulturelle Schublade es auf keinen Fall gesteckt werden möchte.“ (Müller 1999: S.119 zit. nach Mül- ler-Bachmann 2002: S.196)

Indem man sich mit anderen über Musik austauscht oder in einer Gruppe Musik hört, bilden sich Musikpräferenzen aus und diese wiederum beeinflussen die Selbst- und Fremdwahrnehmung.

Da Musikstilen bestimmte Merkmale wie z.B. Kleidungsstil oder Sprech- und Verhaltensweisen zugeordnet werden, beginnen Jugendliche mit der Ausbildung einer Musikpräferenz, sich diese Merkmale zu eigen zu machen. Diesem Bild, das sie durch die Musik vermittelt bekommen, versuchen sie sich anzunähern. Musik unterstützt die Ausbildung des Selbst- und Fremdbildes von Jugendlichen und durch sie können diese auch explizit gemacht werden.

Musik bietet im Rahmen sozialer Beziehungen eine Orientierungsmöglichkeit. Durch sie kann man mit anderen in Verbindung treten oder sich von anderen abgrenzen. Jugendliche präferieren häufig einen Musikstil, der mit dem der Eltern in keinster Weise zu vergleichen ist, deshalb verschafft dieser ihnen die Möglichkeit, eine eigene, von den Eltern abgegrenzte Identität auszubilden.

Abgesehen davon, eine eigenständige Persönlichkeit zu entwickeln, ist das Be- dürfnis sich mit Gleichgesinnten zu umgeben bei Jugendlichen sehr ausgeprägt. Ein gemeinsamer Konzertbesuch oder das Musikmachen in einer Band können als wichtige soziale Funktionen von Musik gesehen werden (vgl. Müller-Bachmann 2002: S.195ff.).

Müller-Bachmann, Münch und Bommersheim (2002) stellen in dem Aufsatz „Ju- gendliches Musikverhalten: Musikinvolvement, Nutzungsmotive und Musikpräfe- renzen“ aus dem Buch „Jugendsozialisation und Medien“ die Zusammenhänge zwischen den von Havighurst in den 70er Jahren entworfenen, möglichen Ent- wicklungsaufgaben Jugendlicher und der Rolle der Musik in einer Tabelle dar. Nachfolgend werden die Zusammenhänge näher erläutert und interpretiert.

1. Enge Freundschaftsbeziehungen / soziale Bindungsfähigkeit Gemeinsame Begeisterung für und intensi- ve Auseinandersetzung mit einem musika- lischen Bereich (z.B. Engagement in einem Fanclub; Mitglied in einer Fußballfan- Clique)
2. Frühe Selbständigkeit / Entwicklung eines eigenen Musikge- Autonomie schmacks in Abgrenzung gegenüber dem Elternhaus
3. Berufsvorbereitung Der Umgang mit Musik als Berufsziel (Musiker, Musikjournalist, Musiklehrer usw.); Erwerb von englischen Sprachkenntnissen
4. Politische Orientierung Gewinnung politischen Wissens durch Songtexte, Interpreten usw.; politische Positionierung mit Hilfe von Musik (z.B. Begeisterung für Punk-Musik)
5. Zukunftsorientierung / Mitglieder musikbezogener Jugendkultu- Leben als Erwachsene ren oder Interpreten als Vorbilder in Er- wachsenenrollen
6. Identitätsentwicklung / Lebenssti- Mitglieder musikbezogener Jugendkultu- lorientierung ren oder Interpreten als Vorbilder in Er- wachsenenrollen
7. Reife / Autonomieentwicklung Hinwendung zu 'ernster' Musik und eige- nem Musikgeschmack (auch wenn dieser nicht von vielen anderen Jugendlichen geteilt wird)
8. Peer-Group Integration Adaption der Musikpräferenzen des er- hofften Freundeskreises; gemeinsames Musizieren
9. Physische Reifung Extensive Körpererfahrungen durch Be- wegung zu Musik
10. Sexuelle Beziehungen Erste Erfahrungen durch parasozialen Kontakt; Verliebtsein in Musikinterpreten (ebd. S.169)

Zu 1.: Diese musikalische Umgangsweise bezieht sich auf eine soziale Bedeutung von Musik. Durch aktives Musizieren mit anderen oder die Kommunikation über Musik können Freundschaften entstehen bzw. vertieft werden, da eine gemeinsame Leidenschaft ein guter Grund ist, Zeit miteinander verbringen zu wollen.

