Ziel der Arbeit ist es, Ursachen für die Zunahme sozialer Ungleichheit in Deutschland näher zu skizzieren. Dabei soll die These verfolgt werden, dass ein niedrigeres soziales Ungleichheitsniveau als das derzeitige, einerseits mit größerem makroökonomischem Erfolg einhergeht, d.h. dass dieser einer größeren Anzahl von Wirtschaftssubjekten ein höheres Wohlstandsniveau verschafft. Andererseits trägt ein niedrigeres Ungleichheitsniveau aber auch zu einer gerechteren Gesellschaft bei, in der eine höhere Akzeptanz für soziale Unterschiede und für den eigenen sozialen Status vorhanden ist. Zudem wird der Frage nachgegangen, inwieweit die Ursachen auf veränderte ökonomische Rahmenbedingungen oder auf den sozioökonomischen Statuserhalt der (herrschenden) Gesellschaftsschichten zurückzuführen sind.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1. Einführung in die Thematik
1.2. Gang und Ziel der Arbeit
2. Geschichtlicher Hintergrund und begriffliche Grundlagen
2.1. Geschichtlicher Hintergrund
2.2. Begriffliche Grundlagen
3. Ursachen für die Zunahme ökonomischer Ungleichheiten
3.1. Ursachen für die Zunahme der Einkommensungleichheit
3.2. Ursachen für die Zunahme der Vermögensungleichheit
3.3. Ursachen für die Zunahme der Bildungsungleichheit
4. Übergeordnete Ursachen für die Zunahme sozialer Ungleichheit
4.1. Veränderte ökonomische Rahmenbedingungen
4.2. Sozioökonomischer Statuserhalt
5. Resümee
Anhang
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1 - Einkommensschichtung in Deutschland (1986, 1996, 2006)
Abbildung 2 - Einkommensungleichheit und Einkommensarmut (1985 - 2005)
Abbildung 3 - Entwicklung der Bruttolöhne und -gehälter zwischen (2000 - 2010)
Abbildung 4 - Entwicklung von Volkseinkommen, Unternehmens- und Vermögenseinkommen sowie Arbeitnehmerentgelte (2000 - 2010)
Abbildung 5 - Individuelles Nettovermögen nach Dezilen (2002, 2007)
Abbildung 6 - Entwicklung der Anzahl der Vermögensmillionäre (2003 - 2010)
Abbildung 7 - Vermögensbezogene Steuern in Prozent des BIP 2008
Abbildung 8 - Schulabschlüsse 18- 21-jährige Bevölkerung (2008)
Ökonomische Dimensionen und Ursachen sozialer Ungleichheit in Deutschland
1. Einleitung
1.1. Einführung in die Thematik
Ludwig Erhard machte einmal darauf aufmerksam, dass die Menschen ein marktwirtschaftliches System nicht prinzipiell aufgrund dessen Freiheitsspielräume unterstützen, sondern dass die Teilhabe einer möglichst breiten Masse am wirtschaftlichen Erfolg erst gesellschaftliche Akzeptanz erzeugt.[1] Gerade in der heutigen Konsumgesellschaft ist gesellschaftliche Teilhabe stärker denn je von Geld abhängig. Dies gilt für Freizeit und Beruf, sowie für Bildung und Kultur. Wer kein Geld oder zu wenig davon hat, wird sozial ausgegrenzt und fühlt sich arm. Denn arm ist in einem reichen Land wie Deutschland nicht nur, wer nichts zu Essen oder keine Wohnung hat, sondern wer sich vieles nicht leisten kann, was für den Großteil der Bevölkerung selbstverständlich ist. Die ökonomischen Dimensionen sozialer Ungleichheit - Bildung, Einkommen und Vermögen - stehen heute im Zentrum der Diskussion, da sie auf alle anderen Dimensionen große Auswirkungen haben.
