Die Aufführung mittelhochdeutscher Lyrik

Versuch einer Rekonstruktion am Beispiel von Walthers "Under der linden" und Neidharts "Sommerlied Nr. 70"


Examensarbeit, 2012

76 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1) Einführung

2) Mittelhochdeutscher Literaturbetrieb ?
2.1) Dichter und Autoren
2.2) Das Publikum
2.2.1) Rezeptionsmöglichkeiten des Publikums
2.3) Das Verhältnis von Dichter und Publikum
2.4) Schlussfolgerungen

3) Text
3.1) Text - eine Begriffsbestimmung
3.2) Text - weiterführende Diskussion
3.2.1) Kohärenz und Kohäsion
3.2.2) Textklassen
3.3) Versuch einer Einordnung
3.4) Eine neue Vorstellung von Text
3.4.1) Anwendung auf den mittelhochdeutschen Text

4) Ein neuer Ansatz
4.1) Die Gleichsetzung von Aufführung und höfischem Text
4.2) Die Zeichen
4.2.1) Notwendige Differenzierungen
4.2.1.1) Mögliche Zeichen und ihre Zuordnung zu Zeichensystemen
4.2.1.2) Mögliche Zeichen und ihre Kombinationen
4.2.2) Notwendige Einschränkungen
4.2.2.1) Einschränkungen aufgrund der Rahmenbedingungen
4.2.2.2) Einschränkungen aufgrund des Untersuchungsgegenstandes
4.3) Schlussfolgerungen I
4.3.1) Vorüberlegungen zur Erstellung eines Zeichenkatalogs
4.3.1.1) Zeichen des Agierens
4.3.1.2) Zeichen der äußeren Erscheinung
4.3.1.3) Zeichen des Raumes
4.3.2) Der Zeichenkatalog
4.3.2.1) Zeichen des Agierens
4.3.2.1) Zeichen der äußeren Erscheinung
4.3.2.3) Zeichen des Raumes
4.4) Der Ansatz zur Rekonstruktion mittelhochdeutscher Texte
4.4.1) Der Sprechakt nach Searle
4.4.1.1) Die Struktur von Sprechakten
4.4.1.2) Klassifizierung der Sprechakte
4.4.1.3) Klassifizierung der Direktiva
4.4.2) Funktionale Gesten

5) Analyse ausgewählter Lyrik
5.1) Vorgehensweise
5.1.1) Walther und Neidhart
5.1.2) Betrachtungen zum Inhalt der ausgewählten Lieder
5.1.3) Betrachtungen zur Form der ausgewählten Lieder
5.1.4) Analyse ausgewählter Lyrik auf Grundlage der Sprechakttheorie
5.1.4.1) Under der linden
5.1.4.2) Sommerlied Nr. 70
5.1.5) Die Rekonstruktion ausgewählter Lyrik als Aufführung
5.1.5.1) Under der linden - Rekonstruktion einer Aufführung
5.1.5.2) Sommerlied Nr. 70 - Rekonstruktion einer Aufführung

6) Schlussfolgerungen II
6.1) Konsequenzen I
6.2) Konsequenzen II

7) Zusammenfassung

8) Benutzte Materialien
8.1) Walthers Lindenlied
8.2) Neidharts Sommerlied Nr. 70

9) Literaturverzeichnis
9.1) Primärliteratur
9.2) Sekundärliteratur

1) Einführung:

Beginnen möchte ich meine wissenschaftliche Arbeit mit einer knappen Einführung. Ziel ist es, dem Leser einige allgemeine Hinweise bezüglich Thema, Vorgehensweise und Zielsetzung der vorliegenden Arbeit an die Hand zu geben.

Inhaltlich beschäftigt sich der Aufsatz mit der Möglichkeit, einen mittelhochdeutschen Vortrag von Lyrik zu rekonstruieren. Zur Präzisierung des Vorhabens verweise ich auf Hugo Kuhns vieldiskutierten Aufsatz Minnesang als Aufführungsform1:

In seiner Interpretation von Hartmanns von Aue sogenanntem „Kreuzzugslied“ (Kuhn: 1968, 3) beschäftigt sich Hugo Kuhn mit dem Spannungsverhältnis zwischen im Lied ausge- sprochener Minnethematik und implizit enthaltenem Kreuzzugsthema (Kuhn: 1968, 5). Dazu gehört unter anderem die von Hugo Kuhn zwar bearbeitete, aber nur bedingt gelöste Frage, wie die Bezüge zwischen explizit ausgesprochenem und implizit enthaltenem Thema (Kuhn: 1968, 5) vor den Augen eines mittelalterlichen Publikums sichtbar zu machen sind. Wenn H. Kuhn auch Gesten (Kuhn: 1968, 8) oder Requisiten (Kuhn: 1968, 6) nennt, welche die be- griffliche Ambivalenz des Liedes aufheben, und somit dem Publikum erlauben, die vorkom- menden Doppeldeutigkeiten zu interpretieren (Kuhn: 1968, 12), so werden doch nur verein- zelte Beispiele oder Möglichkeiten genannt (Kuhn: 1968, 8). Es wird kein vollständiger, der mittelhochdeutschen Perspektive entsprechender Text entwickelt2 (Schmitt: 1992, 248). Dazu fehlt es schlicht an den für uns notwendigen, durchgängigen Angaben zur Ausgestaltung des Vortrags3 (Bumke: 2005, 609). Gerade aber die vollständige Rekonstruktion eines mittel- hochdeutschen Textes ist das Hauptanliegen der vorliegenden Arbeit und soll anhand zweier Lieder, eines davon aus dem Nachlass Neidharts, bearbeitet werden.

