„Gegen zwölf Uhr standen schon einige Leute auf, verbeugten sich, reichten einander die Hände, sagten, es wäre sehr schön gewesen und gingen danach durch den großen Türrahmen ins Vorzimmer, sich anzukleiden. [...]
Ich saß an einem kleinen Tischchen – es hatte drei gespannte dünne Beine – nippte gerade an dem dritten Gläschen Benediktiner und übersah im Trinken zugleich meinen kleinen Vorrat von Backwerk, das ich selbst ausgesucht und aufgeschichtet hatte.
Da sah ich meinen neuen Bekannten ein wenig zerrauft und aus der Ordnung geraten an dem Türpfosten eines Nebenzimmers erscheinen, aber ich wollte wegsehn, denn es ging mich nichts an.“1
Die Beschreibung eines Kampfes beginnt nicht so spektakulär wie der Prozeß: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“2 Der Roman endet ebenso aufsehen-erregend, vielleicht sogar spektakulös: „Am Vorabend seines einunddreißigsten Geburtstages – es war gegen neun Uhr abends, die Zeit der Stille auf den Straßen – kamen zwei Herren in K.s Wohnung.“ In einem Steinbruch stößt ihm der eine schließlich „ein langes, dünnes, beiderseitig geschärftes Fleischermesser […] tief ins Herz“ und dreht es dort zweimal. „Wie ein Hund!“ [denkt K.], es war, als solle die Scham ihn überleben.“3
Im Vergleich dazu scheint der Anfang des Kampfes nichts Außergewöhnliches zu versprechen, der Leser erwartet das gewohnte Ausklingen einer Abendgesellschaft, zudem ist es spät geworden. Und doch werden uns in dem Ich und dem Bekannten die beiden Antagonisten vorgestellt, die den zu beschreibenden Kampf untereinan-der austragen werden.
1. Kampfes beginn und Prozeß beginn
„Gegen zwölf Uhr standen schon einige Leute auf, verbeugten sich, reichten einander die Hände, sagten, es wäre sehr schön gewesen und gingen danach durch den großen Türrahmen ins Vorzimmer, sich anzukleiden. [...]
Ich saß an einem kleinen Tischchen – es hatte drei gespannte dünne Beine – nippte gerade an dem dritten Gläschen Benediktiner und übersah im Trinken zugleich meinen kleinen Vorrat von Backwerk, das ich selbst ausgesucht und aufgeschichtet hatte.
Da sah ich meinen neuen Bekannten ein wenig zerrauft und aus der Ordnung geraten an dem Türpfosten eines Nebenzimmers erscheinen, aber ich wollte wegsehn, denn es ging mich nichts an.“[1]
Die Beschreibung eines Kampfes beginnt nicht so spektakulär wie der Prozeß: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“[2] Der Roman endet ebenso aufsehen-erregend, vielleicht sogar spektakulös: „Am Vorabend seines einunddreißigsten Geburtstages – es war gegen neun Uhr abends, die Zeit der Stille auf den Straßen – kamen zwei Herren in K.s Wohnung.“ In einem Steinbruch stößt ihm der eine schließlich „ein langes, dünnes, beiderseitig geschärftes Fleischermesser […] tief ins Herz“ und dreht es dort zweimal. „Wie ein Hund!“ [denkt K.], es war, als solle die Scham ihn überleben.“[3]
Im Vergleich dazu scheint der Anfang des Kampfes nichts Außergewöhnliches zu versprechen, der Leser erwartet das gewohnte Ausklingen einer Abendgesellschaft, zudem ist es spät geworden. Und doch werden uns in dem Ich und dem Bekannten die beiden Antagonisten vorgestellt, die den zu beschreibenden Kampf untereinan-der austragen werden.
2. Einordnung in Kafkas Gesamtwerk und Beurteilung
Die Beschreibung eines Kampfes nimmt in Kafkas Gesamtwerk eine exponierte Stellung ein. Die derzeit in Bielefeld lehrende PD’ Susanne Kaul führt dazu aus: „Eine erste Fassung dieses ältesten überlieferten Erzählzyklus’ entstand ab 1904 und ist in den folgenden Jahren erweitert und überarbeitet worden.“[4] Sie schreibt dem Motiv des Kampfes eine auf das wesenhafte Dasein Kafkas bezogene Bedeutung zu und belegt das an einer seinem Tagebuch entnommenen Beschrei-bung aus dem Jahr 1920:
„Er hat zwei Gegner, der erste bedrängt ihn von rückwärts vom Ursprung her, der Zweite verwehrt ihm den Weg nach vorne. Er kämpft mit beiden. Eigentlich unterstützt ihn der Erste im Kampf mit dem Zweiten, denn er will ihn nach vorne drängen und ebenso unterstützt ihn der Zweite im Kampf mit dem Ersten, denn er treibt ihn doch zurück. So ist es aber nur theoretisch. Denn es sind ja nicht nur die 2 Gegner da, sondern auch noch er selbst und wer kennt eigentlich seine Absichten?“[5]
Zwar bezieht sie diese Kampfbeschreibung konkret auf die Stellung K.s zwischen dem Dorf und dem Schloss (im gleichnamigen Roman), aber sie sieht in ihr sozusagen „die Ursituation für einen Kampf mit der eigenen Existenz.“ Dieses Motiv ziehe sich von unserem Text „bis hin zu Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse (1924), wo erzählt wird, wie Josefine um ihre Existenz und Achtung als Sängerin kämpft. Auch der Brief an den Vater ist letztlich nichts als eine Kampfbe-schreibung, da Worte zur Verteidigung ausgesprochen und reichlich Hiebe ausgeteilt werden.“[5]
