Ästhetische Nachhaltigkeitsbildung. Über den Beitrag der Theaterpädagogik zur Bildung für nachhaltige Entwicklung


Examensarbeit, 2012

44 Seiten, Note: 1,0

Lars Paschold (Autor:in)


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung
1.1 Problemlage
1.2 Ziel, zentrale Fragestellung und Aufbau der Arbeit

2 Einflüsse vonPostmoderne, Konstruktivismus und neurobiologischer Erkenntnisse auf Bildung
2.1 Postmoderne
2.2 Systemtheoretischer Zugang
2.3 Konstruktivismus
2.4 Neurobiologische Erkenntnisse
2.5 Auswirkungen auf die Bildungsarbeit

3 Bildung für nachhaltige Entwicklung
3.1 Nachhaltige Entwicklung im Verhältnis zu Bildung und Kunst
3.2 Didaktische Ausgestaltung der„Bildung für nachhaltige Entwicklung“
3.2.1 Leitziel Gestaltungskompetenz
3.2.2 Didaktische Prinzipien
3.2.3 Themen

4 Ästhetische Bildung
4.1 Bildung und Ästhetik
4.1.1 Bildung
4.1.2 Aisthetik, Ästhetik, Anästhetik
4.1.3 Theaterpädagogik als ästhetische Bildung
4.2 Ästhetisch bildende Aspekte theatraler Gestaltung
4.2.1 Der ästhetische Raum
4.2.2 Das Thema
4.2.3 Die Inszenierung
4.2.4 Die Reflektion
4.3 Wirkbereiche ästhetischer Bildung
4.3.1 Bildung des Ästhetischen
4.3.2 Selbstbildung
4.3.3 Soziale Bildung

5 Ästhetische Nachhaltigkeitsbildung
5.1 Synopse
5.1.1 Ziel der Untersuchung
5.1.2 Begründung der Methodenauswahl
5.1.3 Forschungsdesign
5.1.4 Kritische Würdigung der Untersuchung
5.1.5 Darstellung und Diskussion der Untersuchungsergebnisse
5.2 Theaterpädagogische Konsequenzen
5.3 Empfehlungen für einen Workshop
5.3.1 Zielsetzung
5.3.2 Workshopstruktur und Arbeitsweisen
5.3.3 Rahmenbedingungen

6 Zusammenfassung und Ausblick

Literaturverzeichnis

Anhang

Zur besseren Lesbarkeit des Textes wird in der vorliegenden Arbeit durchgängig die maskuline Sprachform für Begriffe wie „Spieler“ und „Theaterpädagoge“ gewählt. Gemeint sind damit stets beide Geschlechter, es sei denn, dass auf eine bestimmte weibliche oder männliche Form verwiesen werden soll.

1 Einleitung

1.1 Problemlage

Spätestens seit den 1970iger Jahren wurde deutlich, dass sich das schnelle wirtschaftliche Wachstum in den Industrieländern nur auf Kosten der Umwelt und ihrer Ressourcenbewerkstelligen ließ. Als 1969 die Fernsehbilder von der Mondlandung um die Welt gingen, machten sich viele Menschen zum ersten Mal die Einzigartigkeit und Begrenztheit der Erde bewusst.

Dies war ein wichtiger Anstoß für die Entwicklung einer globalen Umweltschutzbewegung, die sich ab Ende der 1990iger Jahre zusammen mit der entwicklungspolitischen Arbeit für die Ziele einer nachhaltigen Entwicklung zu engagieren begann. Zur Vermittlung und Umsetzung ihrer pädagogischen, sozialen oder politischen Ziele nutzten die Bildungsakteure von Anfang an das Theater. Dies geschah allerdings oft in einem funktionalisierenden Verständnis, ohne dabei der besonderen Qualitäten und spezifischen Kommunikationsstruktur des Mediums Theater gerecht zu werden. So sah ich vor Kurzem selbst zwei Umwelttheaterstücke, die moralisierend und mittels szenischer Bebilderung von vorgetragenem Umweltwissen das Theater als Heilmittel für eine nichtnachhaltige Gesellschaft vereinnahmten.