Soziale Ungleichheit existiert in allen Gesellschaften, da jedem Menschen individuelle Möglichkeiten zur Nutzung gesellschaftlicher Ressourcen in unterschiedlichem Maße zur Verfügung stehen. Die Ursachen und Auswirkungen sozialer Ungleichheit werden u.a. in der Philosophie, der Soziologie, der Politikwissenschaft und der Volkswirtschaftslehre untersucht. Die Sozialpolitik versucht die soziale Lage benachteiligter Gruppen durch eine Angleichung der Lebenschancen und Existenzbedingungen zu verbessern, um die Gesellschaftsordnung zu stabilisieren. Träger der Sozialpolitik sind hauptsächlich der Staat, aber auch Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften und Kirchen.[2]
Umstritten ist das „optimale“ Ausmaß sozialer Ungleichheit bzw. Gleichheit für eine „funktionierende“ Volkswirtschaft und eine breit akzeptierte Gesellschaftsordnung. Eine völlige Gleichheit der Verteilung von ökonomischen Ressourcen ist weder erreichbar noch wünschenswert, denn dadurch gingen u.a. Leistungsanreize verloren. Jedoch ist eine zu große Ungleichheit der Verteilung von ökonomischen Ressourcen ebenso problematisch, da dies zu sozialen Verwerfungen und einem Klima der Ausgrenzung und Entsolidarisierung führt.[3] Folglich sollte ein Ungleichheitsniveau angestrebt werden, das sowohl die positiven Faktoren von Ungleichheit berücksichtigt, als auch die negativen Folgen zu großer Ungleichheit minimiert. Dabei kommt es jedoch nicht nur auf die reale Ungleichheit an, sondern vor allem auf die gefühlte Ungleichheit der Gesellschaftsmitglieder.[4]
Ein optimales Ungleichheitsniveau kann auch aus ökonomischer Perspektive nicht exakt festgelegt werden. Deutschland konnte allerdings in der Vergangenheit in wirtschaftlich erfolgreichen Zeiten weniger soziale Ungleichheit verzeichnen und auch die skandinavischen Länder stellen wesentlich egalitärere Gesellschaften dar und sind dennoch wirtschaftlich sehr erfolgreich.[5] In leistungsbezogenen und zugleich solidarischen Wirtschaftssystemen, wie dem der sozialen Marktwirtschaft, steht vor allem die Frage der Chancengleichheit und damit einhergehend die Frage der Verteilungsgerechtigkeit im Mittelpunkt. Aber auch die soziale Mobilität, d.h. die Bewegungsmöglichkeit von Individuen zwischen sozialen Positionen, ist mit der Frage des optimalen Ungleichheitsniveaus verbunden. Die soziale Mobilität ist in Ländern mit geringer Einkommensungleichheit höher und auch die Verwirklichung einer größeren Chancengleichheit führt zu einer höheren Einkommensgleichheit.[6]
Aus aktuellen Erhebungen[7] geht hervor, dass die soziale Ungleichheit in den Industrieländern, allen voran in Deutschland, in den letzten zwanzig Jahren beständig zugenommen hat. Dies hat negative soziale und ökonomische Auswirkungen für große Teile der Gesellschaft. Gewachsen sind auch die Ungleichgewichte, die sich innerhalb der Eurozone, aber auch binnenwirtschaftlich zwischen Löhnen und Gewinnen, Privatvermögen und öffentlichen Schulden, aufgebaut haben. Allerdings nehmen die Bürger zunehmende soziale Ungleichheit erst wahr, wenn das Wachstum insgesamt abnimmt und auch die individuellen Aufstiegschancen geringer werden.[8]
Selbst konservative Marktradikale, wie der britische Journalist Charles Moore, üben inzwischen massive Kritik am kapitalistischen System unserer Zeit und einer zu freiheitlich organisierten Marktwirtschaft, die eine Zunahme sozialer Ungleichheit bewirkt:
„The rich run a global system that allows them to accumulate capital and pay the lowest possible price for labour. The freedom that results applies only to them. The many simply have to work harder, in conditions that grow ever more insecure, to enrich the few.” [9]
In diesem Zusammenhang könnte man auch die aktuellen politischen Proteste in der arabischen Welt, die weltweiten Occupy-Bewegungen oder auch den zunehmenden Erfolg der Piratenpartei in Deutschland verstehen. So könnte der Zusammenschluss dieser besonders heterogenen Gruppierungen, die zwar weitestgehend nicht ums Überleben kämpfen sich aber politisch und wirtschaftlich immer stärker ausgegrenzt fühlen, als Folge eines größer werdenden subjektiven Ungleichheitsempfindens interpretiert werden. Aber auch die Wahlerfolge radikaler Parteien in einigen europäischen Ländern seit der Finanzkrise könnten darauf zurückgeführt werden. Denn die von der EU und dem Internationalen Währungsfond (IWF) oktroyierten Sparprogramme treffen vorwiegend Einkommensschwache und sozial schlechter Gestellte.[10]
1.2. Gang und Ziel der Arbeit
Ziel der Arbeit ist es, Ursachen für die Zunahme sozialer Ungleichheit in Deutschland näher zu skizzieren. Dabei soll die These verfolgt werden, dass ein niedrigeres soziales Ungleichheitsniveau als das derzeitige, einerseits mit größerem makroökonomischem Erfolg einhergeht, d.h. dass dieser einer größeren Anzahl von Wirtschaftssubjekten ein höheres Wohlstandsniveau verschafft. Andererseits trägt ein niedrigeres Ungleichheitsniveau aber auch zu einer gerechteren Gesellschaft bei, in der eine höhere Akzeptanz für soziale Unterschiede und für den eigenen sozialen Status vorhanden ist. Zudem wird der Frage nachgegangen, inwieweit die Ursachen auf veränderte ökonomische Rahmenbedingungen oder auf den sozioökonomischen Statuserhalt der (herrschenden) Gesellschaftsschichten zurückzuführen sind.