Aus meinem Anliegen resultieren mehrere Problemstellungen, die, wie nachfolgend angeordnet, eine Lösung der Aufgabenstellung ermöglichen sollten:

1) Einleitend stellt sich die Frage, warum ein aus mittelhochdeutscher Zeit überliefer- ter, auf den ersten Blick vollständiger Text, unvollständig sein sollte.

2) Zur Beantwortung der Frage, ist es notwendig, die mittelhochdeutsche Konzeption von „Text“ genauer herauszuarbeiten.

3) Weiterhin sind die Besonderheiten eines zu rekonstruierenden, höfischen Texts herauszustellen.

4) Ist ein Ansatz zu entwickeln, der die Rekonstruktion eines dem mittelhochdeut- schen Verständnis gemäßen Texts erlaubt.

5) Benötigt werden weiterhin sinnfällige Beispiele. Zu beachten ist, dass Texte auch ohne erläuternde Darbietung auskommen können. Die Gefahr der Überinterpreta- tion ist zu vermeiden.

6) Da die Rekonstruktion eines vollständigen Textes Regieanweisungen und derglei- chen mehr erfordert, stellt sich auch auf formaler Ebene die Frage nach dem äuße- ren Erscheinungsbild des Textes; vor allem, wenn bedacht wird, dass Interpunktion und damit die Kennzeichnung direkter, auf der Bühne gesprochener Rede erst im Verlauf des Frühneuhochdeutschen4 (Wolff: 2004, 113) ihre Ausgestaltung erfährt. Gemäß dem zugrunde liegenden Gedankengang werden unter den Punkten eins und zwei Ausgangspunkte der vorliegenden Arbeit behandelt. Ziel ist es, eine Grundlage bereitzu-stellen, auf welcher die zu behandelnde Problemstellung bearbeitbar wird. Dazu gehört, neben der Nennung der wichtigsten Akteure des mittelhochdeutschen „Literaturbetrieb[s]“5 (Beutin: 2008, 580) auch die Beschreibung der Beziehungen der einzelnen Marktteilnehmer zueinan-der. Der tieferliegende Grund ist darin zu sehen, dass die besondere Beziehung zwischen Pro-duzent und Rezipient ihren Niederschlag in einer spezifisch mittelhochdeutschen Perspektive auf Text findet.

Diese spezifisch mittelhochdeutsche Perspektive ist Ausgangspunkt des unter den Punkten drei und vier auszuarbeitenden Lösungsansatzes: Ein wenig erfolgreicher Versuch, den spezifisch mittelhochdeutschen Blick auf Texte mit den gegenwärtigen, linguistischen Mitteln zu erfassen, zwingt uns, eine neue, tragfähige Vorstellung von Text zu entwickeln. Mit ihrer Hilfe ist die Problematik mittelhochdeutscher Texte genauer zu bestimmen. Darauf aufbauend gilt es, einen Lösungsansatz zu entwickeln. Der erste Schritt dazu besteht in der Gleichsetzung von höfischem Text und Aufführung. Mit ihr ist festzulegen, welcher Natur die Zeichen eines höfischen Textes sind, welche Kombinationsmöglichkeiten in Betracht kom- men und welchen Einschränkungen die den Text konstituierenden Zeichen unterliegen. Neben dem Rohmaterial zum Auffüllen möglicher Leerstellen höfischer Texte wird weiterhin eine Methode benötigt, die uns erstens die Identifikation möglicher Leerstellen er- laubt und zweitens, festlegt, womit genau eine Leerstelle aufzufüllen ist. Da es nicht vollstän- dig auszuschließen ist, dass überlieferter Text und das uns zur Verfügung stehende Rohma- terial zu seiner Ausbesserung nicht zusammengehen, sollte unser Ansatz zusätzlich über ein Verfahren verfügen, mit dem sich fehlendes Zeichenmaterial generieren lässt.

Die Punkte fünf und sechs konzentrieren sich auf die praktische Anwendung und Interpretation der erhaltenen Resultate.

Die Einführung abschließend bleibt noch darauf hinzuweisen, dass Aufsatz und Interpretation erhaltener Resultate den Blick weniger auf den Literatur konsumierenden, mittelhochdeutschen Laienadel, als auf den literaten Produzenten von Literatur richten.

2) Mittelhochdeutscher Literaturbetrieb ?

Begonnen werden soll die vorliegende Arbeit mit der in der Einführung bereits angesprochenen Frage, warum ein vermeintlich vollständiger, mittelhochdeutscher Text unvollständig sein mag.

Sieht man einmal davon ab, zu hinterfragen, ob die jahrelangen Bemühungen der Germanistik, die ursprüngliche, schriftliche Fixierung der auf uns gekommenen, mittelhoch- deutschen Texte wieder herzustellen, überhaupt richtig sind (Bumke: 2005, 752), so stößt man sehr schnell auf mancherlei Eigenheiten des mittelhochdeutschen „Literaturbetrieb[s]“ (Beu- tin: 2008, 580):

So ist es etwa unmöglich, die äußeren Rahmenbedingungen des mittelhochdeutschen Umgangs mit Literatur mit den uns bekannten, zeitgenössischen Rahmenbedingungen (Bumke: 2005, 595) gleichzusetzen. Mit anderen Worten, uns fehlt von Anfang an eine adäquate Vergleichsgrundlage.