Über die Werkentwicklung und den Nachlass des Dichters urteilt S. Kaul so: „Kafka wurde erst nach seinem Tod berühmt, und dass er überhaupt bekannt wurde, ist der postumen Edition seiner Texte durch Max Brod zu verdanken. Brod gab den Fragmenten das Gesicht von fertigen Romanen und half der Öffentlichkeit durch interpretatorische Leitlinien, die Schriften zu lesen. Er griff dabei allerdings stark in die Gestalt der Texte ein und schuf einen Autor, den man vorher nicht kannte und den es so auch nicht gegeben hat.“[6]
In dem meinen Schülern zugänglichen Abriss über Kafka aus dem Klettverlag nimmt Peter Beicken eine grobe Phaseneinteilung vor: „Die Einteilung von Kafkas Werk in eine Frühphase (bis 1912), die Reifezeit (1912-1917/20) und eine Spät-phase (1921-1924) deckt sich mit den wichtigen Zäsuren im Leben des Dichters, besonders die Jahre 1912 (Kennenlernen von Felice Bauer, Heiratspläne) und 1917 (Ausbruch der Krankheit) können als wichtige Lebenswendepunkte gelten, die auch für die Werkphasen von Bedeutung sind. Die Werke der Frühphase, sieht man von den vernichteten „Kindersachen“ ab, die Kafka für „wertlos“ und „Schwulst“ hielt, um-fassen die Novelle Beschreibung eines Kampfes (1904/05), das Romanfragment Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande (1906/07), einige in Briefen mitgeteilte Gedichte, das 1909 einsetzende Tagebuch (frühere haben sich nicht erhalten) und die achtzehn im Band Betrachtung zusammengefassten kleinen Prosaskizzen sowie einige verstreut publizierten (sic!) Stücke, Besprechungen und auch berufliche Schriften.“7
Beicken nennt die Beschreibung eines Kampfes, „die Kafka einer Bearbeitung unterzog (1909/10), […] ein verwirrendes Werk. Die vergleichsweise realistische Rahmenhandlung beginnt novellenhaft mit der Schilderung eines Aufbruchs aus einer Abendgesellschaft (Kostümball). Ein Spaziergang durch das nächtliche Prag führt auf den Laurenziberg, den >Entscheidungsort< von Kafkas innerer Existenz. Dort spitzt sich das spannungsgeladene Verhältnis zwischen dem Ich-Erzähler und seinem Begleiter, […], plötzlich zu, weil der Ich-Erzähler durch die Mitteilung einer offensichtlich nur erfundenen bevorstehenden Verlobung diesen Bekannten derart unter Druck setzt, dass er sich mit einem Messer eine Armwunde zufügt […].“[7]
Beicken fügt hinzu: „Aufgrund der spiegelnden Variation wird die Beschreibung eines Kampfes oft als Projektion innerer Konflikte, als Darstellung einer Ich-Spaltung (Ich-Erzähler – Bekannter) und phantastische Inszenierung eines seelischen Zweikampfes zwischen lebensferner Welthaltung und vitaler Anpassung an die Realität in ein und derselben Person gedeutet.“[8]
Hartmut Binder vermeidet in seinem Handbuch bei der Charakterisierung des Prot-agonisten den Begriff Dissoziation und umschreibt allgemeiner: „In Beschreibung eines Kampfes werden schon elementare Charakteristiken eingeführt. Ein Ich und sein Bekannter stehen sich im Kampf gegenüber. Die indirekt erschließbaren Eigenschaften des Ich sind: Einsamkeit, Angst, Melancholie, Unsicherheit, Hochmut, kindische Züge, ständiges Reflektieren. Seine Handlungen stehen unter obsessiven Zwängen.“[9]
Binder erklärt aber diese Zwangsvorstellungen nicht näher, stattdessen weist er auf ein soziales Merkmal hin: „Die Zentralfigur in der Beschreibung eines Kampfes ist ein Mann. Er ist Junggeselle. Abgesehen von Josefine, der Sängerin […], sind alle Prot-agonisten männlich, Junggesellen und kinderlos, mit der Ausnahme Karl Ross-manns, dessen Kind aber in seinem Bewusstsein nicht existiert. […] Die Jung-gesellenfigur verkörpert narzisstische Selbstbezogenheit. […] Es ist auffallend, dass die Literatur vor und um die Jahrhundertwende von Junggesellen bevölkert ist.“9 Von den vielen Unverheirateten, die durch die Bücher geistern, nenne ich nur die bekanntesten: Dostojewskis Raskolnikow, Hofmannsthals Claudio, Rilkes Malte, Oscar Wildes Dorian Gray und Thomas Manns Tonio Kröger mit seiner Sehnsucht nach den „Wonnen der Gewöhnlichkeit“.
Ingeborg Henel spricht im Kapitel „Periodisierung und Entwicklung“ des Binder-Handbuches von einer „unglücklichen Struktur und andere[n] Mängel[n]“[10] der Beschreibung eines Kampfes.
Binder weist natürlich auch auf Hofmannsthal hin, meint aber, „da der berühmte <Chandos-Brief> erst 1905 weite Verbreitung fand, lässt er sich kaum auf die ersten Teile der Beschreibung eines Kampfes beziehen.“ Die Kritiker stimmten jedoch darin überein, „dass das, was Rilke und Hofmannsthal als kulturelle Krise empfanden, als Brennpunkt ihrer restaurativen Energien, für Kafka eine grundsätzliche Seinsweise bedeutete. Sein Schreiben entsteht gleichsam nach dem Zusammenbruch; er geht auf dem Trümmerfeld hin und her und sucht nach einer Modalität, wobei Sprache und Erfahrung einander wieder entsprechen können.“[11]
Auch Manfred Engel unterscheidet in dem bei Metzler erschienenen Handbuch drei Werkphasen des Dichters, zwischen denen er diese „Grenzpunkte“ ausmacht: „1. die Entstehung des Urteil am 22./ 23. September 1912 – was sicher konsens-fähig sein dürfte – und 2. Ausbruch und Diagnose der Lungenkrankheit im August 1917 bzw. der am 12. September 1917 beginnende, fast acht Monate dauernde Erholungsaufenthalt im nordböhmischen Zürau.“12 Weiter heißt es dort: „Über Kafkas frühes Werk wissen wir nur so viel - oder besser gesagt: so wenig - , wie die erhaltenen Schriften aussagen. Den überwältigenden Teil der in dieser Zeit entstandenen Texte (einschließlich der Korrespondenz) hat Kafka selbst vernichtet – sicher in einer ganzen Serie von Autodafés; noch am 11. März 1912 notiert er im Tagebuch <Heute viele alte widerliche Papiere verbrannt>.“[12]