Im ersten Teil der Arbeit werden geschichtliche Hintergründe und begriffliche Grundlagen sozialer Ungleichheit erläutert (Kapitel 2). Unter Verwendung empirischer Daten, die sich vor allem auf den Zeitraum zwischen 1980 und 2010 beziehen, werden anschließend Ursachen für die Zunahme der Ungleichheit der wichtigsten ökonomischen Dimensionen in Deutschland erläutert (Kapitel 3). Nachfolgend werden übergeordnete Ursachen erläutert, die für die Zunahme sozialer Ungleichheit verantwortlich sind (Kapitel 4). Abschließend erfolgt ein Rückblick, der die wichtigsten Ergebnisse kurz zusammenfasst und zur Evaluation der oben aufgestellten These dient (Kapitel 5).
Es sind einige Einschränkungen im Gegenstandsbereich nötig, um dem Rahmen der Arbeit gerecht zu werden. Folglich werden gezielt jene Dimensionen und Ursachen betrachtet, denen insgesamt eine konstant hohe Bedeutung für die Ungleichheitsstruktur zugeordnet werden kann und für die bereits empirische Erhebungen durchgeführt wurden. Zudem erfordert die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema der sozialen Ungleichheit unweigerlich Wertungen. Schon die Erhebung der hier verwendeten Verteilungsdaten basiert auf methodischen Vorentscheidungen hinsichtlich der Untersuchungseinheit (Individuum, Haushalt, soziale Klasse, Schicht oder Milieu) und des Untersuchungsrahmens (regional, national, global). Zudem kann die Dynamik sozialer Ungleichheit zukünftig immer weniger im nationalstaatlichen Rahmen verstanden werden. Denn die Wahrnehmung sozialer Ungleichheit im politischen und gesellschaftlichen Alltag beruht zunehmend auf einer globalen Weltsicht, bei der territoriale, politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Grenzen zunehmend verschwimmen. Soziale Ungleichheit ist folglich immer an die betrachtete historische Zeit gebunden.
Es werden Ansätze aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen herangezogen, welche die ökonomischen Dimensionen und Ursachen sozialer Ungleichheit in dieser Arbeit betreffen. Diese Herangehensweise soll dem Leser verdeutlichen, dass die ökonomische Betrachtungsweise grundsätzlich interdisziplinärer ausgerichtet sein müsste, um das Phänomen soziale Ungleichheit erschließen zu können.
2. Geschichtlicher Hintergrund und begriffliche Grundlagen
Um soziale Ungleichheit in einen geschichtlichen Kontext zu stellen, werden philosophische, soziologische und wirtschaftswissenschaftliche Ansätze und deren Vertreter herangezogen. Grundlegende Überlegungen, wie die Gerechtigkeitskomponente sozialer Ungleichheit, sind auf die Philosophie zurückzuführen. Die Wirtschaftswissenschaften liefern monetäre Ursachen sozialer Ungleichheit, wohingegen die Soziologie Aspekte des sozialen Zusammenlebens der Menschen in Gemeinschaften und Gesellschaften mitberücksichtigt.