Doch nicht nur als Rezipient wurde ich mit der Frage konfrontiert, ob und unter welchen Voraussetzungen Theater als künstlerisches Medium einen Beitrag zur „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ leisten kann, ohne dabei instrumentalisiert zu werden. Auf Grund der an mich herangetragenen Anfrage, einen Theaterworkshop mit dem Titel „Wie wollen wir leben? – Unsere gemeinsame Zukunft gestalten“ durchzuführen, stand ich als Theater- und Nachhaltigkeitspädagoge nunmehr selbst vor dieser Herausforderung. Hieraus entwickelte sich mein Interesse an einer intensiveren theoretischen Auseinandersetzung mit dieser Problematik.

1.2 Ziel, zentrale Fragestellung und Aufbau der Arbeit

Ziel der Arbeit ist die Formulierung von Kriterien einer ästhetischen Nachhaltigkeitsbildung auf systemisch-konstruktivistischer Grundlage und darauf basierend die Ableitung von Empfehlungen für einen Theaterworkshop. Aus dieser Zielsetzung leiten sich folgende Fragen ab:

1. Können die im Prozess theatraler Gestaltung liegenden Bildungschancen Ziele der „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ unterstützen, ohne dabei instrumentalisiert zu werden?
2. Welche Konsequenzen leiten sich hieraus für die theaterpädagogische Arbeit ab?

Zunächst wird dargestellt, welche Konsequenzen sich aus der Debatte zur philosophischen Moderne/Postmoderne, den neurobiologischen Erkenntnissen, der Systemtheorie und dem Konstruktivismus für eine ästhetische Nachhaltigkeitsbildung ergeben, die auf einer systemisch-konstruktivistischen Didaktik basiert. Im darauffolgenden dritten Kapitel stelle ich die Inhalte, Methoden und Ziele einer „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ vor.

Um eine Instrumentalisierung des theatralen Gestaltungsprozesses möglichst zu vermeiden, will ich mich im vierten Kapitel auf die Betrachtung der ästhetischen Erfahrung, als das dem Theater gewissermaßen inhärente Moment, konzentrieren. Dabei gehe ich von den Ergebnissen der weit ausgreifenden Untersuchung zum „Theaterspielen als ästhetische Bildung“[1] von Ulrike HENTSCHEL aus.

Die Untersuchungsergebnisse aus Kapitel zwei, drei und vier werden im Kapitel fünf einander gegenübergestellt, interpretiert und auf die Fragestellungen der Arbeit rückbezogen. Die Zusammenfassung der Arbeit sowie der Ausblick auf noch offene und weitergehende Fragestellungen erfolgt im sechsten Kapitel.

2 Einflüsse von Postmoderne, Konstruktivismus und neurobiologischer Erkenntnisse auf Bildung

In diesem Kapitel wird die Bedeutung der Postmoderne, der Systemtheorie, des Konstruktivismus und neurobiologischer Erkenntnisse für ein modernes Bildungsverständnis, an dem sich auch die „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ und die ästhetische Bildung orientieren muss, dargelegt.

2.1 Postmoderne

[Postmodernes Denken]betrachtet […] die Welt als kontingent, als unbegründet, als vielgestaltig, unstabil, unbestimmt, als ein Nebeneinander getrennter Kulturen und Interpretationen, die skeptisch machen gegenüber der Objektivität von Wahrheit, von Geschichte und Normen, gegenüber der kohärenten Identität der Subjekte und gegenüber der Vorstellung, dass die Natur der Dinge einfach gegeben ist.[2]

Somit stellt die Postmoderne den Boden gemeinsamer Übereinstimmungen vollständig in Frage und bewirkt die Freisetzung von Differenz. Begriffe wie Wahrheit und Objektivität verlieren im Kontext hochgradig differenter Wissensformen und Handlungsmuster ihre Naturgegebenheit. Zudem bilden sich vielfältige, nebeneinander existierende Lebensstile, Lebensformen, Sozialstile, (Teil-)Kulturen, Wertorientierungen, politische, weltanschauliche, soziale Überzeugungen und kulturellen Praktiken heraus. Begleitet wird dieses höhere Maß an Freiheit und Individualisierung durchenorme Verwerfungen und Traditionsbrüche auf der sozialen wie auf der subjektiven Ebene sowie durch eine Privatisierung der Risiken und sozialen Ungleichheiten[3].

