Leseprobe
Gliederung
1. Kants Weg zwischen empirischer moral-sense-Theorie und ethischem Intellektualismus-Ausgangslagen
1.1 Systematische Stellung der Achtung
1.1.1 Die drei Sätze zur Pflicht- in welchem taucht die Achtung zunächst auf?
1.1.2 Sind Handlungen aus Pflicht und Handlungen aus Achtung dasselbe?
1.2 Affektives Wesen und Objekt der Achtung
1.2.1 Akutes Gefühl oder Disposition?
1.2.2 Selbstbezüglichkeit des Moralprinzip
1.3 Funktionen der Achtung
1.3.1 Die konstitutive Lücke zwischen moralischer Einsicht und moralischem Handeln - der Wille
1.3.2 Die Achtung als principium executionis
2. Kritik und Apologie zur Realisierbarkeit: Gegenentwürfe
3. Literaturverzeichnis
1. Kants Weg zwischen empirischer moral-sense-Theorie und ethischem Intellektualismus-Ausgangslagen
Wie fest auch immer die Werke Immanuel Kants im Lehrplan fast aller philosophischen Fakultäten der Welt verankert sein mögen- der Achtungsbegriff hat neben Begeisterung und vielfältiger Interpretationen auch vehemente Kritik, ja Ablehnung erfahren müssen. Es erscheint beinahe skurril, dass ein einzelnes Motiv wie das der Achtung, zu dem Kant in seiner 1785 erschienenen „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ kaum mehr als die groben Konturen liefert, zu solch widersprüchlichen Rezensionen geführt hat; aber es ist wohl gerade diese Knappheit der Kantischen Formulierungen –wenn auch in der typischen messerscharfen Präzession-, die die Jahrhunderte währenden kontrovers geführten Diskurse bedingt. Fest steht jedenfalls, dass der Achtung in seiner Ethik eine Schlüsselrolle zukommt, denn „[…] sollte der Kantische Begriff der Achtung als Triebfeder moralischer Handlungen nicht hinreichend bestimmt sein, so bliebe auch der Begriff der Moralität ungeklärt […]“[1]. Und somit ist es nicht abwegig, das bekannte Bild vom gefügten Turm herbei zu zitieren- zieht man ein Steinchen heraus, weil es zum sonstigen Bau inkohärent steht, fällt das Gebäude wohl als Ganzes, verliert im mindesten einiges an Stabilität. Doch es steht nicht schlecht um die Rettung bzw. Plausibilisierung der Achtung, denn dem Ruf des Ethiklehrers aus Königsberg folgt noch heute eine reiche und kompetente Schar an Apologeten, die sich die Lösung dieses hochkomplexen Themas auf die Fahne geschrieben haben. In dieser Arbeit soll der Versuch unternommen werden, den Argumentationen eines Teils von Ihnen- allein die Fülle zwingt zur Selektion- kritisch prüfend nachzugehen. Lässt sich die fast einschlägige Titulierung von Kants Ethik als einer reinen Pflichtenethik ohne emotionale Affirmation halten?
Zunächst lohnt ein Blick auf die Ausgangslage, wie sie sich im Jahr 1785 all jenen Genies bietet, die auf die Verfertigung eines Moralkonzepts zielen. Wie wird der Mensch zu Handlungen, die zunächst einmal nur sein Intellekt als richtig anerkennt, dann tatsächlich motiviert? In der Gemengelage der polyglotten und vitalen Aufklärungszeit dominieren die Stimmen zweier Auffassungen, die jeweils prominente Befürworter auf ihrer Seite wissen: zum einen behaupten die Vertreter der rationalistischen Theorie eine Art Motivations-Evidenz- dort, wo der Verstand in rationale Gründe einsieht, folgt die Motivation quasi von selbst. Dieser empirisch kaum nachvollziehbare Anspruch hat ihnen prompt den „[…] Vorwurf eines moralphilosophischen Intellektualismus […]“[2] eingebracht. Als Ahnherr dieser elitären Richtung gilt Sokrates, doch die ihn rezipierenden Eklektiker sind im endenden 18. Jahrhundert auch in Deutschland zahlreich. Auf der anderen Seite des Kanals hingegen betonen britische Philosophen der empiristischen Tradition –wie David Hume oder Adam Smith- das motivierende Primat der Gefühle, da nach ihrem Verständnis die „[…] Begründung des Guten und die Motivation, das Gute zu tun, zwei verschiedene Bereiche sind.“[3] Und nur dasjenige, was über die Einsicht hinaus auch gewollt wird, also über eine affektive Besetzung verfügt, wird in die Tat umgesetzt. Zwar scheint diese intentionale Strömung dem Alltagsverstand näher zu sein, allerdings wird hieran gerade die Ferne zu aller Moral geschmäht. Denn wer kann schon von der Existenz unserer Neigungen auf deren Legalität, geschweige denn Moralität schließen?