Zu Kafkas frühen Werken zählen nach Engel
- die Beschreibung eines Kampfes, an der er „von mindestens 1904 bis zum Okt./ Nov. 1910“ arbeitete12,
- die Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande, bearbeitet „vom Frühjahr 1907 bis Sommer 1909“[12] und
- der „erst im November 1912 erschienene[n] Sammelband Betrachtung, den Kafka durch eine Auswahl aus seiner bisher verfassten Kurzprosa zusammengestellt hatte.“12
Engel stellt in diesen frühen Werken Zeiteinflüsse und –bezüge fest, betont aber, „zentral“ sei „weniger die in der Epoche vielbeschworene <Sprachkrise> oder die der Zeit zugeschriebene Neigung zur <Ich-Dissoziation>, […], sondern eher ein Lebens-gefühl, das Kafka im Text als „Seekrankheit auf festem Lande“ bezeichnet – Sprach-krise und Ich-Dissoziation sind nur die Epiphänomene.“[13]
Was mit der „Seekrankheit auf festem Lande“[14] gemeint ist, erläutert der Ich-Erzähler der Beschreibung eines Kampfes, in der Figur des Beters auftretend, dem Dicken so:
„Da ich schwieg und nur eine unwillkürliche Zuckung mein Gesicht durchfuhr, fragte er: „Sie glauben
nicht daran, dass es andern Leuten so geht? Wirklich nicht? Ach hören Sie doch! Als ich, ein kleines Kind, nach einem kurzen Mittagsschlaf die Augen öffnete, hörte ich, meines Lebens noch nicht ganz
sicher, meine Mutter in natürlichem Ton vom Balkon hinunterfragen: „Was machen Sie meine Liebe? Ist das aber eine Hitze!“ Eine Frau antwortete aus dem Garten: „Ich jause so im Grünen.“ Sie sagten es ohne Nachdenken und nicht besonders deutlich, als hätte jene Frau die Frage, meine Mutter die Antwort
erwartet.“14
Dieser Textdialog zwischen dem Beter und dem Dicken umschreibt die vielen Figuren Kafkas abhanden gekommene positive Lebenseinstellung. Engel weist darauf hin, dass Kafka dieses „Syndrom ontologischer Bodenlosigkeit“13 mit vielen zeitgenössischen Dichtern teile. „Thematisch“ habe „sich dieses krisenhafte Lebens-gefühl in Kafkas Frühwerk vor allem in dem Symptomkomplex niedergeschlagen, den alle Protagonisten teilen: Vitalitäts- und Willensschwäche, Entschlusslosigkeit, Selbstzweifel, Minderwertigkeitsgefühl, Lebensangst und Lebensekel, Einsamkeit aus Beziehungsunfähigkeit bei zugleich tiefer Sehnsucht nach Kontakten und Beziehungen (die jedoch, wenn sie denn überhaupt gelingen, sofort zu Macht- und Selbstbehauptungskämpfen entarten) – ein Symptomenkatalog, den man in der Zeit gern unter dem Oberbegriff der <Décadence> zusammenfasst.“13
Aus dieser Verunsicherung schließt Engel, die „innere Welt“ könne ihre Erfahrungen mit der äußeren nicht mehr „in konventioneller Begriffssprache“13 aus-drücken. Kafka habe den Versuch unternommen, dieses Problem dadurch zu lösen, dass er der Innenwelt einen eigenen „Erzählraum“ einräume, d. h. „das Ich“ [teile sich] „in mehrere Personen auf, um seine Innenwelt in ihren widersprüchlichen Positionen erzählbar zu machen.“ Allerdings habe diese „Freisetzung von der Außenwelt“ zur Folge, dass „alle Figuren, die sich vom <Realitätsprinzip> dispensie-ren wollen, hoffnungslos scheitern.“13 In einer Art „doppelte[r] Buchführung“ ergebe sich so „ein eigentümliches Nebeneinander von <objektiver> Außenweltbeschreibung und <subjektivem> Inneren.“13
Zusammenfassend nennt Engel dann noch einmal die Themen und Verfahren, mit denen Kafka v o r 1912 experimentiert habe; ich greife die für die Beschreibung eines Kampfes wichtigen heraus:
- „das Grundthema der <Desorientierung> durch ein Herausfallen aus bisher fraglos akzeptierten Alltagskonzeptionen“,
- „der zwanghafte Selbstbehauptungskampf der verunsicherten Protagonisten (vor allem in Beschreibung eines Kampfes)“,
- „die Aufspaltung des Ich in selbständige Figuren (besonders in Beschreibung eines Kampfes)“,
- „diverse Ansätze zum Bruch mit realistischen Erzählkonventionen (am stärksten in Beschreibung eines Kampfes, am schwächsten in den Hochzeitsvorbereitungen)“,
- „personales Erzählen, hier noch in der Ich-Form“,
- im Sammelband Betrachtung „erste Ansätze zu <parabolischem> Erzählen“13.
Die Beschreibung eines Kampfes bleibt zu Lebzeiten Kafkas unpubliziert. Von der Erzählung existieren zwei verschiedene Versionen.
2.1 Fassung A der Beschreibung eines Kampfes
„Die sog. <Fassung A> entstand zwischen 1904 und 1907, die erhaltene Reinschrift vermutlich zwischen September und Dezember 1907. Ab 1909, wohl nicht vor Anfang Mai, verfasste Kafka eine zweite, titellose Variante des Textes, die laut Brod […] unvollendet gebliebene <Fassung B>.“[15]
Obwohl der gesamte Text erst postum publiziert worden ist, hat Kafka doch einzelne Textteile noch selbst veröffentlicht, u. a. die Parabel „Die Bäume“, die er 1912 in den Sammelband Betrachtung aufnimmt.