2.1. Geschichtlicher Hintergrund
Soziale Ungleichheit ist ein komplexes Phänomen, das Gesellschaften seit Jahrhunderten prägt. Was als sozial ungleich empfunden wird, ist vom Wertesystem einer Gesellschaft und seiner Definition von Wohlstand und Gleichheit abhängig. Soziale Ungleichheit ist daher immer eine von Individuen und Gruppen bestimmte Situationsbeschreibung von ungleichen Verteilungen, die sich je nach Struktur und Wahrnehmung der Gesellschaft im Laufe der Zeit verändert.[11]
Bereits in der Antike beschäftigten sich bedeutende Philosophen wie Aristoteles (384 - 322 v. Chr.) mit Ungleichheit. Die Antike sah dabei, ebenso wie die indische Kastengesellschaft, Ungleichheiten als von der Natur oder von Gott gegeben an. So meinte Aristoteles beispielweise, dass es „Freie“ und „Sklaven“ von Natur aus gebe.[12] In den Über- und Unterordnungsverhältnissen verwirklicht sich danach die Natur des Menschen, was soziale Ungleichheit legitimiert. Die soziale Stellung, die damit verbunden Lebenschancen und somit der Lebensweg waren auch während des Mittelalters (vorindustrielle Ständegesellschaft) bis in die frühe Neuzeit (frühindustrielle Klassengesellschaft) durch Geburt bestimmt. Ein Auf- bzw. Abstieg war durch rechtliche, aber auch gesellschaftliche Umstände kaum möglich.[13] Somit wurde soziale Ungleichheit lediglich unter deskriptiven Gesichtspunkten betrachtet, nicht hingegen unter normativen.
Erst Jean Jacques Rousseaus Studien in den 1750er Jahren über den Ursprung und die Grundlagen von Ungleichheit führten zu einer veränderten Betrachtungsweise. Laut Rousseau führen einseitiger Reichtum und gesellschaftliche Ungleichheit zu einer Gefährdung des Friedens und der Freiheit aller.[14] Deshalb definierte Rousseau folgende Hauptaufgabe des Staates:
„Eine der wichtigsten Aufgaben der Regierung besteht also darin, diese äußerste Ungleichheit der Besitztümer zu verhindern, und zwar nicht dadurch, dass man die Reichtümer ihren Besitzern wegnimmt, sondern dass man alle der Mittel beraubt, sie anzuhäufen.“[15]
Der Entwurf der Verfassung Korsikas ist ein Plädoyer Rousseaus für die Notwendigkeit von Umverteilung, ohne dass der Staat in das Eigentumsrecht der Bürger eingreift. Der Staat kann allerdings nur Umverteilen, wenn er über ausreichend Mittel verfügt, die er durch Besteuerung generiert. Dazu bedarf es einer leistungsfähigen und gut ausgebildeten Bevölkerung, in der jeder mit möglichst gleichen Startchancen dazu befähigt wird, wirtschaftlich tätig zu sein. Damit steht neben der Schaffung von Bildungschancen für alle, als wichtigste Voraussetzung für die Vermeidung von Armut und Unfreiheit, die Frage nach der Struktur eines angemessenen staatlichen Umverteilungssystems, im Zentrum Rousseaus Diskussion.[16]
Die moralische und rechtliche Gleichheit aller Menschen (Gleichheitspostulat) war das revolutionäre Prinzip, das sich im Zuge der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Französischen Revolution durchsetzte und sich der Gesellschaft der Stände, der Privilegien und der von Gott gewollten Ordnungen entgegenstellte. Der Aufklärung, die die rechtliche und politische Gleichheit hervorbrachten, folgte im 19. Jh. die Forderung nach sozialer Gleichheit.[17] Angeborene Merkmale wie das Geschlecht oder die Rasse spielten zwar noch eine Rolle für die Lebenschancen, aber sie verloren nach und nach ihre Legitimation für soziale Ungleichheiten.[18]
Karl Marx (19. Jh.) machte die Beseitigung von sozialer Ungleichheit mit seinem „Programm der Gleichheit“ zum wichtigsten politischen Ziel. Im Mittelpunkt von Marx‘ Argumentation stand die ungleiche Verteilung des Eigentums der Produktionsmittel, woraus soziale Ungleichheit und eine Polarisierung sozialer Unterschiede resultiere, die es zu bekämpfen gelte. Er forderte deshalb eine klassenlose Gesellschaft, die durch den Sozialismus verwirklicht werden könne.[19] Dem gegenüber standen Konzepte des Liberalismus, dessen bedeutendster Vertreter Adam Smith ist. Ihm ging es nicht um die Frage der Gleichheit bzw. Ungleichheit, sondern um die Frage, wie Armut überwunden werden könne.[20] Jedoch sprach auch Smith sich dafür aus, dass der Staat regulatorisch wirken müsse, „especially when the object is to reduce poverty“[21] .