Kants kreativer Ausweg aus den zwei Sackgassen moralischer Motivation besteht in der Verknüpfung beider Momente. Indem er in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ beide Strömungen zu einen versucht, meint er, den Durchbruch zur moralrelevanten Motivation, und damit auch den Durchbruch des zugrunde liegenden Prinzips erreicht zu haben. Im Folgenden wird dies zu prüfen sein.
1.1 Systematische Stellung der Achtung
Obwohl Kant in mehr als nur einer Schrift auf die Achtung Bezug nimmt[4] - am berühmtesten sicher in der hier behandelten Grundlegung sowie im Triebfederkapitel der „Kritik der praktischen Vernunft“ von 1788- soll der Hauptschwerpunkt auf seiner ersten Ausformulierung der Ethik liegen. Dadurch wird nicht nur die systematische Entwicklung vor störender Kontextverschiebung bewahrt, sondern auch die Überspannung des Hausarbeits- Bogens verhindert. Nur punktuell lässt sich in umstrittenen Fragen ein schielender Seitenblick auf das Gesamtwerk nicht verhindern, um gegebenenfalls ausweglose Stellen durch fremden Beistand und Alternativen zu überwinden.
Nachdem Kant in der Vorrede der GMS die Ethik in das System der Philosophie eingeordnet und ihre Freiheit von jeder Spekulation postuliert hat, erfolgt im Ersten Abschnitt die Herleitung des zu suchenden Moralprinzips. Im Spannungsgefüge der drei Sätze zur Pflicht taucht die Achtung erstmals auf und wird expliziert.
1.1.1 Die drei Sätze zur Pflicht- in welchem taucht die Achtung zunächst auf?
Die Schwierigkeit einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Trias der Pflichtsätze liegt schon allein darin, dass Kant nur zwei von ihnen ausformuliert hat. Der erste –unausgeschriebene- kann nur auf hermeneutischem Weg konstruiert werden und ist bisweilen über das beste Gewissen hinaus nach den Vorstellungen der einzelnen Interpreten gebildet worden. Weshalb Kant den ersten Pflichtsatz nicht ausdrücklich zu Papier gebracht hat, bleibt indes im Dunkel der Geschichte. Die Spekulationen reichen von Schludrigkeit über eine mittlerweile verlorengegangene erste Fassung, die ihn noch enthalten könnte, bis zu der interessanten Behauptung, Kant habe hier keinerlei Interpretationsschwierigkeiten gesehen, es sei für ihn ohnehin vollständig offenkundig gewesen, was er denn meine. Zumindest letztere These darf als geschichtlich überholt gelten. Traute Einigkeit im Verständnis herrscht jedenfalls nicht.
Der zu untersuchende Begriff der Pflicht vereinigt nach Kant alle moralischen Forderungen auf sich, denn in ihm ist der Juwel des guten Willens enthalten, wie er mit selten lyrischem Impetus schreibt. Nachdem er nach den offensichtlich pflichtwidrigen auch den bloß pflichtgemäßen Handlungen die Integrität abgesprochen hat- da in ihnen ein Rest an Neigung nicht ausgeschlossen werden kann- bestimmt er den einzig verbliebenen Garanten für moralisches Handeln: eben Handeln aus Pflicht, in dem keine ordinäre Neigung mehr das Zepter führt. Doch in welcher Beziehung steht die Pflicht zur Achtung? Folgt man dem Primärtext, so wird man erst im dritten Pflichtsatz fündig; hier heißt es, „Pflicht [sei] die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz.“[5] Da es sich hierbei um eine Folgerung aus zwei Grundsätzen handeln soll, der zweite Satz überdies auf die objektive Seite des Moralprinzips rekurriert, will ein Teil der Forschungsliteraten eine subjektive Füllung des ersten Pflichtsatzes vornehmen. Der zwingende Grund für ein subjektives Bestimmungsmoment der menschlichen Handlungen besteht in der von Kant erkannten „[…] konstitutiven Lücke zwischen moralischer Einsicht und moralischem Handeln […][6], die sich zwischen dem rational Erkannten und dem Ausführen auftut. Somit wird auch der einleitend erwähnte Kompromiss Kants verständlich: als Verstandes- und Sinneswesen ist der Mensch auf eine emotionale Komponente angewiesen, will er als Moralprinzip nicht die permanente Nötigung durch die Vernunft erdulden. Schönecker und Wood machen diese in ihrem ersten Kant-Pflichtsatz als „Handeln aus Pflicht als Handeln aus Achtung“[7] aus, womit der Doppelnatur des Menschen Rechnung getragen werden soll.