Weiterhin muss gesehen werden, dass gängige Begrifflichkeiten zur Beschreibung heutiger Verhältnisse im Umgang mit Literatur auch auf heutige Verhältnisse zugeschnitten sind. Schlagwörter wie „Literaturbetrieb“ (Beutin: 2008, 580) implizieren eine Nähe zu den Bedingnissen, Denk - und Verfahrensweisen einer modernen Ökonomie und lenken das Den- ken des Einzelnen unwillkürlich in ebensolche Bahnen. Das Hauptproblem besteht jedoch darin, dass sich Schlagwörter dieser Art nur mit Abstrichen auf einen mittelhochdeutschen „Literaturbetrieb“ (Beutin: 2008, 580) übertragen lassen, und somit damalige Verhältnisse nur unzureichend abbilden können.

Der auffälligste Unterschied zwischen damals und heute wird von Bumke angesprochen, wenn er festhält, dass Autoren vor der Erfindung des Buchdrucks unter vollkommen anderen Bedingungen arbeiteten, als es in neuerer Zeit der Fall ist (Bumke: 2005, 595). Explizit weist er darauf hin, dass es keinerlei „… Verlagswesen, keinen Buchhandel, kein Urheberrecht und kaum eine literarische Öffentlichkeit [gegeben hat]“ (Bumke: 2005, 595).

Ursächlich für den nach unseren Maßstäben kaum vorhandenen Umgang mit Literatur ist ein weitreichendes Analphabetentum der damaligen Bevölkerung (Bumke: 2005, 602). An Konsequenzen aus dem großflächigen Analphabetentum ergibt sich daher zunächst einmal die Vorstellung von mittelhochdeutscher Kultur als einer in vielen Teilen „… orale[n] Kul- tur[] …“[6] (Wenzel: 1994, 146). Damit ist gemeint, dass weder Wissen noch Erinnerung schriftlich festgehalten wurden (Wenzel: 1994, 146).

Erschwerend kommt hinzu, dass zur Herstellung entsprechender Träger, sprich Bücher, auf kostspielige Materialien wie Pergament und dergleichen mehr zurückgegriffen werden musste (Bumke: 2005, 595). Die hohen Produktionskosten machten Besitz und Gebrauch von Literatur unerschwinglich (Bumke: 2005, 595). Es ist zwar richtig, dass mit dem 14. Jahrhundert der Gebrauch von Papier anstieg und die Herstellungskosten für Literatur damit zu sinken begannen, dennoch blieb, im Gegensatz zu heute, der Besitz von Büchern für lange Zeit „… ein Vorrecht der Reichen“ (Bumke: 2005, 595).

Das heißt, es hat keinen „Literaturbetrieb“ (Beutin: 2008, 580) in zeitgenössischem Sinne gegeben. Staatliche Verwaltung und öffentliches Leben waren in mittelhochdeutscher Zeit auf mündlicher Grundlage organisiert (Bumke: 2005, 34). Die hohen Kosten einer Reor- ganisation öffentlichen Lebens auf schriftlicher Basis sowie der Mangel an entsprechend aus- gebildeten Fachkräften müssen eine solche Umstellung zusätzlich verschleppt haben. Die zu ziehende Konsequenz kann daher nur lauten, dass es, wenn überhaupt, einen „Literaturbe- trieb“ (Beutin: 2008, 580) nur in embryonaler Form gegeben haben kann (Bumke: 2005, 595).

2.1) Dichter und Autoren:

Was die am mittelhochdeutschen „Literaturbetrieb“ (Beutin: 2008, 580) teilnehmen- den Akteure angeht, so lassen sich diese zunächst in Produzenten und Rezipienten unterteilen. Im Falle der Produzenten von Literatur, der Dichter und Schreiber, stellt sich, in Anbetracht einer fast vollkommenen Abwesenheit lesender Öffentlichkeit (Bumke: 2005, 595), die Frage, wie sie ihre Schreib - und Lesekompetenzen erworben hatten, und wofür sie diese verwende- ten. Geschrieben wurde „… mit lateinischen Buchstaben, deren Gebrauch in der Lateinschule gelernt wurde; das bedeutet, dass nur der ganz kleine Kreis der Lateinkenner am Literaturprozess unmittelbar beteiligt war“ (Bumke: 2005, 595).

Die Produzenten von Literatur hatten also Latein gelernt und müssen daher in vielen Fällen für den geistlichen Beruf vorgesehen gewesen sein (Bumke: 2005, 682). Zur Aufgabe des Geistlichen im mittelhochdeutschen Gesellschaftsgefüge gehörte ne-ben der Sorge um das Seelenheil auch die bereits im karolingischen Regierungsapparat vor-geprägte Übernahme von Schreibertätigkeiten in einer „Kanzlei“7 (Kinder: 1982, 123). Schriftlich festgehalten wurden anfänglich „… Herrscherlob und […] religiöse Unterweisung für Laien …“ (Bumke: 2005, 616). Später kamen die Familiengeschichten der mächtigsten Adelshäuser hinzu (Bumke: 2005, 618). Der wichtigste Stimulus für eine Zunahme der Schreibtätigkeit ist aber die „… Errichtung einer festen Rechtsordnung …“ (Bumke: 2005, 35). Damit kann sich ein funktionierender, staatlicher Verwaltungsapparat entwickeln (Bum- ke: 2005, 35), in dessen Gefolge es zu einer Zunahme schriftlich verbriefter Kodifizierungen (Bumke: 2005, 34) kommt. Einfacher ausgedrückt, Literatur diente zunächst in Kirche (Bum- ke: 2005, 595) und Administration (Bumke: 2005, 35). Schöne Literatur hat es zu diesem Zeitpunkt so gut wie nicht gegeben (Bumke: 2005, 595).