Zu 2.: Das Bedürfnis sich von den Eltern abgrenzen zu wollen, zielt auf einen innerpsychischen Prozess ab und damit auf eine persönliche Bedeutung von Musik. Jugendliche suchen sich neue Vorbilder und unternehmen mehr außerhalb des Elternhauses. Musik bietet dabei eine Orientierungsmöglichkeit, die Jugendliche bei der Ausbildung einer eigenständigen Persönlichkeit unterstützen kann.

Zu 3. und 4.: Diese Entwicklungsaufgaben beziehen sich auf den gesellschaftli- chen Kontext, in dem Jugendliche sich positionieren müssen. Durch die Beschäftigung mit Musik können sich Berufswünsche ergeben, die im musikalischen Bereich liegen. Und durch den Ein- fluss von politischen Songtexten können sich Einstellungen und Meinungen herausbilden, die Jugendliche in der Gesellschaft zu vertreten lernen.

Zu 5. und 6.: Gemäß ihrer Musikpräferenzen schließen sich Jugendliche häufig bestimmten Jugendkulturen oder - wie sie nachfolgend genannt werden -‚Szenen‛ an, innerhalb derer sie eine soziale Identität ent- wickeln. Szenen einhalten bestimmte Einstellungen, Verhaltens- weisen und Lebensstile, die sich Jugendliche aneignen und die sie nach außen hin bewusst zeigen. Selbst- und Fremdbild spielen hierbei eine wichtige Rolle. Mit der Integration in eine dieser Sze- nen und der Ausbildung bestimmter Einstellungen, können Zu- kunftsvorstellungen einhergehen, an denen sich Jugendliche orien- tieren.

Zu 7.: Diese Entwicklungsaufgabe bezieht sich wieder auf einen in- nerpsychischen Prozess, der Jugendliche dazu bringen kann, sich bewusst von anderen abzugrenzen zugunsten ihrer eigenen Vorstel- lungen vom Leben. Die Rolle der Szene, in der sich Jugendliche bewegen, kann in dieser Phase an Bedeutung verlieren, weil sich durch die Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit heraus- kristallisiert, dass sich die in der Szene gelebten Ideale nicht immer mit den eigenen decken. Die Musik kann diesen Prozess beschleu- nigen und auch erleichtern, weil sie unabhängig von Szenen gehört und bedeutsam werden kann.

Zu 8.: Die Integration in einen Freundeskreis geschieht bei Jugendlichen häufig über das gemeinsame Interesse an Musik und ähnliche Musikpräferenzen. (siehe Zu 1.)

Zu 9. und 10.: Die körperliche Reifung geht dem Wunsch nach sexuellen Bezie- hungen voraus. Musik begleitet Jugendliche bei sexuellen Hand- lungen als Hintergrundmusik oder auch beim engen Tanzen auf Partys. Dabei wird die Musik bewusst ausgewählt. Romantische, zärtliche Musik z.B. eignet sich besser für einen Abend zu Hause mit der/dem Angebeteten, als lauter Heavy Metal. Dieser wäre pas- send, um sich auf einer Party komplett körperlich zu verausgaben, was ebenfalls ein fast rauschartiges Erlebnis sein kann.

Barber-Kersovan (2007) rückt in dem Buch „Jugendkulturen. 6. Heidelberger Dienstagsseminar.“ von Henecka, Janalik und Schmidt das Tanzen als zentrales Element der Musik in den Vordergrund.

Rhythmus und Wiederholung in der Musik münden meistens auf Konzerten oder Musikveranstaltungen wie bspw. ‚Raves‛, so werden Tanzveranstaltungen in der Techno-Szene mit Techno-Musik genannt, in Bewegung in Form von Tanz.

In einer Untersuchung von Hafen (1993) werden die Empfindungen dabei mit positiv besetzten Begriffen wie „high sein“, „ausflippen“ und „Fröhlichkeit“ und „Lebensfreude“ (ebd. S.57) ausgedrückt. Es geht um Körperlichkeit, die durch die Musik, den Bass, die Vibration und vor allem die Lautstärke als stark intensiviert empfunden wird und Intimität und sexuelle Erregung hervorrufen kann. Durch das Berühren und ‚Spielen‛ mit dem eigenen und anderen Körpern fühlt man sich den anderen verbunden, man spürt Nähe und Geborgenheit.

Vor allem aber geht es darum, die Musik zu spüren, dass sie mit dem eigenen Körper etwas macht, ihn zum Tanzen bringt, ihn bewegt und das sinnliche Musikerlebnis somit vervollständigt (vgl. ebd. S.196f.).