Die von WELSCH beklagte oberflächliche Ästhetisierung vieler Lebensbereiche reduziert die Möglichkeiten sinnlich-realer Alltagserfahrungen und führt zur Ausblendung von Konflikten, Widersprüchen oder Unangenehmem innerhalb des Realen[4]. Zudem leistet die Ästhetisierung von Produkten und Dienstleistungen einen Beitrag zu Konsumentscheidungen, die auf Grund der erzeugten Emotionalität und nicht nachethischen Abwägungen bezüglich eines verantwortungsvollen Umgangs mit sich selbst und der Welt getroffen werden.

Und die in den letzten beiden Jahrzehnten eingeführten neuen Computer- und Kommunikationstechnologien, erzeugen neue Erfahrungs-, Gestaltungs- und Kommunikationsräume, die ohne die zeitgleiche räumliche Gegenwart der Beteiligten auskommen.

Infolgedessen stellen Differenz, Subjektivität, Pluralität, Unsicherheit und Virtualität zentrale Merkmale der Postmoderne dar, die in Bildungsprozessen ihre Berücksichtigung finden müssen.

2.2 Systemtheoretischer Zugang

Als sozialgesellschaftliches Konzept kann die von Niklas LUHMANN entwickelte Systemtheorie einen Beitrag zur Analyse sozialer Wirklichkeit leisten[5]. In dieser Theorie differenziert LUHMANN zwischen sozialen Systemen (wie z.B. Institutionen, Familie, Kunst) und psychischen Systemen (Bewusstsein des Menschen). Während sich soziale Systeme aufgrund von einheitlich-selbstreferenzieller Kommunikation konstituieren, geschieht dies bei psychischen Systemen auf der Grundlage eines einheitlich-selbstreferenziellen Bewusstseinszusammenhangs. Ihren Interpretationszusammenhang erhalten beide Systeme über die Einheit des Sinns, da Sinn immer dann entsteht, wenn die Handlungen mehrerer Individuen in Differenz zu ihrer Umwelt aufeinander bezogen sind.

Der Begriff der Differenz, der auch ein Schlüsselbegriff der Postmoderne und des konstruktivistischen Denkens ist, meint nicht nur die Akzeptanz von Unterschieden, sondern thematisiert Pluralität und Widersprüche als Strukturmerkmale moderner Gesellschaften. Die Differenzwahrnehmung, die durch ein reflexives Bewusstsein beim Beobachten von Beobachtungen entsteht, wird für LUHMANN so zur Voraussetzung für das Erkennen von Wirklichkeiten[6] und verweist zugleich auf die Unmöglichkeit objektiver Wirklichkeit und intersubjektiv normierter Sinngebung. Die Differenzwahrnehmung, die einerseits hilft, Komplexität zu reduzieren, macht andererseits die Bereitschaft zum Perspektivwechsel und zur interdisziplinären Zusammenarbeit über Systemgrenzen hinaus erforderlich. Zudem verweist die Notwendigkeit der Differenziertheit für die Konstitution von den Gegenständen dieser Welt darauf, das ein Sich-Erkennen nur als ein sich different zur Umwelt wahrnehmendes Erkennen möglich ist. So wird die Herstellung, Erfahrung und Reflexion von Differenz zu einer zentralen Bedingung für Bildungsprozesse.

2.3 Konstruktivismus

Der Konstruktivismus ist zunächst eine erkenntniskritische Theorie, die „einer oft von Menschen naiv unterstellten unmittelbaren Verbindung von Welt (‚da draußen‘) und Abbild (‚in uns‘)“[7] misstraut.