Auch der Philosoph John Rawls (20. Jh.), ein wesentlicher Vertreter des egalitären Liberalismus, verdeutlichte, dass eine Zunahme sozialer Ungleichheit nur dann gerecht ist, wenn sie die Situation der ärmeren Bevölkerungsschichten verbessert. Eine Anhebung des durchschnittlichen Wohlstands reiche als Begründung von sozialer Ungleichheit nicht aus.[22] Rawls war der bekannteste Vertreter des Ressourcenansatzes, demzufolge es keinem Menschen an „Grundgütern“ mangeln soll, wie beispielsweise Rechte, Freiheiten und Chancen. Die klassischen Ressourcen dieses Ansatzes sind Einkommen und Vermögen, durch die man Zugriff auf diese „Grundgüter“ hat.[23] Die heutige Armutsforschung hingegen orientiert sich am Lebenslagenansatz, welcher Armut nicht nur unter materiellen Gesichtspunkten betrachtet, sondern miteinbezieht, in welchen Lebensbereichen (beispielsweise Wohnen und Gesundheit) eine Unterversorgung vorliegt.[24]
Bereits im Jahr 1979 hinterfragte der indische Nobelpreisträger Amartya Sen diese beiden Ansätze und plädierte für mehr Multidimensionalität in der Betrachtung. Er stellte sich damit der normativen Gerechtigkeitsdebatte[25] von sozialer Ungleichheit und verwies darauf, dass z.B. Stress als Folge zu großer sozialer Ungleichheit negative Auswirkungen auf die Gesundheit und Lebenserwartung sozial schlechter gestellten Menschen habe. Da die Folgekosten letztlich wieder von der Allgemeinheit getragen werden, müsse, davon ausgehend, die soziale Ungleichheit minimiert werden.[26] Sen plädierte für den Fähigkeitenansatz und forderte, zur Bestimmung von sozialer Ungleichheit zusätzliche Variablen zu berücksichtigen: Lebensstandard, Bildung, Lebenschancen und Glück aber auch Respekt, Anerkennung und Macht seien von Bedeutung.[27] All diese Variablen hängen in modernen Marktwirtschaften immer mehr von den beiden klassischen Ressourcen Einkommen und Vermögen ab, weshalb diese Dimensionen den Kernbereich sozialer Ungleichheit darstellen.[28]
In Deutschland kam der Ökonom Alfred Müller-Armack Mitte des 20. Jahrhunderts bei seinen Überlegungen zur sozialen Marktwirtschaft zu dem Schluss, es müsse eine breite besitzende Mittelschicht („nivellierte Mittelstandsgesellschaft“) angestrebt werden, in der es keine Armut mehr gibt. Er forderte eine Marktwirtschaft, die stärker als bis dato vom Sozialstaat getragen werde und für sozialen Ausgleich sorgen sollte, um die soziale Ungleichheit zu verringern.[29] Ludwig Erhard und Walter Eucken, der Begründer der Freiburger Schule des Ordoliberalismus, waren der Meinung, der Markt an sich sei bereits sozial und der Staat dürfe keinesfalls konjunkturpolitisch agieren. Diese Ansicht war der Annahme geschuldet, der ideale freie Markt im Sinne des Ordoliberalismus weise keine zyklischen Konjunkturen und Krisen mehr auf.[30] Allerdings relativierte Eucken die soziale Komponente des Marktes und forderte, ähnlich wie Rousseau ca. 200 Jahre zuvor, der Staat müsse die Macht der einzelnen Marktteilnehmer grundsätzlich wirksam beschränken und nicht erst im Falle eines Machtmissbrauchs:
“Es sind also nicht die sogenannten Missbräuche wirtschaftlicher Macht zu bekämpfen, sondern wirtschaftliche Macht selbst.”[31]
Dies begründete er damit, dass Wirtschaftsteilnehmer, sowohl Anbieter als auch Nachfrager, grundsätzlich versuchen Konkurrenz zu vermeiden, um monopolistische Stellungen zu erlangen und diese zu behaupten.[32]