Bezogen auf die Produzenten von Literatur ist damit festzuhalten, dass sie, im Ver- gleich zur damaligen Gesamtbevölkerung, einer gebildeten Minderheit angehörten (Bumke: 2005, 595). Ihre Fähigkeit zu lesen und zu schreiben, im Laufe der Jahrhunderte zum Ge- meingut geworden, stellte während des Mittelhochdeutschen eine hochspezialisierte, ur- sprünglich im Dienst der Kirche stehende Fertigkeit dar (Bumke: 2005, 595). Mit der Einfüh- rung einer geregelten Schriftlichkeit (Bumke: 2005, 624) im staatlichen Verwaltungsapparat (Bumke: 2005, 35) wurde der Gebrauch von Literatur auch auf die staatliche Verwaltung aus- gedehnt. Da verstärkt Notare benötigt wurden, kommt es zu einer Zunahme der Schreib - und Lesefähigkeiten größerer Bevölkerungsteile und Verschiebungen in der literarischen Aus- gangssituation werden spürbar:

Aufgrund der Zunahme von Schreib - und Lesefähigkeiten ist davon auszugehen, dass nicht mehr nur zum Zwecke der reinen Verwaltung geschrieben wurde, sondern auch zum Vergnügen. Es entsteht die Schöne Literatur, welche sich von der für kirchlichen Gebrauch sowie effizienter Verwaltung notwendigen Schriftlichkeit abspaltet (Bumke: 2005, 596). Mit der Aufspaltung in Gebrauchs - und Unterhaltungsliteratur beginnt die Entwicklung von Li- teratur zweigleisig zu verlaufen. Reine Gebrauchsliteratur benötigt kein Publikum (Bumke: 2005, 596), daher ist das ursprüngliche Autor - Leser - Verhältnis vielmehr als Dienstherr - Untergebener - Beziehung zu denken. Weil sich Schöne Literatur aus der Gebrauchsliteratur entwickelt, ist folglich anzunehmen, dass das Autor - Leser - Verhältnis in der Frühphase der Schönen Literatur ein Ähnliches gewesen sein muss, wie das der reinen Gebrauchsliteratur. An die Stelle des mit Deutungshoheit und Definitionsgewalt ausgestatteten Dienstherren der Gebrauchsliteratur tritt lediglich der einzelne, mit ebensolchen Befugnissen ausgestattete, aber zum Vergnügen lesende oder zuhörende Rezipient (Bumke: 2005, 596).

2.2) Das Publikum:

Mit der Aufspaltung in Schöne und Gebrauchsliteratur ändert sich die Ausgangssitua- tion und damit auch die Rollenverteilung im damaligen „Literaturbetrieb“ (Beutin: 2008, 580) grundlegend. Dem Laienadel des 12. Jahrhunderts bietet sich die Möglichkeit, Einfluss „… auf die literarische Produktion […] zu nehmen“ (Bumke: 2005, 596) und diese nutzend be- ginnt der Aufstieg einzelner, großer Fürstenhöfe der Zeit zu literarischen Zentren (Bumke: 2005, 596).

Aufgrund einer hierarchischen Stufung der Gesellschaft (Bumke: 2005, 39) stehen an der Spitze solch literarischer Zentren meist fürstliche oder hochgeistliche Gönner und Auftraggeber. In ihrer Funktion als Mäzen rufen sie die Dichter an ihre Höfe und gewähren ihnen, im Gegenzug für Auftragsarbeiten, Unterhalt (Bumke: 2005, 596).

Freilich, die höfischen Dichter geraten auf diese Weise in Abhängigkeit zur Gunst ihrer Auftraggeber (Bumke: 2005, 596). Dennoch ist zu bemerken, dass das Interesse des adligen Publikums an einer neuen, weltlichen Dichtung der Literatur an sich einen „… höheren, gesellschaftlichen Rang …“ (Bumke: 2005, 596) verleiht.

Bezogen auf das Autor - Leser - Verhältnis der Schönen Literatur ist damit von einer Differenzierung im Autor - Leser - Verhältnis auszugehen: Das Interesse des Laienadels an Literatur erweitert die Leserschaft in großer Zahl. Mit anderen Worten, die Aufspaltung in Schöne und Gebrauchsliteratur bedingt die Herausbildung eines nennenswerten Publikums (Bumke: 2005, 596). An die Stelle des einzelnen Lesers Schöner Literatur tritt ein Publikum, welches, wie die Dienstherren der Gebrauchsliteratur, mit Deutungshoheit ausgestattet ist (Bumke: 2005, 617). Das heißt, das Publikum Schöner Literatur definiert, was ein Text ist, wie dieser auszusehen hat und was er zu behandeln hat (Bumke: 2005, 708).

2.2.1) Rezeptionsmöglichkeiten des Publikums:

Im unmittelbaren Anschluss an diesen Sachverhalt stellt sich selbstverständlich die Frage nach den Leseinteressen des neuentstandenen Publikums und damit die Frage nach dem Bildungsstand der Laien und ihrer Rezeptionsmöglichkeiten.