Eine konstruktivistische Erkenntnisauffassung nimmt Abschied von der Vorstellung, dass es ein Beobachten ohne einen Beobachter, ein Festhalten von Wahrheit ohne einen Wahrnehmenden bzw. ein Verstehen von etwas oder von jemand ohne die strukturbildende Leistung einer Person gibt[8].

Damit wird Wirklichkeit zu einem subjektiven, beobachtungsabhängigen Element und das Subjekt zum partizipierenden Konstrukteur einer nur scheinbar objektiven Lebenswelt, die das Subjekt gestaltend beeinflussen kann. Die Relevanz dieser selbst konstruierten Wirklichkeit ergibt sich für die Subjekte aus deren Anschlussfähigkeit an ihre bisherigen Wirklichkeitskonstruktionen sowie aus der Zieldienlichkeit und dem Handlungserfolg in Bezug auf deren gesamte Erlebniswelt[9].

Allerdings verlangt die Tatsache, dass wir zusammen mit anderen in einer sozialen Welt leben, dass wir unsere subjektiven Wirklichkeiten anschließend wieder im kommunikativen Miteinander abgleichen, in Beziehung setzen und in ihrer Unterschiedlichkeit akzeptieren.

So werden Bildungsprozesse zu Interaktionsprozessen, die die selbstständige Auseinandersetzung mit subjektiven Wirklichkeiten genauso ermöglichen müssen, wie deren Abgleich im sozialen Austausch.

2.4 Neurobiologische Erkenntnisse

Etliche konstruktivistische Theorien berufen sich auf die neurobiologischen Erkenntnisse der Chilenen Humberto MATURANA und Francisco VARELA. Diese prägten den Begriff „Autopoiese“, worunter die Selbsterschaffung und -erhaltung eines Systems verstanden wird. Demnach ist bei autopoietischen Systemen „das Sein und das Tun […]untrennbar verbunden, und dies bildet ihre spezifische Art von Organisation“[10]. Kommt es zwischen einem autopoietischen System und dessen Umwelt zu Interaktionen, so können Strukturveränderungen angeregt werden, sofern diese für das System viabel sind. Dies ist dann der Fall, wenn sie sich im praktischen Handeln bewähren bzw. hierfür nützlich sind.

Übertragen auf Menschen als autopoietische Systeme bedeutet dies, dass sie nur innerhalb ihrer individuellen Struktur reagieren und handeln können und sich damit einer direkten Beeinflussung durch ihre außersubjektive Umwelt entziehen. Allerdings können sie perturbiert (gestört)werden, wodurch die Viabilität bestehender Konstrukte in Frage gestellt, ein „Reframing“ (Neu-Rahmung) von Wahrnehmungen und Deutungsmuster initiiert und so ein Identitätslernen angestoßen werden kann. Der so perturbierte Mensch verändert sich scheinbar aus dem Nichts und ohne dass sich der von außen als Lernen wahrnehmbare Moment der Bewusstseinsveränderung erzeugen ließ.

2.5 Auswirkungen auf die Bildungsarbeit

Betrachtet man die vorgenannten Ergebnisse hinsichtlich ihrer Bedeutung für Bildungsprozesse, so kann zusammenfassend festgestellt werden, dass es sich hierbei um ereignishafte, subjektive Erkenntnisprozesse und Konstruktionen von Subjekten handelt[11], die durch methodisches Handeln nur ermöglicht, aber in Bezug auf ihre Ergebnisse nicht erzeugt werden können.