In den 1990er Jahren erklärte Pierre Bourdieu mithilfe seiner makrosoziologischen Ansätze, weshalb soziale Unterschiede zumeist dauerhaft über Generationen hinweg bestehen bleiben. Heutzutage spricht man in diesem Zusammenhang von geringer Intergenerationenmobilität, die Bourdieu mit der Habitustheorie begründete. Der Habitus ist ein System von verinnerlichten Mustern und sozialen Handlungsformen, das sich gesellschaftsspezifisch entwickelt und für die Reproduktion sozialer Strukturen verantwortlich ist. Jedes Individuum besitzt demnach soziale, kulturelle, symbolische und ökonomische Ressourcen, die Bourdieu als Kapitalformen bezeichnet und welche durch den Habitus reproduziert werden, jedoch nicht immer streng voneinander abzugrenzen sind.[33] Die ungleiche Verteilung führt aber auch zu Unsicherheiten bei Transaktionen zwischen Inhabern verschiedener Kapitalsorten.[34] Ökonomisches Kapital ist das wichtigste Kapital in kapitalistischen Wirtschaftssystemen, denn es ist die Grundlage für die Aneignung der anderen Kapitalformen. Kulturelles, soziales und symbolisches Kapital beeinflussen wiederum die Akkumulation des ökonomischen Kapitals. Soziale Ungleichheit reproduziere sich folglich durch bereits verfügbares Kapital von den Eltern, dass sie in die Bildung ihrer Kinder und den Aufbau sozialer Beziehungen investieren, um dadurch die Chancen ihrer Kinder zu verbessern, ebenfalls einen hohen sozioökonomischen Status in der Gesellschaft zu erlangen.[35] Die gegenseitige Konvertierbarkeit der verschiedenen Kapitalarten ist der Ausgangspunkt für die Positionierung eines Individuums im sozialen Raum. Ein Individuum strebt bei Konvertierung von Kapital den Weg der geringsten Kapitalumwandlungskosten an, was dazu führt, dass sich soziale Ungleichheiten verstärkt reproduzieren.[36]
[...]
[1] Vgl. Köcher (2012), FAZ-Online
[2] Vgl. Maier (2012), SBSZ-Online
[3] Vgl. Ferchhoff (2007), S. 72 f.
[4] Vgl. Burdan (2011), S. 119 f
[5] Vgl. Esping-Andersen (1990), S. 23 f.
[6] Vgl. Krueger (2012),
[7] Vgl. OECD-Report (2008, 2011); SOEP des DIW (2007); Bericht zur regionalen Armutsentwicklung in Deutschland des Paritätischen Gesamtverbands (2011)
[8] Vgl. Liebig/u.a. (2010)
[9] Moore (2011), The Telegraph-Online
[10] Vgl. Sommers/ u.a. (2012), Tagesspiegel-Online
[11] Vgl. Wolf (2011), S. 1
[12] Vgl. Burzan (2007), S. 8
[13] Vgl. Burzan (2007), S. 9
[14] Vgl. Eißel (2008), S. 60
[15] Rousseau (1977), S. 32 f
[16] Vgl. Rousseau 1977, S. 32 f.
[17] Vgl. Schäfers (2003), bpb-Online
[18] Vgl. Burzan (2011), S. 8
[19] Vgl. Müller (2007), Merkur
[20] Vgl. Krueger (2001), Economic Scene-Online
[21] Krueger (2001), Economic Scene-Online
[22] Vgl. Rawls (1971), S. 104
[23] Vgl. Rawls (1971), S. 122 f.
[24] Vgl. Schürz/Schlager (2008), S. 15
[25] Die Wirtschaftswissenschaften stellen sich selten der normativen Gerechtigkeitsdebatte. Amartya Sen bezieht sich zumeist auf die „Theorie der Gerechtigkeit“ von John Rawls. Vgl. Schürz/Schlager (2008), S. 11
[26] Vgl. Wilkinson (2005), S. 26
[27] Vgl. Schürz/Schlager (2008), S. 12 ff.
[28] Vgl. Hradil (2011), S. 211, 255
[29] Vgl. Müller-Armack (1947), S. 88
[30] Vgl. Eucken (1955), S. 53
[31] Eucken (1947), S. 13
[32] Vgl. Eucken (1955), S. 55 f.
[33] Vgl. Bourdieu (1997), S. 221 ff.
[34] Vgl. Bourdieu (1997), S. 229
[35] Vgl. Bourdieu (1997), S. 221 ff.
[36] Vgl. Bourdieu (1992), S. 55 ff
- Arbeit zitieren
- Fridolin Müller (Autor:in), 2012, Ökonomische Dimensionen und Ursachen sozialer Ungleichheit in Deutschland, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/206954
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