Diese Interpretation des ersten Pflichtsatzes wirft aber ein gravierendes systematisches Problem auf: numerisch betrachtet kommt ein erster Punkt selbstverständlich stets vor dem zweiten. Der zweite Satz behandelt aber gerade die objektive Seite der Pflichtbestimmung, das apriorische „[…] Prinzip des Wollens […]“[8], das im weiteren Verlauf der Abhandlung noch näher bestimmt wird als kategorischer Imperativ. Bezöge sich die Achtung nun tatsächlich- wie von Schönecker und Wood vorgeschlagen- auf die noch unbestimmte Pflicht (da diese erst im zweiten Satz eine Definition erhält), wäre der viel zitierte Kantische Formalismus in der Tat hier ein Schattenspiel ohne Volumen und Dichte. Die Achtung als Gefühl[9] bedarf eo ipso eine materielle oder immaterielle Quelle, auf die sie sich zurückführen lässt. Das Fehlen einer Relationsgröße im ersten Satz würde zwar noch keine vernichtende Unlogik nach sich ziehen, da diese kurz darauf „nachgeschoben“ würde. Es darf aber als unwahrscheinlich gelten, dass sich Kant schon in diesen - für seine Verhältnisse- Fingerübungen eklatante Stringenz-Schwachstellen leistet.
Vorzuziehen sind daher Vorschläge für den ersten Pflichtsatz, die den guten Wille n, als dasjenige „[…] was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden […][10], mit in ihre Hypothese aufnehmen und ihm die Pflicht zur Seite stellen. Etwa: Eine Handlung ist nur dann moralisch gut, wenn sie aus Pflicht geschieht. Hierin wird die apodiktisch behauptete Güte des Willens, die Kant als ersten Satz praktisch unübersehbar platziert, an den weiteren Verlauf der Abhandlung gekoppelt, wodurch alle Konstituenten aufeinander folgen würden. Entscheidet man sich für diesen Weg- und dafür gibt es wohl ausreichend Gründe- dann führt Kant den Achtungsbegriff nicht nur ausdrücklich, sondern auch logisch erst im dritten Pflichtsatz ein. Im Übrigen gibt es keine schlagenden Gegenargumente für diese These, da in einem Satz schließlich ebenso zwei Punkte synthetisiert werden können. An der Zweiteilung in subjektiven und objektiven Bestimmungsgrund ändert dieser Umstand schließlich nichts. Dass an der Lokalisierung des erstmaligen Auftauchen von Achtung und Pflicht aber eine viel heiklere Differenzierung dranhängt, und die unterschiedlichen systematischen Verortungen sozusagen ein Vorgeplänkel darstellen, soll nun nachgewiesen werden.
[...]
[1] Klemme, Heiner; Kühn, Manfred; Schönecker, Dieter (Hrsg.): Moralische Motivation: Kant und die Alternativen. 1. Auflage. Hamburg: Felix Meiner Verlag 2006 (=Kant- Forschungen; Bd. 16). (S. 201)
[2] Demmerling, Christoph; Landweer, Hilge: Philosophie der Gefühle: Von Achtung bis Zorn. 1. Auflage. Stuttgart Weimar: Metzler Verlag 2007. (S. 44)
[3] Felten, Gundula: Die Funktion des sensus communis in Kants Theorie des ästhetischen Urteils. 1. Auflage. München: Fink Verlag 2004. (S. 86)
[4] Bemerkenswert ist der Umstand, dass Kant den Begriff der Achtung ohne Vorbild kreiert. Die damals gängige Bedeutung von Achtung als Be achtung/Aufmerksamkeit mag ein Grund für Missverständnisse zumindest in der Frühphase der Rezeption gewesen sein.
[5] Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 1. Auflage. Stuttgart: Reclam Verlag 2008. (S. 25)
[6] Köhl, Harald: Kants Gesinnungsethik. 1. Auflage. Berlin: de Gruyter Verlag 1990 (= Quellen und Studien zur Philosophie; Bd. 25). (S. 116)
[7] Schönecker, Dieter; Wood, Allen: Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“: Ein einführender Kommentar. 3. durchgesehene und bibliographisch aktualisierte Auflage. Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh 2002. (S. 63)
[8] Kant, Immanuel (S. 24)
[9] Wobei dieser Punkt hier nur angeschnitten wird. Die genauere Betrachtung folgt in 2.2.
[10] Kant, Immanuel (S. 15)