Durch die Ermöglichung von Differenzerfahrungen und die Wahrnehmung von Unterschieden werden die vertrauten Emotions-, Deutungs- und Handlungsmuster Lernender perturbiert, so dass sie sich auf neue Beobachtungs-, Gestaltungs- und Veränderungsprozesse einlassen können[12]. Damit dies anschließend auch zu Bewusstseinsveränderung führt, müssen die im Prozess gewonnenen Beobachtungen, Erfahrungen und Informationen von den Lernenden als viabel und sinnvoll erfahren werden. Der Sinn entsteht dabei aus deren lebenspraktischen Bedeutsamkeit und Relevanz für die Lernenden und im Abgleich mit anderen innerhalb einer sozialen Gemeinschaft. Dies braucht ganzheitlich kognitiv-emotionale Bildungsprozesse, in denen neben kognitiven Inhalten, auch auf die zutage tretenden Gefühle, Einstellungen und Wertmuster Lernender Bezug genommen wird. Gemeinsame Konstruktionen sind dabei im Nach- und Nebeneinander verschiedener Beobachter zu betrachten und zu analysieren und dabei auftretende Widersprüche auszuhalten, ohne dass ein Ergebnis im Sinne von „so ist die Welt“ bereits vorher feststeht. Vielmehr sollen sich die Lernenden ihre Erkenntnisse entweder selbst konstruieren (Konstruktion) oder sich mittels Perspektivenwechsel im Zuge von Selbst-oder Fremdbeobachtung bereits bestehende Wissenskonstruktionen dekonstruieren (Dekonstruktion) und anschließend durch eine rekonstruktive Perspektive (Rekonstruktion) an bestehende, eigene Konstruktionen anschließen (Dreischritt von Konstruktion - Rekonstruktion - Dekonstruktion)[13]. Dabei sind die Lernenden bei ihrer Selbst- und Fremdreflexionen auf Rückkoppelungen und Feedback angewiesen. So können Bildungsprozesse initiiert werden, die Lernende bei der Entwicklung von Beobachtungsvielfalt, einem konstruktiven Herangehen an widersprüchliche Bildungsstoffe, zur reflexiven Selbstbeobachtung, zur Evaluation der eigenen Lernstile und Lernmotive, ihrer Stärken und Schwächen sowie bei der Entwicklung ihres Selbstwerts unterstützen. Zudem fördert das eigenverantwortliche und selbstgesteuerte Lernen die Entwicklung von Frustrationstoleranz, Anstrengungsbereitschaft und Eigenaktivität.

Hierfür braucht es Lernräume, die auf eine gültige Systematik von verbindlichem Wissen verzichten, die Differenzwahrnehmung fördern, die Gewissheiten Lernender perturbieren, ein aufeinander bezogenes Handeln zur Generierung von Sinn ermöglichen, in denen Pluralität und Deutungsvielfalt zugelassen sowie Lernende ihre neue Erfahrungen auf Viabilität prüfen können[14]. Dies kann durch Teilnehmerorientierung, Lösungsorientierung, Engagement und Distanz, Perspektivenvielfalt, Kontextorientierung, Zirkularität, Viabilität und Verstörung erreicht werden. Die Lernbegleiter müssen sich in solchen Bildungsprozessen einerseits distanziert beobachtend mit ihrem Mehrwissen zurückhalten und anderseits gegenüber den Lernenden als Person mit eigenen Haltungen und Bewertungen erfahrbar werden. Sie verstehen sich als Coach, Lernprozessbegleiter, Provokateur, Perturbator und Moderator der Wissens- und Handlungskonstruktionen Lernender. Im partizipativen Austausch mit diesen erarbeiten und diskutieren die Lernbegleiter multiperspektivische, multimodale und kreative Lösungswege und ermöglichen so ein wertschätzendes Arbeiten, das Lernende in Entscheidungs- und Willensbildungsprozesse einbezieht und unkonventionelle Lösungsvorschläge und gemeinschaftliches Denken fördert[15].

3 Bildung für nachhaltige Entwicklung

Nach einer kurzen Betrachtung des Verhältnisses zwischen nachhaltiger Entwicklung und Bildung bzw. Kunst sollen die zentralen Prinzipien der didaktischen Ausgestaltung einer „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ und deren Bildungsziele aufgezeigt werden.

