Lessings 'Nathan der Weise' im Kontext der Aufklärung - Teil I


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2013

15 Seiten


Leseprobe


Lessings "Nathan der Weise" im Kontext der Aufklärung

Teil I

"Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit

ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbst verschuldet

ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der

Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.

Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der

Wahlspruch der Aufklärung ..." (Immanuel Kant: "Beantwortung der Frage:

Was ist Aufklärung?", 1784)

Einleitung und Überblick

"Nathan der Weise" wird gern als "Ideendrama" bezeichnet, dessen Leitgedanken durch das Thema der Toleranz im Verhältnis zwischen den großen monotheistischen Religionen bestimmt werden. Nach dieser Lesart geht es im Drama mehr um eine gedankliche Auseinandersetzung als um eine spannungsgeladene dramatische Handlung. Offensichtlich hat Lessing das Stück nicht konzipiert, um für den Zuschauer des Bühnengeschehens beeindruckende theatralische Effekte zu inszenieren, Der Schwerpunkt der Handlung liegt vielmehr auf dem Geschehen, das sich im Inneren der Figuren abspielt. Die Protagonisten sollen aus den eingefahrenen Gleisen gewohnheitsmäßigen Denkens herausgeführt werden und sich auf neue Formen erkenntnisorientierten Denkens einlassen. In den Dialogen der "Vernunft" und dem Austausch von Meinungen vollzieht sich ein Umdenken und eine schrittweise Annäherung an "Wahrheiten". Hierbei handelt es sich nicht um absolut gültige, objektive Wahrheiten, sondern um subjektiv geprägte und historisch entwickelte Teilwahrheiten, deren Gültigkeit sich im Dialog bewähren muss und die ggf. modifiziert und korrigiert werden müssen. Damit wird ein Wahrheitsbegriff in Zweifel gezogen und widerlegt, der suggeriert, dass es ein Monopol der Wahrheit und geistliche oder weltliche Herrscherfiguren gebe, die im Besitz absoluter Wahrheiten seien, welche keiner Rechtfertigung bedürfen. Nach dieser Auffassung ist es dem Menschen aufgegeben, vermeintlich eherne und unumstößliche Scheinwahrheiten zu hinterfragen und auf ihre Gültigkeit hin kritisch zu überprüfen.

Wenn man - ausgehend vom Toleranzgedanken - sich vergegenwärtigt, dass die Menschen im Drama zu veränderten Denk- und Handlungsweisen angeleitet und zu vertieften Einsichten geführt werden, kann man "Nathan der Weise" als ein Erziehungsdrama auffassen, in dem die Protagonisten individuelle Lernwege durchlaufen, sich dabei einander annähern und ihrer Gemeinsamkeiten zunehmend bewusst werden. Statt sich feindselig und verständnislos gegenüberzustehen, erkennen sie die von Anfang an bestehende, ihnen jedoch zunächst verborgene, Verwandtschaft und innere Zusammengehörigkeit. Dieser Bewusstwerdungsprozess findet seine krönende Vollendung in dem Familientableau des fünften Aufzugs, das als vorausgedachtes, in die Zukunft projiziertes Wunschbild und Modell einer menschlichen Gesellschaft aufgefasst werden kann, die es durch fortschreitende Selbsterziehung und kontinuierlich wachsende Erkenntnis geschafft hat, in einem dauerhaften Zustand liebevoller Freundschaft zusammenzuleben.

In diesem Lern- und Bewusstwerdungsprozess kommt dem jüdischen Geschäftsmann Nathan eine Schlüsselfunktion zu. Er bildet den Dreh- und Angelpunkt dieses Prozesses. Von ihm gehen die entscheidenden Impulse und Denkanstöße aus, die seine Mitspieler mit ihren

eigenen Unzulänglichkeiten und Widersprüchlichkeiten konfrontieren und zu einer Neuorientierung führen. Dies geschieht in einer für Nathan charakteristischen Art und Weise, die man in Anlehnung an die sokratische Mäeutik als Kunst des wissenden Fragens bezeichnen könnte, mit deren Hilfe das bereits unbewusst im Schüler vorhandene Wissen schrittweise bewusst gemacht wird. Durch diese Fähigkeit erweist Nathan sich als weiser Lehrmeister. In den mit seinem jeweiligen Gegenüber (vor allem Recha, dem Tempelherrn und Saladin) geführten Erziehungsgesprächen wird seine Weisheit in praktisches Handeln umgesetzt. Die Erkenntnis wird nicht in einer Pose geistiger Überlegenheit von oben aufgepfropft bzw. indoktriniert, sondern entfaltet sich unaufdringlich im gemeinsamen Gespräch. Dabei setzt Nathan - ganz im Sinne eines aufgeklärten Denkers - auf die Vernunft seines Gesprächspartners, wobei er aber die kühle Logik vernunftgeleiteten Denkens durch Impulse anreichert, die die Gefühlswelt und das persönliche Betroffensein seines Gegenübers einbeziehen.