Aufgrund einer ausgesprochen dürftigen Quellenlage (Bumke: 2005, 601) ist es ungemein schwierig, Aussagen über den Bildungsstand der Laien, sprich den Rezeptionsmöglichkeiten der Abnehmer von Literatur in Deutschland, zu machen. Einen Ausweg bietet auch die gängige, mittelhochdeutsche Unterscheidung von „… litteratus und illitteratus …“ (Bumke: 2005, 607) nicht. Sie ist schlicht nicht scharf genug, um die zahlreichen Abstufungen zwischen Bildung und Analphabetentum zu erfassen (Bumke: 2005, 607).

Festzuhalten gilt daher, dass es, entgegen aller terminologischen Ungenauigkeiten, sehr wohl und zu allen Zeiten hochgebildete Laien gegeben hatte - beispielsweise Graf Hein- rich II. von Stade (Bumke: 2005, 606). Ihr seltenes Auftreten macht sie aber zu Ausnahmeer- scheinungen, welche auf eine vorwiegend illiterate Majorität (Bumke: 2005, 603) verweisen.

Ein Wandel der Verhältnisse tritt erst gegen Ende des 12. Jahrhunderts ein, als es „… in dem kleinen Kreis der höchsten weltliche Fürsten üblich [wurde], den Kindern eine gelehrte Erziehung zuteil werden zu lassen“ (Bumke: 2005, 600).

Als Aussage ist darin implizit enthalten, dass erst ab dem Ende des 12. Jahrhunderts der Fähigkeit, zu lesen und zu schreiben gesteigertes Interesse entgegen gebracht wurde. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass Lese- und Schreibkompetenzen vor Beginn des 13. Jahr- hunderts seitens des Laienadels eher gering geschätzt wurden (Bumke: 2005, 603) und dem- entsprechend wenig Verbreitung fanden. Dennoch hat dies Einzelne, die selbst nicht lesen oder schreiben konnten, nicht davon abgehalten, sich geschriebene Literatur anzueignen (Bumke: 2005, 609).

Was aus letztgenanntem Sachverhalt zuvörderst abzulesen ist, ist eine besondere Bil- dungs - und Rezeptionssituation des weitgehend illiteraten Laienadels (Bumke: 2005, 609), welche die Frage aufwirft, wie Literatur zu rezipieren ist, wenn man nicht lesen kann ? Die Antwort darauf lautet, dass Literatur vom Laienadel nur rezipiert werden konnte, wenn sie vorlesbar (Bumke: 2005, 609) oder, alternativ dazu, vorspielbar war (Kuhn: 1968, 2).

2.3) Das Verhältnis von Dichter und Publikum:

Neben der mündlich tradierten Heldenepik (Bumke: 2005, 614) rezipierte der Laien- adel gerne Texte französischer Herkunft (Bumke: 2005, 609). Letzteres erklärt sich vor allem aus dem Fehlen einer entwickelten deutschsprachigen Schriftlichkeit sowie der Modernität französischer Hofliteratur (Bumke: 2005, 609) und verweist auf bedenkenswerte Eigenheiten mittelhochdeutscher Literatur:

Die große Wirkungsmacht der französischen Literatur in „… höfischer und nachhö- fischer Zeit …“ (Eggers: 1968, 106)8 bedeutet zunächst einmal, dass die bevorzugte Literatur importiert werden musste (Bumke: 2005, 609). Aufgabe der Schreiber an deutschen Höfen war es, diese zu bearbeiten, zu vermitteln und an die Rezeptionsmöglichkeiten des Publikums anzupassen (Bumke: 2005, 609). Um eine Rezeption der französischen Vorlagen überhaupt möglich zu machen, musste von den Dichtern ein neuer Typ von Literatur entwickelt werden, namentlich „Texte, die nach schriftlichen Vorlagen gearbeitet waren und selbst schriftlich fixiert worden sind, die auch als Buch gelesen werden konnten, die aber nach dem Willen ihrer Auftraggeber primär für eine mündliche Verbreitung durch den Vortrag bestimmt waren“ (Bumke: 2005, 609).

Auftragsarbeit ist somit der in diesem Kontext richtige Begriff zur Kennzeichnung höfischer Literatur (Bumke: 2005, 596). Als Auftragsarbeit wurde sie von einer kleinen Gruppe literarisch Gebildeter angefertigt (Bumke: 2005, 595). Ihr Schicksal war es, einen „Gönner“ (Bumke: 2005, 596) zu benötigen, um, entgegen der Rahmenbedingungen des mit- telhochdeutschen „Literaturbetrieb[s]“ (Beutin: 2008, 580), ihr Auskommen zu haben. Die Abhängigkeit vom Wohlwollen eines „… Auftraggeber[s] und vom Urteil des ad-ligen Hofpublikums …“ (Bumke: 2005, 596) zeitigt dahingehend Konsequenzen, dass ein Dichter Geschmack und Rezeptionsmöglichkeiten seines Publikums angemessen zu berück-sichtigen und darauf einzugehen hat - will er denn sein Auskommen nicht verlieren (Bumke: 2005, 596).