3.1 Nachhaltige Entwicklung im Verhältnis zu Bildung und Kunst

Der vor 300 Jahren in der Forstwirtschaft eingeführte Begriff „Nachhaltigkeit“ wurde auf Grund der ökologischen Krise Ende des letzten Jahrhunderts erneut populär. Ausgehend von dem sogenannten Brundtland-Bericht „Our Common Future“, der

[nachhaltige Entwicklung als] eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen [definierte,][16]

fand die nachhaltige Entwicklung 1992 mit der Unterzeichnung der „Agenda 21“[17] Eingang in die internationale und damit auch deutsche Umweltpolitik.

Nachhaltige Entwicklung versteht sich als regulative Idee im Sinne Kants[18], was Nachhaltigkeit zu einer Orientierungsgröße für ergebnisoffene menschliche Such- und Lernprozesse macht[19].Dabei basiert Nachhaltigkeit, als übergeordnete Leitlinie für die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, auf der Vision einer besseren, gerechteren Zukunft und geht somit nicht mehr von einem Bedrohungsszenario aus. Auf dem Weg zur nachhaltigen Entwicklung werden verschiedenen Strategien verfolgt, die in einem diskursiven und partizipativen Prozess der Konsens- und Entscheidungsfindung immer wieder neu auszuhandeln sind. Neben der Effizienz-, Konsistenz- und Permanenzstrategie gehören dazu die Suffizienzstrategie, die eine Veränderung des Lebensstils hin zum bewussteren Umgang mit materiellen Gütern und der Neubewertung von Lebensqualität im Sinne von „Gut leben statt viel haben“[20] einfordert. Des Weiteren werden das solidarische Zusammenleben und die Prinzipien Vielfalt, Selbstorganisation, Resilienz, Lern- und Wandlungsfähigkeit sowie Fehlerfreundlichkeit vorgeschlagen[21].

Die Umsetzung solcher Strategien geht nicht ohne Bildung:

Es ist eine Bildungsaufgabe, die Menschen in die Lage zu versetzen, die weitere gesellschaftliche Entwicklung zukunftsfähig gestalten zu können. Der Weg zur Nachhaltigkeit führt über die Bildung.[22]

Während in internationalen und nationalen programmatischen Dokumenten zur nachhaltigen Entwicklung die zentrale Bedeutung von Bildung betont wird, fehlen ähnliche Aussagen zur Kunst. So gibt es in der „Agenda21“nur eine einzige Stelle, in der zudem nur in instrumenteller Art, auf Kunst Bezug genommen wird. Im Kapitel „Förderung der Schulbildung, des öffentlichen Bewusstseins und der beruflichen Aus- und Fortbildung“ wird den Staaten empfohlen, eine öffentliche Diskussion über nachhaltige Entwicklung in Gang zu bringen und

[dabei] ästhetische […] Aspekte […] zu berücksichtigen […] und eine kooperative Beziehung zu […] populären Theatergruppen […]zu pflegen, indem sie im Rahmen von Gesprächen deren Erfahrungen mit der Beeinflussung von öffentlichen Verhaltens- und Verbrauchsmustern zu ergründen versuchen und von deren Methoden umfassenden Gebrauch machen[23].

3.2 Didaktische Ausgestaltung der „Bildung für nachhaltige Entwicklung“

3.2.1 Leitziel Gestaltungskompetenz

„Bildung für nachhaltige Entwicklung“ will Menschen den Erwerb von Gestaltungskompetenz ermöglichen,[24]

[damit sie fähig werden] Wissen über nachhaltige Entwicklung anwenden und Probleme nicht nachhaltiger Entwicklung erkennen zu können. Das heißt, aus Gegenwartsanalysen und Zukunftsstudien Schlussfolgerungen über ökologische, ökonomische und soziale Entwicklungen in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit ziehen und darauf basierende Entscheidungen treffen, verstehen und individuell, gemeinschaftlich und politisch umsetzen zu können, mit denen sich nachhaltige Entwicklungsprozesse verwirklichen lassen[25].