Dieser Befund spricht für das hedonistische Bestreben, das der Beschäftigung mit Musik zugrunde liegt. Es geht nicht nur darum, durch Musik negative Gefühle zu kompensieren oder bestimmte Einstellungen auszudrücken, sondern auch um das sinnliche Erlebnis, um den Spaß an der Musik.

Das Körpergefühl steht hierbei im Mittelpunkt. Das Bedürfnis, sich zu bewegen und dabei anderen nahe zu sein und sich völlig zu verausgaben, kann eine Befreiung des Körpers bedeuten.

Zur Zeit des Nationalsozialismus stellte der ‚Swing‛ einen Widerstand gegen die bestehenden Verhältnisse dar, auch wenn der Tanzstil selbst keine politischen Intentionen verkörperte. Das bewusste Ausleben von Körperlichkeit durch den Swing, wurde von den Nationalsozialisten aber als Provokation gesehen und als Gefahr für die streng kontrollierte, angepasste Gesellschaft.

So kann aus der eigentlichen Intention, an der Musik Spaß zu haben und Freude am Tanzen zu empfinden, eine politische Aktion werden, wenn das öffentliche Ausleben dieser Bestrebungen gegen gesellschaftliche Normen verstoßen (vgl. Barber-Kersovan 2007: S.62ff).

„Die(se) unmittelbare Umsetzung des Rhythmus in die Bewegung ist damit zu begründen, dass akustische Reize ab einer bestimmten Lautstärke bereits durch einen auf dem Rückenmarksniveau ablaufenden Reflexionsvorgang motorische Reaktionen hervorrufen.“ (ebd. S.60)

Dies würde bedeuten, dass Rhythmus und seine Wiederholung in der Musik au- tomatisch in Bewegung münden. Der Körper geht fast von allein mit der Musik mit.

Als Beispiel für dieses Phänomen können die Rituale afrikanischer Kulturen ge- nannt werden, die mittels monotonen Trommelns, rhythmischen Bewegungen dazu und Atemkontrolle Menschen in Trancezustände versetzen können. Musik- wahrnehmung geschieht allerdings auf höchst subjektive Weise, d.h., dass sich durch die Vorliebe bzw. Ablehnung einer Musikrichtung dieses Phänomen ver- stärkt bzw. gar nicht erst hervorgerufen werden kann (vgl. Hill/Josties 2007: S.18f.).

2.3 Jugendkulturen und Szenen

Ebenso wie man schwer über ‚die Jugend‛ sprechen kann, als bestünde sie aus einer homogenen Gruppe Gleichaltriger, der man bestimmte Verhaltensweisen und äußere Merkmale zuschreiben kann, lässt sich auch kaum ein einheitliches Bild von ‚den‛ Jugendkulturen zeichnen. Denn „(...) beobachtbar ist vielmehr ein Potpourri, d.h. eine große Vielfalt, Pluralität und Individualisierung von jugendli- chen Ausdrucks- und Stilformen. Diese Feststellung sollte der Ausgangspunkt jeder Beschäftigung mit dem Thema ‚Jugend‛ sein.“ (Ganguin/Niekrenz 2010: S.8; Hervorhebung im Original)

Die Begriffe ‚Jugend‛ und ‚Jugendkulturen‛ werden in dieser Arbeit oft verschmelzend miteinander verwendet, da Jugendkulturen von Jugendlichen erschaffen und definiert werden. Die Jugendlichen verteilen sich auf die Jugendkulturen, schließen sich je nach Einstellung und Vorlieben einer bestimmten Jugendkultur an. Und ebenso vielfältig und eigen wie Jugendliche sind, so vielfältig und verschieden sind die durch sie entstandenen Jugendkulturen.

Unter Jugendkulturen versteht man heute hauptsächlich die ‚Szenen‛, in denen Jugendliche sich bewegen.

2.3.1 Der Begriff ‚Szene‛

„‚Sinn‛ - und zwar im Überfluss - finden Jugendliche heutzutage in ‚ihren‛, ge- genüber anderen Lebensbereichen relativ autonomen freizeitlichen Sozialräumen. Und sie finden ihn hier - sozusagen jederzeit ‚frisch verpackt‛ - in der ästheti- schen Gewandung der je (warum auch immer) ‚angesagten‛, posttraditionalen Gemeinschaft.“ (Hitzler/Niederbacher 2010: S.15; Hervorhebungen im Original)

Eine Szene bezeichnet eine soziale Gemeinschaft, die aus einer unbestimmten Anzahl von Einzelpersonen oder Personengruppen besteht.