Die Dichter waren also gezwungen, einen bestimmten Vorgaben entsprechenden, ansprechenden Text zu verfassen, welcher, von ihnen selbst oder einem Vorleser als vermittelnde Instanz, dem Hofpublikum dargeboten wurde (Bumke: 2005, 609). „Ansprechend“ als Begriff macht allerdings hinreichend deutlich, dass es mit einem einfachen Vorlesen der Texte sicherlich nicht getan war: Die „… sprachliche und körperliche Ausführung der Rede [als] integraler Bestandteil der rhetorischen Ausbildung …“ (Schubert: 1991, 55)9, ist in mittelhochdeutscher Zeit als ebenso bekannt vorauszusetzen (Schubert: 1991, 56), wie die bereits von Quintilian ausgesprochene Warnung, dass übertriebenes Gestikulieren, den Vortrag ins „Komödiantische“ (Müller: 1996, 21)10 abgleiten lässt.

Autoren und Vorleser haben damit Konventionen einzuhalten und müssen insofern auf ihr Publikum eingehen, als dass sie ausdrucksstarke, die Phantasie anregende Formulierungen finden (Bumke: 2005, 282). Das Publikum möchte mitgerissen werden und darf nicht durch überlange, hypotaktische Konstruktionen oder Latinismen verwirrt werden. Als Vorleser ist auf entsprechende Intonation zu achten, durch Pausen Spannung zu erzeugen oder das Gesagte durch ansprechende Gestik auszumalen, zu untermauern, dabei das Verborgene sichtbar machend (Schubert: 1991, 60), ohne zu übertreiben (Müller: 1996, 26).

2.4) Schlussfolgerungen:

Für die uns interessierenden Teilbereiche kultureller Tätigkeit, der Produktion und Re- zeption von Literatur, wirkt sich die Mündlichkeit mittelhochdeutscher Kultur dahingehend aus, dass Autoren und Vermittler von Literatur den Bedürfnissen ihres Publikums gerecht werden müssen (Bumke: 2005, 708). Die Illiteralität des rezipierenden Publikums zwingt den Dichter beziehungsweise den Vorleser gleichzeitig zu „… erzählen und [zu] handeln …“ (Wenzel: 1996, 146). Ereignisse müssen erzählt werden, um sich daran zu erinnern und um sie an eine größere Gruppe zu vermitteln (Wenzel: 1996, 146). Es gibt nahezu niemanden, der sie niederschreiben und auf diese Weise erinnern kann (Bumke: 2005, 595). Handeln wird in einem solchen Kontext wichtig, weil Erzählen - welches bereits Handeln an sich darstellt - , Schreiben oder auch Gestikulieren als physische Abläufe das Gedächtnis des Produzenten wie auch der Rezipienten unterstützen11 (Wenzel: 1995, 162) und damit ein kollektives Erinnern erleichtert wird.

Für das im Umgang mit Literatur ungeübte Publikum und seinen Möglichkeiten zur Aneignung und Erschließung von Wissen stellt sich die Sachlage etwas schwieriger dar: Während sich dem Schreiber der Inhalt eines Textes allein schon durch den Vorgang des Schreibens einprägt, versteht das Publikum einer der Mündlichkeit verhafteten Kultur vor allem, indem es andere hört und sieht (Wenzel: 1996, 146). Will heißen, das Verstehen, Erschließen und Erinnern eines Textes und seiner Tiefenschichten, kurz, seine Rezeption durch den Laienadel, basiert auf der sichtbaren Anwesenheit eines sprachlich wie auch gestisch Darstellenden (Wenzel: 1995, 36) sowie der sinnlichen Wahrnehmung des Darstellenden durch den Zuhörer beziehungsweise Zuschauer (Wenzel: 1995, 36).

Höfische Literatur ist demnach im Spannungsfeld zwischen Oralität und beginnender Schriftlichkeit zu verorten (Bumke: 2005, 614). Sie ist weder rein schriftsprachlich konzipiert, dazu ist der Einfluss des der Mündlichkeit verhafteten Laienadels zu groß (Bumke: 2005, 596), noch ist sie rein mündlicher Natur, sie beruht ja auf einer schriftlich fixierten Vorlage (Bumke: 2005, 609).

Höfische Literatur erhält damit etwas Janusgesichtiges, welches sich auch in der spezi- fischen Tätigkeit des Vortragenden zeigt. Seine Aufgabe ist nicht, den Text vorzulesen, son- dern ihn mit Hilfe ausschmückender Gesten (Schubert: 1991, 55) darzubieten, damit ein Ver- stehen und Erinnern seitens des Publikums zu erleichtern (Wenzel: 1995, 162) oder verborge- ne Bezüge zu erhellen (Kuhn: 1968, 12); kurz, dem Text Leben und Tiefgang einzuhauchen (Schubert: 1991, 55).

Rückgebunden an die eingangs postulierte Frage, warum ein überlieferter, mittelhochdeutscher Text unvollständig sein mag, so muss die Antwort darauf lauten, dass uns als Leser aufgrund unserer Verwurzelung in der Schriftsprachlichkeit, die auf uns gekommenen, mittelhochdeutschen Texte nur vollständig erscheinen. Im Gegensatz zum damaligen Laienadel (Bumke: 2005, 603), benötigen wir keine Vorleser mehr, die uns den Text mit sinnlich wahrnehmbaren Mitteln erschließen (Wenzel: 1995, 161). Ganz anders dazu die in der Mündlichkeit verwurzelte höfische Literaturgesellschaft:

In ihren Augen bestand der Text aus schriftlicher Vorlage, mündlichem Vortrag und erläuternder Darstellung (Schmitt: 1992, 248). Berücksichtigt man die Position des Laienadels als den Dichtern gegenüber tonangebende Instanz (Bumke: 2005, 596), kann man nur schlie- ßen, dass das laienadlige Verständnis von Text der bestimmende Blickwinkel auf Literatur war und damit definierte, was ein Text ist. Für die auf uns gekommenen Texte bedeutet dies, dass wir nur noch die schriftlich fixierte Seite ursprünglich komplexerer Einheiten (Bumke: 2005, 609) kennen. Uns fehlen Redeweise und Gestus, um einen vollständigen, mittelhoch- deutschen Text zu erhalten.