„Bis die Beschreibung eines Kampfes 1969 in einer von Ludwig Dietz erarbeiteten textkritischen Parallelausgabe nach den Handschriften erschien, existierte allein die von Max Brod 1936 herausgegebene Textversion.“15 Ich zitiere die Beschreibung eines Kampfes nicht nach den sechsbändigen, von Max Brod und Heinz Politzer herausgegebenen Gesammelten Schriften, sondern nach den wieder von Max Brod herausgegebenen Gesammelten Werken in vier unnummerierten Einzelbänden (1950-1958), die ab 1965 durch drei Bände mit den Briefen an Milena (BM/ GW), an Felice (BF/ GW) und an Ottla (BO/ GW) ergänzt werden. „Alle Ausgaben Brods waren von seiner Absicht bestimmt, Kafka als Autor durchzusetzen. Deswegen veröffentlichte er zuerst die Romane […]. Und deswegen versuchte er, den Fragmentcharakter aller publizierten Texte möglichst zu verschleiern, sie in möglichst <fertige> und gut lesbare <Werke> zu verwandeln. Brod kontaminierte verschiedene Fassungen – am drastischsten wohl in seinen Versionen der Beschreibung eines Kampfes und des Jäger Gracchus - […]“.16 Ich überschlage hier die anderen, im Kafka-Handbuch Brod angelasteten ‚Sünden’. Wenn ich im Folgenden aus der Beschreibung eines Kampfes zitiere, dann zitiere ich also aus den Gesammelten Werken, i. e. aus dem unter Nr. 1 und 14 der Anmerkungen bibliographierten, von Brod kontaminierten und 1954 bei Fischer erschienenen Band. Nur in Aus-nahmefällen, wenn ich es für den Sinn wichtig halte, zitiere ich nach der zuerst 1970 von Paul Raabe herausgegebenen Ausgabe der Sämtlichen Erzählungen.
Die von Brod vorgenommene Kontamination hebt auch Jost Schillemeit hervor, er sagt, der Text sei „lange Zeit nur in der beide [Fassungen] ineinander schiebenden Mischfassung zugänglich [gewesen], die Max Brod für den ersten Abdruck im fünften Band der ersten Kafka-Gesamtausgabe [= Beschreibung eines Kampfes / GS, 1936] hergestellt hatte.“[17] Der Verfasser bestätigt das Entstehungsdatum 1907 als Terminus ante quem durch einen interessanten Hinweis: Die erste Fassung (A) „wurde in einem Schulheft niedergeschrieben, das mit diesem Text gerade bis zur letzten Seite gefüllt ist, und zwar in sogenannter <deutscher Kurrentschrift>, was darauf schließen lässt, dass die Niederschrift vor Ende 1907 stattfand (da Kafka diese Schrift nur bis zu diesem Zeitpunkt benutzt hat, um dann zur lateinischen Schreibschrift überzugehen).“17
Auf der Titelseite der Fassung A befindet sich senkrecht unter dem Titel Beschrei - bung eines Kampfes „das bekannte Motto, das aus einer kafkaschen Gedichtstrophe besteht (der zweiten und letzten Strophe eines Gedichtes, das Kafka in einem Brief an Hedwig Weiler vom 29.9.1907 vollständig zitiert):
„Und die Menschen gehn in Kleidern
Schwankend auf dem Kies spazieren
Unter diesem großen Himmel,
der von Hügeln in der Ferne
sich zu fernen Hügeln breitet.“17
Nur die Fassung A trägt einen Titel, die Handschrift der Fassung B ist nach Schille-meit nicht in einem „Schulheft“, sondern „auf losen Blättern niedergeschrieben“ und beginnt „gleich mit dem Text, ohne Titel und Motto, und ist sehr wahrscheinlich gegen ihr Ende hin unvollständig erhalten.“[18]
„Der berühmte, wahrscheinlich am 28.8.1904 geschriebene Brief an Brod, in dem die Geschichte von den zwei Frauen im Garten erzählt wird, die sich fast mit densel-ben Worten auch in der Beschreibung eines Kampfes (und zwar in beiden Fassun-gen) findet“, ist für Schillemeit ein „Datierungsindiz“ für eine sehr frühe Phase der Erstfassung18 und damit ein deutlicher Hinweis auf den Terminus post quem. Der Autor weist auch auf ein „merkwürdiges Detail“ der Erstfassung hin, „auf das Dietz bereits aufmerksam gemacht hat […]: die Stelle im Gespräch mit dem Betrunkenen, wo die Sprecherfigur dieses Textstücks sagt: „[…] ich bin dreiundzwanzig Jahre alt, aber ich habe noch keinen Namen“: eine Stelle, die […] als verkappte, „kryptographische“ Selbstcharakteristik des Autors zu verstehen ist und damit auf die Zeit zwischen Sommer 1906 und Sommer 1907 als Entstehungszeit dieses Textstücks verweist.“[19] u. 20
2.2 Änderungen in der Fassung B der Beschreibung eines Kampfes
Hartmut Binder hebt in seinem Handbuch hervor: „Kafka hat in der zweiten Fassung der Beschreibung eines Kampfes ganze Abschnitte solcher phantastischer Episoden wie die mit dem Dicken gestrichen. Auch übertrieben groteske Stellen hat er fallen lassen, aber den Spaziergang durch die Phantasie-Landschaft hat er stehen lassen, eine so groteske Episode wie das Gespräch mit dem Betrunkenen hat er noch 1909 im <Hyperion> gedruckt, und die Skizze von „lauter niemand“ aus der zweiten Fassung hat er 1912 unter dem Titel Der Ausflug ins Gebirge in die Betrachtung aufgenommen. Im allgemeinen ist die Zweitfassung der Beschreibung eines Kampfes jedoch eine Straffung gegenüber der ursprünglichen […]. Dieser Straffung dient vor allem die Vereinfachung der Struktur: Die Binnenerzählung vom Dicken fällt weg, und die Begegnung mit dem Beter wird zu einem Erlebnis der Hauptgestalt gemacht.“[21]
Einen interessanten Hinweis auf die mir nicht zugängliche Fassung B habe ich bei Kindler (KLL) gefunden: in der Neufassung habe Kafka den Dicken eliminiert: „Der Ich- Erzähler des Anfangsabschnitts ist es, der das Gespräch mit dem Beter führt und darüber berichtet. Das Verbindungsglied zwischen dem Teil, der inhaltlich den früheren Abschnitten II 1 und II 2 [sc. Ritt und Spaziergang] entsprach, und diesem Gespräch in seiner umgearbeiteten Gestalt bildet eine neu entstandene Partie, in der der Ich-Erzähler im Traum in seine Kindheit zurückkehrt. Diese Passage wurde von Kafka später unter dem Titel Kinder auf der Landstraße als eigenständige Skizze in die Sammlung Betrachtung aufgenommen. Aufgrund der Vereinfachung des Aufbaus von Beschreibung eines Kampfes durch die Eliminierung des Dicken konnten alle erläuternden Überschriften entfallen.“[22]