Mit der Figur des Nathan erweist der Autor Lessing sich als aufgeklärter Denker des 18. Jahrhunderts. Er lässt sich jedoch keiner philosophischen Denkschule zuordnen. Als eigenständiger, mündiger Repräsentant seines Zeitalters gebraucht er - ganz im Sinne des Kantschen Postulats - seinen eigenen Verstand. Anstatt sich im Besitz von Wahrheiten zu wähnen, ist er unermüdlich auf der Suche danach. Daher vermittelt er kein in sich geschlossenes Gedankengebäude, sondern entwickelt unablässig provozierende Denkanstöße, mit denen er seine Zeitgenossen ermutigen will, aus ihrer "selbstverschuldeten Unmündigkeit" herauszutreten und sich den Herausforderungen ihrer Epoche zu stellen. Dabei geht es ihm insbesondere um kirchlichen und staatlichen Machtmissbrauch, Intoleranz und Feindseligkeiten gegenüber gesellschaftlichen Minderheiten (vor allem der jüdischen Bevölkerung) und darum, überhaupt jeglicher Art von Vorurteil entgegenzuwirken. Diese und andere Wesenszüge sind in die Konzeption des weisen Nathan im gleichnamigen Stück eingeflossen, wobei gewiss auch die langjährige Freundschaft mit dem jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn eine wichtige Rolle gespielt hat. Die Identifizierung des Autors mit der Figur des Nathan lässt sich durch Äußerungen wie die folgende aus dem "Entwurf einer Vorrede" zu seinem Drama belegen: "Nathans Gesinnung gegen alle positive [und das heißt hier soviel wie dogmatisch erstarrte Offenbarungs-] Religion ist von jeher die meinige gewesen." (Fragmente einer Vorrede, in: Lessing Werke, Band 9, S. 665)

Um den Herausforderungen seiner Zeit als Dramenautor entgegenzutreten, versetzt Lessing den Leser und den Zuschauer im Theater ins zwölfte nachchristliche Jahrhundert, in die historische Zeit der Kreuzzüge (die Handlung spielt im Jahre 1192) und nach Palästina, wo die Vertreter der drei großen monotheistischen Religionen Christentum, Judentum und Islam aufeinanderstoßen. Deswegen handelt es sich aber nicht um ein geschichtliches Drama im eigentlichen Sinne. Nach eigener Aussage geht es Lessing im "Nathan" nicht um historische Authentizität. Er benutzt vielmehr das historische Geschehen als Folie, auf dem sich das von ihm entworfene dramatische Geschehen abspielt, das schließlich in das ersehnte Wunschbild einer völkerübergreifenden, religionenverbindenden Utopie reiner Menschlichkeit einmündet. Das Mittelalter wird im Drama zur Kulisse für Lessings emanzipatorisches Denken und Wirken im gesellschaftlichen und politischen Kontext seiner Zeit. Aus diesem Blickwinkel betrachtet kann man Nathan auch als Vertreter eines erstarkten und selbstbewussten Bürgertums verstehen, der es durch persönlichen Fleiß und unternehmerisches Geschick zu Ansehen und

Wohlstand gebracht und gelernt hat, sich in einem absolutistischen Staat gegen geistliche und fürstliche Machtwillkür zu behaupten. Darüberhinaus verkörpert er die für das deutsche Theaterpublikum des 18. Jahrhunderts herausfordernde Leitfigur eines emanzipierten Judentums, das dem von einem selbstgefälligen Christentum jahrhundertelang gehegten Feindbild des geizigen Juden widerspricht.