Szenen sind im Unterschied zu ‚peer-groups‛ nicht lokal begrenzt und meist ken- nen sich auch nicht alle Mitglieder einer Szene persönlich. Eine Szene kann einen bestimmten Rahmen bieten, in dem man sich bewegt, weil man bspw. die Musik hört, die in dieser Szene verbreitet ist, oder weil man sich so anzieht und stylt, wie es für diese Szene typisch ist, aber man ist dennoch ein autonomes Individuum. Man kann die Szene ebenso leicht verlassen wie man ihr beigetreten ist, weil es kein enger Freundeskreis ist, der sie bildet, sondern es können Menschen auf der ganzen Welt sein, die sich größtenteils nicht kennen. Es sind nicht die Freund- schaften, die eine Szene am Leben erhalten, sondern ihr „issue“ bzw. ihr „The- ma“ (ebd. S.16). „Dieses ‚issue‛ kann z.B. ein bestimmter Musikstil sein, eine Sportart, eine politische Idee, eine bestimmte Weltanschauung, spezielle Kon- sumgegenstände (Autos, Filme etc.) oder auch ein Konsum-Stil-Paket (die ‚ange- sagten‛ Dinge).“ (ebd. S.16f.; Hervorhebungen im Original)

Jugendliche umgeben sich bevorzugt mit Menschen, die die gleichen Einstellungen zum Leben und dieselbe Leidenschaft für etwas teilen (vgl. ebd. 15ff).

Eine Szene ist nur dann ‚lebensfähig‛, wenn sie von den Mitgliedern immer wieder als solche konstituiert wird. Das bedeutet, dass die Mitglieder sich dem ‚Thema‛ der Szene entsprechend widmen und dies nach außen hin auch zeigen, denn eine Szene muss auch von außen als solche wahrgenommen werden, sonst geht sie in der Masse unter und gilt nicht als mit bestimmten Merkmalen ausgestattete, von anderen abzugrenzende Szene.

Deshalb sind Szenen auch sehr unbeständige Gebilde, weil sie vom Tun und Den- ken der Mitglieder abhängig sind. Die gemeinsame Idee muss von ihren Mitglie- der fortlaufend aufrechterhalten werden, da die Szene sonst Gefahr läuft, sich auf- zulösen.

Die Szene existiert folglich durch die Kommunikation und Interaktion der Mitglieder untereinander. Indem sie sich über die Themen der Szene austauschen und sich mit den der Szene entsprechenden Attributen, seien es bestimmte Kleidung, Tattoos, Piercings oder Verhaltensweisen, auszeichnen, bilden sie den Inhalt der Szene und garantieren damit ihre Existenz (vgl. ebd. S.16f.).

Szenen bestehen aus verschiedenen Gruppierungen, deren Mitglieder sich kennen und die sich sowohl ihrer ‚peer-group‛, als auch einer bestimmten Szene zugehörig fühlen. Aus den Verbindungen zwischen den Gruppierungen ergibt sich eine Szene. Die Gruppierungen einer Szene erkennen sich an für die Szene typischen Zeichen oder Verhaltensweisen.

Während man als eingefleischter Punk der 80er Jahre seine Einstellungen in je- dem Lebensbereich vertreten und sein äußerliches Erscheinungsbild für nichts und niemanden verändert hat, kann man einer Szene heute auch nur ‚teilweise‛ zuge- hörig sein. Am Arbeitsplatz bspw. zeigt man seine Tattoos nicht und man hört auch nicht mit wildem ‚head-banging‛ seine Lieblings-Hardrock-Band in der Mit- tagspause.

Wenn man den Bereich der Arbeit verlässt, kann man dagegen auf einem Szene- Event seiner Leidenschaft voll und ganz frönen und sich unter all den anderen Szenemitgliedern wohl und total ‚normal‛ fühlen (vgl. ebd. S.16ff). Da Szenen keine klaren Grenzen haben, gibt es zwischen einzelnen Szenen Über- schneidungen. Ihre Mitglieder tragen bspw. dieselbe Kleidung oder hören ähnli- che Musik. Weil sich viele Jugendliche deshalb nicht nur mit einer Szene allein identifizieren können, betreiben sie das sog. „Szenen-Hopping“ (ebd. S.26). Sie fühlen sich mehreren Szenen zugehörig und nehmen, abhängig von Angebot und Laune, an Events mehrerer verschiedener Szenen teil (vgl. ebd. S.25f.).

Events spielen in Szenen eine wichtige Rolle. Sie werden meist von den Mitgliedern einer Szene organisiert, durch die zunehmende Vermarktung szenetypischer Themen wie Musik- und Kleidungsstilen, engagieren sich auch ‚externe‛ Personen bei den Events. Für sie beinhalten diese Events die Möglichkeit, Geld zu verdienen oder berufliche Chancen im Bereich Gastronomie, Eventmanagement oder Tontechnik zu nutzen (vgl. ebd. S.22).