Die Fassung B ist Fragment geblieben, denn „der Neuansatz zu der Novelle bricht in dem Teil, der inhaltlich dem Gespräch mit dem Beter in <A> entspricht, ab. Wie sein zweites Tagebuch dokumentiert, hat Kafka sich noch lange um eine Fortführung bemüht. In diesem Heft gibt es eine große Zahl von Ansätzen dazu, von denen viele – fast formelhaft – mit den Worten <Du sagte ich> beginnen. Obwohl er am 15. November 1910 seine Entschlossenheit bekundete, diesen Text nicht aufzugeben - <ich werde in meine Novelle hineinspringen und wenn es mir das Gesicht zerschneiden sollte> - kam es nicht zu seiner Vollendung.“22
Innerhalb der frühen Werke hat Barbara Neymeyr im KHb [zu dieser Abkürzung vgl. Anm. 12] die Beschreibung eines Kampfes vorgestellt. Dort weist sie darauf hin, dass Kafkas frühe Erzählung allgemein aus zwei Gründen als schwieriger Text gelte, neben der „editionsphilologischen Problematik“ begegneten wir hier einer „besonderen Modernität“: „Kafka löst die Identität der Figuren und die Konturen der fiktionalen Wirklichkeit auf und stellt die etablierten Begriffe von Realität, Individualität, Bewusstsein und Sprache vor dem Hintergrund zeitgenössischer Krisenerfahrungen und philosophischer Diskurse radikal in Frage.“[23]
3. Kafkas Lektüren: Spuren von Stefan George
Was Frau Neymeyr sehr zurückhaltend mit ‚philosophischen Diskursen’ um-schreibt, erläutert Peter-André Alt in seiner Kafka-Biographie etwas näher. Er geht zunächst auf „Und die Menschen gehn in Kreisen“, den dem Prosafragment vorangestellten Fünfzeiler ein. Kafka, schreibt er, variiere damit ein besonders schönes Gedicht aus Stefan Georges Gedichtband Das Jahr der Seele von 1897, nämlich:
„Wir schreiten auf und ab im reichen flitter
Des buchenganges beinah bis zum tore
Und sehen aussen in dem feld vom gitter
Den mandelbaum zum zweitenmal in flore.“[24]
Nach Alt scheint Kafka für Lyrik „kein verfeinertes Sensorium“25 besessen zu haben, die Gedichte von Baudelaire, Mallarmé, Verlaine, Nietzsche und Hofmanns-thal scheinen ihm nicht behagt zu haben, sogar „die lyrischen Anfänge Rilkes ignoriert er offenkundig.“[25] Einzig George mag er, denn er macht Max Brod zu dessen 26. Geburtstag zum zweitenmal ein George-Geschenk: die 1895 erschie-nenen Hirten- und Preisgedichte. Alt deutet vage an, Kafka habe „in der ihm später eigenen Bewunderung autoritärer Selbstsetzung“ das von George verbreitete Gedankengut „nicht abgelehnt, sondern toleriert“ – obwohl die heutige Literaturgeschichte in der Ideologie des George-Kreises „Züge präfaschistischer Gemeinschaftsmodelle“26 sieht, kann ich im Rahmen dieser Arbeit darauf nicht eingehen.
Jedenfalls ist Kafka George auch über Hofmannsthals 1904 in der Neuen Rundschau erschienenes Gespräch Über Gedichte nahe gekommen. Gerhard Kurz merkt dazu an: „Brod gegenüber zitierte Kafka daraus die Wendung vom <Geruch feuchter Steine in einer Hausflur>, um zu demonstrieren, was er für gelungene Literatur hielt. Das Gespräch setzt ein mit einem Gespräch über Gedichte aus Stefan Georges Jahr der Seele (1897). Der Vers aus dem Gedicht Wir schreiten auf und ab im reichen flitter: „Die reifen früchte auf den boden klopfen“ hat offenbar einen Satz27 der Beschreibung eines Kampfes inspiriert: „Von den Obstbäumen schlugen Früchte irrsinnig auf den Boden.“28
Der Lektüre Kafkas hat Alt ein ganzes Kapitel gewidmet.29 Der Dichter baut sich mit der Zeit eine private Bibliothek auf, die neben den zeitgenössischen auch Werke des 18. und frühen 19. Jahrhunderts umfasst. Alt bemerkt dazu: „Kafkas Lesepensum unterliegt stets auch dem Anspruch, die Kanäle zu öffnen, die der alltägliche Lebensvollzug verstellt hat.“[30]
Was mit diesem Satz gemeint ist, erschließt sich aus der Stelle eines Briefes, den Kafka am 27.1.1904 an Oskar Pollak schreibt:
„Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben. Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder verstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Das glaube ich.“31
Alt sagt dazu treffend: „Da Literatur für Kafka Lebensersatz bedeutet, wird sie vorrangig unter Bezug auf ihre Identifikationsangebote ausgewählt. […] Kafkas Texte werden die Lektürespuren, die sie beeinflussen, später konsequent verdecken. Literatur ist in ihnen ausdrücklich kein Thema, denn ihre Protagonisten lesen nicht; aber auch Formen des Zitierens, des spielerischen Verweisens und Aufzeigens von Bezügen bleiben ihnen fremd. […] Auch wenn Kafka die literarischen oder biographischen Quellen, die seine literarische Arbeit speisen, im Zeichen einer vorsätzlichen Gedächtnistilgung versteckt hat, sollte man nicht darauf verzichten, sie aufzudecken und namhaft zu machen.“32
Alt schließt daraus, Kafka habe aufgrund seiner Lektüre sich inspirieren lassen und u. a. „immer wieder […] mythische Grundmuster“ genutzt, „mit deren Hilfe er seine imaginären Welten ins Bild setzt.“[32] Zu den seit der Antike vertrauten, über das Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert und bis in den späten Expressionismus tradierten Mythen gehört das Motiv des Kampfes. Kafka hat diesen Mythos in Beschreibung eines Kampfes aufgegriffen und dichterisch gestaltet. „Der Schauplatz“ der Rahmenerzählung „ist das nächtliche Prag, das in einer imaginären Reise vom inneren Stadtkern bis zur Kleinseite durchwandert wird: Ferdinandstraße, Kreuzherrenkirche, Karlsgasse, Karlsbrücke, Laurenziberg; nie wieder wird ein literarischer Text Kafkas die Topographie Prags vergleichbar konkret in seine fiktive Welt einbeziehen.“32
Im KHb findet sich eine Wiedergabe der von Kafka vorgenommenen dreigliedrigen Einteilung der Beschreibung eines Kampfes; ich versuche hier, ähnlich wie Alt, eine das Verständnis der Erzählung erleichternde, knappe Inhaltsangabe vorzustellen.