Und schließlich verfolgt Lessing - im vollen Bewusstsein seiner persönlichen Abhängigkeit von den bestehenden Herrschaftsverhältnissen - das Ziel, einen erzieherischen Einfluss auf die weltlichen Herrscher seines Zeitalters auszuüben, ohne in den Verdacht zu geraten, ein revolutionärer Umstürzler zu sein. Dies erreicht er durch die Figur des Sultans Saladin, der Nathan, den das Volk den "Weisen" nennt, zunächst nur verächtlich als den "Juden" tituliert (III/5, V. 1797). Eben dieser Nathan erzieht Saladin, ohne dass er es will, zum aufgeklärten toleranten Monarchen und wird schließlich sein Freund. Mit Saladin entwirft Lessing ein positives Gegenbild zu seinem eigenen Landesherrn, dem Herzog Karl von Braunschweig, der - wie viele andere Fürsten seiner Zeit - wegen seiner verschwenderischen Hofhaltung und hochverschuldeter Staatskassen kein Muster von Tugendhaftigkeit darstellt. Anstatt seinen Fürsten bloßzustellen, hält der Untertan Lessing ihm einen Spiegel vor, in dem jener nicht nur den toleranten, gerechten, großzügigen und vorbildlich wirkendenden Herrscher erkennt, sondern dazu auch noch den Weg, der zu diesem Ziel führt: die Überwindung von Vorurteilen im Sinne eines modernen aufgeklärten Staatenlenkers durch das Streben nach vernunftgeleiteter Erkenntnis.

Im Verlauf dieser Untersuchung werden folgende Themenschwerpunkte behandelt:

- Teil I befasst sich zunächst mit dem z eitgeschichtlichen Hintergrund . Dabei werden die Begriffe Bildung und Erziehung in Verbindung mit dem Vernunftgedanken als Schlüsselbegriffe der Aufklärung und als Ausdruck eines neu erwachten bürgerlichen

Selbstbewusstseins gegenüber dem privilegierten Adel vorgestellt. Durch das Bildungsstreben eines sich aus historischer Bevormundung emanzipierenden Bürgertums entsteht ein literarischer Markt, der sich nicht mehr in erster Linie an den verbindlichen Normen traditioneller Regelpoetiken orientiert. Dennoch üben die Fürsten nach wie vor eine starke Kontrollfunktion im Hinblick auf literarische, und überhaupt jede Art von Veröffentlichungen aus, über die auch Lessing sich nicht hinwegsetzen kann.

- In einem weiteren Abschnitt geht es um das Thema Wahrheitssuche zwischen Dogma, Vernunft und Toleranz - und hier insbesondere um die von Lessing und orthodoxen Kirchenvertretern polemisch geführte Auseinandersetzung um den Wortlaut und die vernunftbetonte kritische Analyse von Bibeltexten, bis Lessing das Feld der Polemik schließlich verlässt und mit seinem Drama "Nathan der Weise" einen anderen Weg wählt, um sein aufklärerisches Gedankengut von der "Kanzel" des Theaters aus zu verbreiten. Das angestrebte Ziel ist dabei die Überwindung der Intoleranz und die Erlangung von Einsicht und Erkenntnis auf dem Wege des vernunftgeleiteten Denkens, wie ihn im "Nathan" beispielsweise der Tempelherr unter der Anleitung seines geistigen Mentors durchläuft. Konkret ausgedrückt, handelt es sich um die Bereitschaft des Menschen, mit seinem jeweiligen Gegenüber in einen

Dialog einzutreten, durch Austausch von Argumenten gemeinsam neue "Wahrheiten" zu entdecken und auf diese Weise den eigenen Erkenntnishorizont zu erweitern.

- Abschließend wird - zusätzlich zu den bereits behandelten Aspekten - der Erziehungsgedanke in Lessings Dramentheorie und Theaterkritik untersucht, um sich auf dieser Grundlage in Teil II dem Erziehungsbegriff im Drama "Nathan der Weise"

zuzuwenden. Dabei wird sich herausstellen, dass Lessing - beispielsweise als künstlerischer Berater, Dramaturg und Kritiker am Hamburger Nationaltheater - mit

seinen erzieherischen Bemühungen beim Publikum auf Vorbehalte stößt, die für ihn

enttäuschend sind, ihn aber nicht davon abhalten, mit seinem "Nathan" einen erneuten Anlauf als Dramenautor zu versuchen.

[...]

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Lessings 'Nathan der Weise' im Kontext der Aufklärung - Teil I
Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover  (Philosophische Fakultät)
Autor
Jahr
2013
Seiten
15
Katalognummer
V209359
ISBN (eBook)
9783656373056
ISBN (Buch)
9783656373285
Dateigröße
426 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
lessings, nathan, weise, kontext, aufklärung, teil
Arbeit zitieren
Hans-Georg Wendland (Autor:in), 2013, Lessings 'Nathan der Weise' im Kontext der Aufklärung - Teil I, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/209359

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