3) Text:

Oben angedeutetes Textverständnis weicht erheblich von den Textkonzeptionen der neueren Linguistik ab. Als bestimmende mittelhochdeutsche Textdefinition ist sie vor allem deswegen bedenkenswert, weil uns eine Erfassung höfischer Texte mit sprachwissenschaftli- chen Mitteln abgenötigt wird. Der tieferliegende Grund ist vornehmlich darin zu sehen, dass eine sachdienliche Analyse komplexer, mittelhochdeutscher Texte erste Auskünfte liefert, worin die Schwierigkeit mittelhochdeutscher Texte genau besteht, und wie dementsprechend ein Ansatz zur Rekonstruktion solch komplexer Texteinheiten zu konzipieren ist.

3.1) Text - eine Begriffsbestimmung:

Beginnen wir also mit dem Zusammenstellen bekannter Definitionen und einer kurzen Betrachtung offensichtlicher Schwierigkeiten bei der Begriffsbestimmung: Die in der neueren Texttheorie gängige, allgemeinste Definition umschreibt „Text“ schlicht als „… strukturierter Zusammenhang von Zeichen …“ (Fischer - Lichte, III: 1983, 10)12.

Bußmann geht über diesen Erklärungsversuch deutlich hinaus und präzisiert „Text“ als „… sprachliche Äußerungsform einer kommunikativen Handlung, die im Einzelnen bestimmt ist nach den pragmatischen, ʻtextexternenʼ Kriterien einer kommunikativen Intention, die situationsspezifisch ist und auf eine entsprechende Hörererwartung trifft […], und nach den sprachlichen ʻtextinternenʼ Merk- malen einer konsistenten, in der Regel wort - und satzübergreifenden Struktur. [Dazu gehören] Grenz- signale, grammatische Kohäsion, dominierendes Textthema und inhaltliche Kohärenz […] . [Hinzu] kommen bei einem weiter gefassten Textbegriff noch Eigenschaften nichtverbaler Signale wie Mimik [und] Gestik […]. Die textinternen und textexternen Faktoren begründen zusammen die Textualität ei- ner abstrakten Einheit ʻTextʼ […], die den konkreten Texten der Parole […], den ʻTextvorkommenʼ, konstitutiv zugrunde liegt. Zusammen mit weiteren, nicht konstitutiven Merkmalen des Stils differen- zieren sie je nach Ausprägung in einer Texttypologie verschiedene Klassen von Texten“ (Bußmann: 1990, 776)13.

3.2) Text - weiterführende Diskussion:

Sieht man von der Kürze des ersten Definitionsversuch einmal ab, so ergeben sich Schwierigkeiten der gegebenen Textdefinitionen, vor allem im Hinblick auf mögliche Textualitäts - Merkmale (Vater: 2001, 52)14 und die schlüssige Ausdifferenzierung einzelner Texttypen (Bußmann: 1990, 782).

3.2.1) Kohärenz und Kohäsion:

Zwecks Verdeutlichung des Gesagten verweise ich auf die Bußmanns Lexikon der Sprachwissenschaft entnommenen Erläuterungen zu Kohärenz und Kohäsion. Kohärenz ist demnach aufzufassen, als „… textbildender Zusammenhang von Sätzen, der alle Arten satzübergreifender grammatischer […] und semantischer Beziehungen umfasst. Neben den formalen Mitteln der Syntax und Morphologie […] sind vor allem semantische Strukturen kohärenzbildend, z.B. kausale oder temporale Konnexionen, Isotopie im Wortschatz oder Formen der Thematischen Progression. Im engeren Sinne […] wird Kohärenz von der grammatischen Textverknüpfung (= Kohäsion) abgegrenzt und bezeichnet speziell den semantischen, der Kohäsion zugrunde liegenden Sinnzusammenhang eines Textes, seine inhaltlich - semantische bzw. kognitive Strukturiertheit“ (Bußmann: 1990, 389).

Kohäsion ist davon abzuheben, als der „… durch formale Mittel der Grammatik hergestellte[] Textzusammenhang. Die Kohäsion eines Textes ist Grundlage seiner semantischen Kohärenz und damit seiner sinnvollen Interpretation […]. Kohäsion wird hergestellt durch Wiederholung, ʻWiederaufnahmeʼ von Textelementen, z.B. Rekurrenz, Textphorik, Paraphrase, Parallelismus; Mittel der Textverdichtung wie Ellipse, Proformen [sowie] morphologische und syntaktische Mittel zum Ausdruck verschiedenartiger Beziehungen wie Konnexion, Tempus, Aspekt, Deixis oder Thema - Rhema - Gliederung“ (Bußmann: 1990, 390).