4. Gliederung der Kampfbeschreibung
Kafka hat seine Erzählung in drei mit römischen Ziffern bezeichnete Abschnitte gegliedert, deren mittlerer die lange Überschrift trägt: „Belustigungen oder Beweis dessen, dass es unmöglich ist zu leben“. Dieser mittlere, zweite Abschnitt ist wieder in vier, mit arabischen Ziffern versehene Unterabschnitte geteilt, die auch einen eigenen Zwischentitel besitzen: Ritt (II 1), Spaziergang (II 2), Der Dicke (II 3) und Untergang des Dicken (II 4). Zudem ist der dritte und längste Abschnitt (II 3) noch einmal in vier, mit kleinen Buchstaben gekennzeichnete weitere Gliederungsab-schnitte unterteilt.
Die beiden Rahmenteile ohne Überschrift (Abschnitte I und III) beinhalten die „aus der Sicht eines Ich-Erzählers dargebotene Rahmenhandlung.“32 Diese „umschließt eine mehrfach gestaffelte Binnengeschichte.“32 Die gliedert sich in Abschnitte mit Unterabschnitten so: II 1: Ritt, II 2: Spaziergang, II 3: Der Dicke, II 3 a: Ansprache an die Landschaft, II 3 b: Begonnenes Gespräch mit dem Beter, II 3 c: Geschichte des Beters, II 3 d: Fortgesetztes Gespräch zwischen dem Dicken und dem Beter, II 4: Untergang des Dicken.
[Abschnitt] I: Bei einer Abendgesellschaft begegnet der Ich-Erzähler seinem Bekannten, beide unternehmen einen Spaziergang durch das nächtliche Prag, der sie zum Laurenziberg führen soll. Sie kommen bis zur Karlsbrücke. Dort fragt sich der Ich-Erzähler, warum er mit diesem Menschen gehe, und fordert sich dann selbst auf:
„Also geh mit ihm zwar weiter auf den Laurenziberg, denn du bist schon auf dem Wege in schöner Nacht, aber lass ihn reden und vergnüge dich auf deine Weise, dadurch – sage es leise – schützt du dich auch am besten.“33
So schließt [Abschnitt] I.
[Abschnitt] II: In „Belustigungen oder Beweis dessen, dass es unmöglich ist zu leben“ geht die Geschichte dieses Spazierganges weiter, aber „gleichsam hinter der Szene, oder unbildlich gesprochen, jenseits des Horizonts der Erzählung.“ Schillemeit erklärt seine Formulierung so, dass sich die Hauptfigur „nämlich, im Augenblick des Über-gangs vom ersten zum zweiten Kapitel, sozusagen in zwei Teile spaltet: einen äußeren, der weiter mit dem „Bekannten“ auf den Laurenziberg geht, und einen inneren, der sich in seine Innenwelt zurückzieht und hier seinen eigenen Vergnü-gungen, seinen Gedanken und Phantasien, nachgeht und sich auf diese Weise belustigt, nachdem er schon einige Zeit vorher angefangen hatte, Überdruss an seinem neuen „Bekannten“ zu empfinden.“34
Mit diesem Sprung auf eine andere Ebene der Handlungsfolge verhält sich der Ich-Erzähler ähnlich, wie Eduard Raban in den Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande es sich träumend gewünscht hat:
„Und überdies kann ich es nicht machen, wie ich es immer als Kind bei gefährlichen Geschichten machte? Ich brauche nicht einmal selbst aufs Land fahren, das ist nicht nötig.
Ich schicke meinen angekleideten Körper. Wankt er zur Tür meines Zimmers hinaus, so zeigt das Wanken nicht Furcht, sondern seine Nichtigkeit. […] Denn ich, ich liege inzwischen in meinem Bett, glatt zugedeckt mit gelbbrauner Decke.“[35]
„In ganz ähnlicher Weise schickt offenbar der Held unserer Erzählung seinen „ange-kleideten Körper“ auf den Laurenziberg, lässt ihn mit oder besser: neben dem Bekannten den einmal begonnenen Spaziergang fortsetzen, während er selbst, d. h. sein inneres Ich, sich unterdessen „auf seine Weise vergnügt.“36
[Abschnitt] II 1: In der Innenwelt des Ich-Erzählers erlebt der Leser auf den folgenden Seiten odysseehafte Abenteuer des Ichs, nämlich zunächst einen „Ritt“ auf den Schultern seines Bekannten, bis dieser stürzt.
[Abschnitt] II 2: Der Ich-Erzähler geht dann allein weiter und macht einen „Spaziergang“ durch eine imaginierte Landschaft, verschläft die Nacht in einem Fichtenwald und hört am anderen Morgen Stimmen.
[Abschnitt] II 3: Hier erscheint dem Ich-Erzähler am jenseitigen Ufer eines vorgestellten Flusses „Der Dicke“ auf einer hölzernen Tragbahre.
[Abschnitt] II 3 a: Bei der Überquerung des Flusses hält der Dicke eine „Ansprache an die Landschaft“. Schon im Ertrinken erzählt er dem am anderen Flussufer befindlichen Ich-Erzähler in
[Abschnitt] II 3 b: von seinem „Begonnenen Gespräch mit dem Beter“, dem in
[Abschnitt] II 3 c: die „Geschichte des Beters“ folgt, von diesem selbst erzählt.
[Abschnitt] II 3 d: Hier wird das „Fortgesetzte[s] Gespräch zwischen dem Dicken und dem Beter“ berichtet; darin findet sich u. a. der später in die Betrachtung aufgenommene Text Die Bäume.[37]
[Abschnitt] II 4: Der „Untergang des Dicken“, der in einem Wasserfall ertrinkt, bildet den Schluss der Belustigungen.