So wird die Fähigkeit, die Gesellschaft in aktiver Teilhabe im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung gestalten zu können, ohne dies - aus pädagogischer Perspektive -zu müssen, zum zentralen Lehrziel einer „Bildung für nachhaltige Entwicklung“. Mit der Betonung auf Selbstbestimmung und Selbststeuerung ist die Gestaltungskompetenz an die systemisch-konstruktivistische Didaktik anschlussfähig.

Die Gestaltungskompetenz setzt sich aus den folgenden zehn Teilkompetenzen zusammen:

1. Weltoffen und neue Perspektiven integrierend Wissen aufbauen
2. Vorausschauend denken und handeln können
3. Interdisziplinär Erkenntnisse gewinnen und handeln
4. Selbstständig planen und handeln können
5. Gemeinsam mit anderen planen und handeln können
6. An Entscheidungsprozessen partizipieren können
7. Sich motivieren können, aktiv zu werden
8. Andere motivieren können, aktiv zu werden
9. Eigene Leitbilder und die Anderer reflektieren können
10. Empathie und Solidarität für Benachteiligte zeigen können[26]

3.2.2 Didaktische Prinzipien

„Bildung für nachhaltige Entwicklung“ fühlt sich einem modernen Lernverständnis verpflichtet und basiert auf einer systemisch-konstruktivistischen Didaktik. Deshalb sind Lernumgebungen erforderlich, die den Umgang mit Komplexität, Wissen und Nichtwissen, Betroffenheit und Verantwortung zur Entwicklung von „Werten und Einstellungen, Fähigkeiten und Verhaltensweisen, die mit einer nachhaltigen Entwicklung vereinbar sind“[27] ermöglichen. Dazu werden beeinflussbare, aber nicht idealtypische Situationen mit komplexen Ausgangsproblemen konstruiert, in denen Lernende jetzt oder in naher Zukunft handeln müssen. In einer Abfolge aus handelnder Auseinandersetzung, sozialem Austausch und anschließender Reflexion erwerben die Lernenden möglichst eigenständig das für sie viable Wissen und Können.

Weitere didaktische Prinzipien ergeben sich aus den Forderungen der „Agenda 21“ nach Interdisziplinarität, Methodenvielfalt, wirksamen Kommunikationsmitteln und einer Neuausrichtung der Bildung auf eine nachhaltige Entwicklung[28].So soll sich „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ an der anzustrebenden Vision einer positiven Zukunft orientieren und die damit verbundenen Chancen thematisieren. Aus dem Retinitätsprinzip leitet sich das Prinzip des vernetzenden Lernens ab, wonach natur-, sozial- und geisteswissenschaftliche, lokale und globale Sichten sowie Gegenwärtiges und Zukünftiges in ihrer Aufeinander-Bezogenheit bearbeitet werden sollen.

3.2.3 Themen

Aus dem Konzept der nachhaltigen Entwicklung lässt sich kein verbindlicher Themenkanon ableiten. Das bedeutet allerdings nicht, dass alle Themen gleich gut geeignet sind. Geeignete Themen beinhalten ökologische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Fragestellungen und deren Verknüpfungen (Retinität) sowie Gerechtigkeitsfragen zu interkulturellen und generationsübergreifenden Themen. Zudem eignen sich Themen, die Nachhaltigkeitsstrategien erlebbar und nachvollziehbar machen, lokale oder globale Nachhaltigkeitsdefizite sowie die Schlüsselprobleme der epochal typischen Menschheitsaufgaben aufzeigen[29].

4 Ästhetische Bildung

Ausgehend von einer kurzen Klärung der zentralen Begriffe ästhetischer Bildung wird in diesem zentralen Kapitel das, der ästhetischen Erfahrung innewohnende bildungswirksame Potenzial aufgezeigt und den Bereichen der Selbstbildung, der sozialen Bildung und der Bildung des Ästhetischen zugeordnet.