Musikfestivals gehören dabei zu den verbreitetsten Events. In Deutschland finden jährlich unzählige Musikfestivals statt, die jedes Jahr wachsende Besucherzahlen verzeichnen.

Für die Veranstalter solcher Festivals kann die Musik dazu dienen, wirtschaftlichen Profit zu erzielen und den Besuchern ein unvergessliches Erlebnis zu bereiten, während die Festivals für die Besucher Spaß, Party, die Nähe zu Gleichgesinnten und eine Auszeit vom Alltag bedeuten. Die gemeinsame Leidenschaft für die Musik und das Bedürfnis den anderen Szenegängern nahe zu sein, stärkt das Wir-Gefühl und verbindet die Festivalgemeinschaft zumindest für die Dauer des Festivals. Die Musik hat hier einen beziehungsstiftenden Charakter und sorgt für eine energiegeladene Atmosphäre, die die Besucher als besonders intensiv empfinden, da sie sie mit so vielen Gleichgesinnten teilen.

Das Besondere für die Mitglieder an Szenen ist ihre, wenn auch nicht öffentlich propagierte Exklusivität. „Denn woran alle mehr oder weniger partizipieren können, das verliert eben seine punktuelle und individuelle Besonderheit. Es gilt dann, wiederum mehr oder weniger radikal: Wo jeder ist, ist keiner mehr ‚zu Hause‛.“ (ebd. S.25; Hervorhebung im Original)

Diese Folge entsteht aus dem Bedürfnis Jugendlicher, sich abgrenzen zu wollen und anders bzw. besonders sein zu wollen. Sobald alle sich so anziehen oder alle diese Musik hören, ist es nichts Besonderes mehr und es verliert an Wert. Deshalb sind spezielle Merkmale wie äußerliche Attribute für eine Szene sehr wichtig, weil sie sich damit von den anderen, den ‚Normalen‛ abgrenzen kann. Dies muss auch nach außen hin sichtbar sein, um sie als eine bestimmte Szene identifizieren zu können (vgl. ebd. S.25f.).

Szenen erfüllen für Jugendliche demnach verschiedene Zwe>um eine eigenständige Persönlichkeit auszubilden. Durch den Austausch mit anderen Szenemitgliedern können sie neue Freundschaften aufbauen und in ihrem selbstgewählten sozialen Umfeld ihren Interessen nachgehen.

Im Folgenden werden die Szenen des Techno, HipHop und Independent, kurz Indie, genauer beleuchtet. Zum einen, weil sie in Deutschland weit verbreitet sind und zum anderen, weil sie sehr spezifische Merkmale aufweisen, die sich deutlich voneinander abgrenzen lassen.

Neben diesen drei sehr populären Musikszenen gibt es eine Vielzahl weiterer, ebenfalls bekannter Szenen, von denen einige kurz genannt werden sollen.

Die Metal-Szene ist bekannt für ihre laute und teils aggressive Musik, die sowohl die Bands auf der Bühne, als auch das Publikum mit Springen und ‚headbangen‛ begleiten. Die Szene wird häufig mit Vorwürfen des Drogenkonsums, der Aggres- sivität und der Frauenfeindlichkeit konfrontiert. Die überwiegend männliche An- hängerschaft kleidet sich meist schwarz und trägt häufig langes Haar. Auch Täto- wierungen und Accessoires aus Leder mit Nieten gehören zu den äußeren Merk- malen.

Die Metal-Szene ist heute sehr vielfältig: Es gibt Death Metal, White Metal und Black Metal, wobei sich Black Metal vorwiegend durch satanische und White Metal vorwiegend durch religiöse Texte auszeichnet (vgl. Nolteernsting 1998: S.284f.).

[...]

Ende der Leseprobe aus 107 Seiten

Details

Titel
Die Macht der Musik und ihre Instrumentalisierung im Rahmen sozialer Arbeit mit Jugendlichen
Hochschule
Leopold-Franzens-Universität Innsbruck  (Erziehungswissenschaften)
Note
2,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
107
Katalognummer
V205830
ISBN (eBook)
9783656333685
ISBN (Buch)
9783656334828
Dateigröße
773 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
macht, musik, instrumentalisierung, rahmen, arbeit, jugendlichen
Arbeit zitieren
Sabrina Zehentmair (Autor:in), 2012, Die Macht der Musik und ihre Instrumentalisierung im Rahmen sozialer Arbeit mit Jugendlichen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/205830

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