[Abschnitt] III beginnt so:
„Wie ist das doch“, sagte mein Bekannter, der mit mir aus der Gesellschaft gekommen war und ruhig neben mir auf einem Wege des Laurenziberges ging. „Bleiben Sie endlich ein wenig stehen, damit ich mir darüber klar werde. – Wissen Sie, ich habe eine Sache zu erledigen.“[38]
Sofort nach der Bitte des Ich-Erzählers an die vorübergehenden Leute, ihm seine nicht gewusste Körpergröße mitzuteilen, mit der [Abschnitt] II 4 schließt, ist das Ich in [Abschnitt] III zurückversetzt in die normale Welt des in [Abschnitt] I begonnenen Spazierganges in einer kalten Nacht und setzt sich auf eine Bank des Gärtner-hauses. – Der Rezipient erfährt hier also „eine Geschichte, in der für eine gewisse Zeit die Außenwelt gleichsam ausgeblendet ist, ohne dass die äußere Zeit und das äußere Geschehen deshalb aufhören würden, weiterzugehen.“[39] Das Ende „des Aufenthaltes in der Traumwelt und das Herauskommen aus ihr“[40] geschieht in dem kurzen Augenblick, als der Ich-Erzähler plötzlich vernimmt, dass sein Bekannter das Wort an ihn gerichtet hat.
An zwei Stellen in [Abschnitt] III deutet der Bekannte fast beiläufig auf den vorausgegangenen Aufenthalt des Ich-Erzählers in dessen halluzinatorischer Traumwelt und die damit verbundene mentale Absenz bei gleichzeitig körperlicher Präsenz hin. Das temporale Adverb „endlich“38 in der Oratio directa des Bekannten zeigt an, dass der seinen Begleiter schon vorher angesprochen hat, ohne Gehör zu finden. Wenig später, die beiden sitzen auf der Bank, ist mit dem „öfters“ der adverbiale Hinweis noch deutlicher zu hören:
„Doch habe ich Sie öfters während des Weges danach gefragt, ob Sie das Mädchen schön finden, aber Sie haben immer nach der anderen Seite sich gedreht, ohne mir zu antworten.“[41]
Schillemeit weist in seinem Aufsatz auf ein wichtiges Merkmal der Werke aus Kafkas Frühphase hin, er glaubt, sein Erzählen sei „nicht nur Erzählen“, […] sondern „immer auch Betrachtung.“[42] Er sieht das Erzählen janusköpfig verbunden mit dem Nachdenkenden, Sinnenden, auf eine Erkenntnis Gerichteten. Diese doppelte Tendenz sieht er schon in der Überschrift von [Abschnitt] II der Binnenerzählung gegeben: Belustigungen oder der Beweis dessen, dass es unmöglich ist zu leben. Er sagt, das Mittelkapitel II sei in II 1 (Ritt) und II 2 (Spaziergang) noch überwiegend erzählerisch, in II 3 und II 4, der Geschichte mit dem Dicken und dem Beter, überwiege jedoch das Kontemplative, das Nachdenkliche.
Schillemeit hält die „Übergangsstellen zwischen den Kapiteln und die Art, in der hier jeweils von einer Welt in die andere oder genauer: von einem Bewusstseins-zustand in den anderen hinübergewechselt wird“, für bemerkenswert, deshalb spricht er auch, als am Ende des ersten Kapitels der Ich-Erzähler an der Tür der Seminarkirche ausgleitet, von einer „Bewusstseinstrübung“ des Helden.43
Dieser negativ konnotierte Begriff taucht in den jüngsten Publikationen (z. B. bei Alt, 2005, oder Neymeyr, 2004) jedoch nicht mehr auf, beide erklären die zwei Welten, in denen der Ich-Erzähler und sein Alter ego sich bewegen, ganz anders, nämlich mit einem erhellenden Rückblick auf viele Vorlagen, die Kafka zur Ausgestaltung seiner Charaktere inspiriert haben könnten.
In der Literaturgeschichte spricht man für die Zeit zwischen 1890 und 1910 von einem Stilpluralismus, der sich wegen seiner unterschiedlichen Strömungen und Tendenzen nicht auf einen vereinheitlichenden Begriff bringen lasse.44 Es gibt Bezeichnungen wie Jahrhundertwende, Fin de siècle, Décadence, Wiener Moderne oder von der älteren Forschung verwendete Stiltermini wie Neuromantik, Symbo-lismus, Impressionismus, Jugendstil. „In der Literatur“, so Christine Kanz, vollziehe sich ein „Paradigmenwechsel, der sich […] als Ich-Krise, Sprachkrise und Bewusstseinskrise manifestiert, eine Verwirrung, die aus dem Werteverlust und der daraus resultierenden Infragestellung des autonomen Subjekts zu erklären ist und sich in verschiedensten Formen der Ich- und Sinnsuche artikuliert.“[44]
Mir scheint, Kafka hat aus diesem Pluralismus der geistes- und naturwissenschaft-lichen Diskurse geschöpft, so mancher Autor hat ihm als Vorlage gedient, einige geistige Anreize werden ihn ‚beflügelt’ haben, d e n n viele der um die Jahrhundert-wende diskutierten Probleme, vor allem deren „Symptome“ lassen sich „in markanter Ausprägung an der Figur des Ich-Erzählers feststellen.“[45]
In ihrer 2004 erschienenen, bis dahin ersten und einzigen Monographie über die Beschreibung eines Kampfes spricht Barbara Neymeyr (Uni Freiburg) daher auch statt von einem Protagonisten von zwei Antagonisten, deren jeder für eine ungleichartige Komponente des Subjekts steht. Walter H. Sokel hat diesen Umstand so umschrieben: „Beide, Ich und Bekannter, gehören untrennbar zusammen, als wären sie zwei Aspekte ein und derselben Gestalt.“[46] Oder anders formuliert: „Ohne den Bekannten ist das Ich nicht in der Welt. Ohne ihn besitzt es keine Substanz.“[47]