4.1 Bildung und Ästhetik

4.1.1 Bildung

Für Immanuel KANT bestimmte sich Bildung in der Fähigkeit des Selberdenkens, in der Bereitschaft zuzuhören, nachzudenken und dem besseren Argument zuzustimmen[30].Wilhelm von HUMBOLDT definierte Bildung als „die Verknüpfung unseres Ichs mit der Welt“[31], als „nicht abschließbar[e]“[32] „schöpferische Selbsttätigkeit“[33], hin zum menschlichen Ganzen.

[...]


[1] HENTSCHEL, 1996

[2] EAGLETON, 1997, S. VII

[3] Vgl. BECK, 2006, S. 121.ff

[4] Vgl. WELSCH, 1990, S. 21

[5] Vgl. LUHMANN, 2009

[6] Vgl. TREIBEL, 2006, S. 37

[7] REICH, 2006, S. 75

[8] REUSSER & REUSSER-WEYENETH, 1994, S. 16

[9] Vgl. KRÜSSEL, 2002, S. 95

[10] MATURANA & VARELA, 2009, S. 56

[11] Vgl. SIEBERT, 2005, S. 31 ff

[12] Vgl. SIEBERT, 2005, S. 34

[13] Vgl.REICH, 2002

[14] Vgl. GIEL, HILLER, & KRÄMER, 1988

[15] Vgl. REICH, 2006, S. 26

[16] HAUFF, 1987, S. 46

[17] Vgl. BMU - BUNDESMINISTERIUM FÜR UMWELT, NATURSCHUTZ UND REAKTORSICHERHEIT (Hrsg.), 1993

[18] Vgl. ENQUETE-KOMMISSION "SCHUTZ DES MENSCHEN UND DER UMWELT", 1998, S. 27 f.

[19] Vgl. REIßMANN, 1998, S. 67

[20] BUND & MISEREOR (Hrsg.), 1996, S. 206

[21] Vgl. CHRISTEN, 1999, S. 58

[22] DEUTSCHE UNESCO-KOMMISSION/NATIONALKOMITEE FÜR DIE UN-DEKADE (Hrsg.), 2008, S. 7

[23] BMU (Hrsg.) 1993, S. 288 f.

[24] Der hier verwendete Begriff der Gestaltungskompetenz hat nichts mit dem Kompetenzbegriff aus den Bildungsstandards im Fach Theater (Darstellendes Spiel) zu tun.

[25] PROGRAMM TRANSFER-21 KOORDINIERUNGSSTELLE FREIE UNIVERSITÄT BERLIN (Hrsg.), 2007, S. 12

[26] Vgl. DE HAAN, G., 2008, S. 32

[27] Vgl. BMU (Hrsg.) 1993

[28] Vgl. BMU (Hrsg.) 1993

[29] Vgl. KLAFKI, 2001

[30] Vgl. KANT, 1986, S. 452

[31] HUMBOLDT, 1960, S. 506

[32] BLANKERTZ, 1982, S. 101

[33] HUMBOLDT, 1960, S. 506

Ende der Leseprobe aus 44 Seiten

Details

Titel
Ästhetische Nachhaltigkeitsbildung. Über den Beitrag der Theaterpädagogik zur Bildung für nachhaltige Entwicklung
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
44
Katalognummer
V211539
ISBN (eBook)
9783656397700
ISBN (Buch)
9783656397779
Dateigröße
658 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Mit "Auszeichnung" bewertet.
Schlagworte
ästhetisch, Nachhaltigkeitsbildung, Theaterpädagogik, Bildung für nachhaltige Entwicklung, systemisch-konstruktivistisch, Bildungschancen, Bildungsprinzipien, Didaktik, ergebnisoffen, Theaterworkshop, Theater, Pädagogik, Gestaltungskompetenz, Postmoderne, Konstruktivismus, Aisthetik, Ästhetik, Anästhetik, ästhetische Raum, Inszenierung, Reflektion, Selbstbildung, Workshop
Arbeit zitieren
Lars Paschold (Autor:in), 2012, Ästhetische Nachhaltigkeitsbildung. Über den Beitrag der Theaterpädagogik zur Bildung für nachhaltige Entwicklung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/211539

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