Sokel verdeutlicht den Antagonismus der beiden erzählten Figuren mit dem Bild der „Schaukelbretter […], auf denen, wenn der eine an einem Ende oben sitzt, der andere am anderen Ende ganz unten sein muss. […] Wenn der Bekannte triumphiert, muss sich das Ich rächen und ihn zu stürzen versuchen. Wenn das Ich triumphiert und sein Glück verkündet, ist der Bekannte geschlagen und jeglicher Lebenshoffnung beraubt.“ Der Autor spricht in Zusammenhang mit diesem Widerstreit bereits von „entgegengesetzte[n] Pole[n] eines tief gespaltenen Ichs.“[48]
Erst als das Ich und sein Bekannter die Abendgesellschaft verlassen und ihren Spaziergang auf den Laurenziberg angetreten haben, sind sie, wie oben angedeutet, so „konfrontiert, dass der durch wechselseitige Überwältigungsversuche und ausge-klügelte Dominanzstrategien geprägte Antagonismus beginnen kann.“[49]
Neymeyr schreibt, auch Kafka scheine vorausgesetzt zu haben, es gebe „verschie-dene Subjekte im gleichen Menschen.“ Von dieser Prämisse ausgehend entstünden in Beschreibung eines Kampfes „Konflikte zwischen den Ich-Komponenten“ des Protagonisten, deren Antagonismus realisiere sich „durch Selbstbehauptungs-strategien, Dominanzansprüche, Verdrängungsimpulse und Fluchtreflexe der Figuren.“[50]
Sokel stellt zutreffend fest, nach den ersten Szenen der Beschreibung flöhe die „Erzählung in einen Raum, der nur vom Ich-Erzähler und dessen Varianten bevölkert ist und in dem andere Figuren, wenn überhaupt, nur ganz am Rande erscheinen. Der Dicke und der Beter, die im zweiten Teil der Beschreibung eines Kampfes das erzählte Geschehen beherrschen, sind einerseits Varianten des Ich-Erzählers, die als Stimmen, die in der ersten Person erzählen, also als sukzessive Ichs, die Aktivität des Ich-Erzählers mit anderer Etikettierung fortsetzen.“[51] „Andererseits variieren sie in ihrer Beziehung zueinander die Beziehung des Ich-Erzählers zum Bekannten im ersten Teil.“[52]
Sokel sieht in diesen verschiedenen Aspekten das eigentliche Movens des in der Beschreibung eines Kampfes stattfindenden Kampfes, sie seien die wechselnden, notwendigen „Positionen, die je nach dem Kampfesverlauf eingenommen werden.“[53] Ob der sich angegriffen wähnende Ich-Erzähler sich nun verteidige oder ob er um Anerkennung durch sein Gegenüber buhle, jede Handlung des Erzähler-Ichs ist die entsprechende Reaktion auf das Verhalten des Bekannten.
5.1 Lektürespuren von Sigmund Freud
Sokel kommt in dem Zusammenhang auf S. Freuds Begriff des sekundären Narzissmus zu sprechen, betont aber, dass Kafkas Beschreibung eines Kampfes, 1904/05 verfasst, durch Freuds Narzissmus-Abhandlung von 1914 natürlich nicht unmittelbar beeinflusst sein könne. In seiner Einführung in den Narzissmus spricht Freud von einem primären Narzissmus, dabei richte sich die Libido auf den eigenen Körper. In der psycho-genetisch normal verlaufenden Entwicklung gehe die Libido aber vom Ich auf die Mutter und später auf die Mitmenschen über, so dass man von einer Ich- und einer Objekt-Libido sprechen könne. Bei einer gestörten Gefühls-entwicklung könne sich die Libido jedoch von den Objekten ab- und wieder dem Ich zuwenden. Diese ausschließlich auf das Ich zurückgeworfene nennt Freud sekundäre Libido. Das sei eine Regression, ein Zurückfallen auf frühere kindliche Stufen der psychischen Entwicklung. Die auf das eigene Ich anstatt auf die Objekte bezogene Libido führe dazu, dass ein Ich mit geringem Selbstwertgefühl diesen Mangel durch eine übertriebene Einschätzung der eigenen Wichtigkeit zu kompensieren versuche.
Neymeyr streift in ihrer Monographie kurz die moderne Narzissmus-Forschung.54 Wichtig erscheint mir auch Sokels Erwähnung von Freuds Totem und Tabu: der Mentalität des Primitiven schreibt er darin eine „Allmacht der Gedanken“ zu, der Primitive glaube „an die Macht seiner Wünsche über die Außenwelt.“[55] In Beschreibung eines Kampfes, so Sokel, werde gezeigt, wie „ein Ich, eines primären Narzissmus verlustig, sich durch den Rückzug in einen <sekundären Narzissmus> zu magischer Allmacht erhebt, die aber ihrerseits durch das <Prinzip des Erzählens> selbst als Ohnmacht entlarvt wird.“55 Auch wenn man nicht von direkten Einflüssen sprechen könne, weisen doch Sokel und Neymeyr darauf hin, dass viele der von der Psychoanalyse später dem Narzissmus zugeschriebenen Merkmale sich als Eigentümlichkeit an der Figur des Ich-Erzählers zeigen.56
Sokel deutet den Kampf mit den mittlerweile von der modernen Psychoanalyse so nicht mehr verwendeten Freudschen Vokabeln als Beschreibung eines „Konflikt[es] zwischen objektbezogenem <Eros> und selbstbezogenem <Narzissmus>“.55
Noch eine Freud-Stelle möchte ich zitieren. Der Dichter und das Phantasieren ist die ausgearbeitete Fassung eines von Freud im Dezember 1907 gehaltenen Vortrags, erschienen im März 1908 in der Neuen Revue und 1941 in die Gesammelten Werke aufgenommen. Da heißt es: „Noch in vielen der sogenannten psychologischen Romane ist mir aufgefallen, dass nur eine Person […] von innen ge-schildert wird; in ihrer Seele sitzt gleichsam der Dichter und schaut die anderen Personen von außen an. Der psychologische Roman verdankt im ganzen wohl seine Besonderheit der Neigung des modernen Dichters, sein Ich durch Selbst-beobachtung in Partial-Ichs zu zerspalten und demzufolge die Konfliktströmungen seines Seelenlebens in mehreren Helden zu personifizieren.“[56]
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