Wie dem aufmerksamen Leser sicherlich nicht entgangen ist, nennt Bußmann einmal Kohärenz als der Kohäsion zugrunde liegend (Bußmann: 1990, 389), während letztgenanntes Zitat Kohäsion als Grundlage der Kohärenz beschreibt (Bußmann: 1990, 390). Erhellen lässt sich dieser offensichtliche Widerspruch durch die Einsicht, dass Kohärenz und Kohäsion sich gegenseitig bedingen und damit Wechselwirkungen zwischen beiden bestehen. Damit ist es nicht möglich, Kohärenz und Kohäsion begrifflich klar voneinander zu trennen (Godglück: 2012, mündliche Mitteilung). Deutlich wird dies an der Übereinstimmung der „… Formen […] Thematische[r] Progression“ (Bußmann: 1990, 389) mit den Möglichkeiten zur „Thema - Rhema - Gliederung“ (Bußmann: 1990, 390).

3.2.2) Textklassen:

Was die Ausdifferenzierung möglicher Texttypen anbelangt, erwähne ich beispielhaft Vater und seinen Ansatz, welcher, in Anlehnung an Kleiber, auf einer „Prototypentheo- rie“ (Vater: 2001, 21) aufbaut, die jeweiligen, möglichen Erscheinungsformen von „Text“ als ineinander gelagerte Merkmalsmengen deutet (Vater: 2001, 22) und auf der Vorstellung be- ruht, dass mit zunehmender Entfernung vom Zentrum mustergültiger Texte, der Textcharakter der untersuchten Einheit fragwürdiger wird (Vater: 2001, 21). Dementsprechend bilden „ ge- 15 schriebene, sprachlich wohlgeformte, kohärente Texte“ (Vater: 2001, 22) Kern und Aus- gangspunkt weiterer Differenzierungen. Zu diesem Kern zählen Novellen, Filmrezensionen, Briefe, Gedichte und dergleichen mehr (Vater: 2001, 21). Um besagtes Zentrum gruppieren sich sogenannte „Mischtexte“ (Vater: 2001, 21). Als solche gelten Texte, die Nichtsprachli- ches, Bilder oder ähnliches enthalten - Zeitungsberichte etwa (Vater: 2001, 21). Die Menge der „geschriebene[n], sprachlich wohlgeformte[n], inkohärente[n] Texte (Vater: 2001, 22) schließt sich um die vorgenannten Gruppen und liegt gleichzeitig innerhalb der Menge „nicht - sprachlicher“ Texte (Vater: 2001, 22). Comics beispielsweise, in deren Sprechblasen sich nur Satzzeichen finden, sind der Menge „ nicht - sprachlicher“ Texte zuzuordnen (Vater: 2001, 22). Die letztgenannte Gruppe wird umschlossen von einer Menge, die keinerlei Text in herkömmlichem Sinne mehr enthält. In ihr finden sich lediglich Zeichen, Verkehrsschilder, wie das Vorfahrt gewähren - Schild etwa (Vater: 2001, 22). Der Unterschied scheint darin zu liegen, dass die Menge nicht - sprachlicher Texte Sprachmaterial in weitestem Sinne enthält, Fragezeichen, Ausrufezeichen und dergleichen mehr. Verkehrsschilder fordern dagegen ein ganzes Gefüge an feststehenden Verhaltensweisen ein, ohne dabei auf Sprachmaterial irgend- einer Art zurückzugreifen. Sie vermitteln dem Rezipienten ein textähnliches Sinngefüge ohne jegliches Sprachmaterial und markieren daher die Grenze zum Nicht - Text (Vater: 2001, 22).

3.3) Versuch einer Einordnung:

Die versuchsweise Erfassung mittelhochdeutscher Texte mit dem unter Punkt drei bisher Gesagten erlaubt eine Einordnung höfischer Texte als „Mischtexte“ (Vater: 2001, 21). Allerdings ist zu sehen, dass genannte Klassifizierung nur möglich ist, weil Mischtexte per Definition lediglich sprachliche und „… nichtsprachliche Komponenten …“ (Vater: 2001, 21), sprich Schrift, Wort und Geste miteinander verknüpfen müssen. Über weiterführende, die Einordnung präzisierende Details wird an entsprechender Stelle leider geschwiegen (Vater: 2001, 21).

Ziehen wir zur Behebung dieses Mangels Bußmanns Erläuterungen zu Kohärenz und Kohäsion zu Rate, ist gleichsam festzustellen, dass uns damit nicht weitergeholfen ist. Kohä- renz und Kohäsion lassen sich zwar umschreiben als satzübergreifender, textbildender Zu- sammenhang auf semantischer beziehungsweise formaler Ebene (Bußmann: 1990, 389), da- mit ist aber das Problem der Unmöglichkeit einer klaren Trennung beider Konzepte nicht ge- löst.

Höfische Texte sind komplexe Einheiten, welche Elemente verschiedenster Ebenen miteinander verknüpfen (Schmitt: 1992, 248). Die Unmöglichkeit, Kohärenz und Kohäsion begrifflich klar voneinander zu trennen, macht es daher unmöglich, genau festzulegen, wel- cher Art eine bestimmte Verknüpfung im Text ist (Godglück: 2012, mündliche Mitteilung). Wir können also höchstens Vermutungen darüber anstellen, ob die Verkettung von Schrift, Wort und Geste nun hauptsächlich kohärenter oder kohäsiver Natur ist. Unter Bezugnahme auf Bußmann lässt sich also nur sagen, dass besagte Verknüpfung kohärent und kohäsiv sein muss (Bußmann: 1990, 776).

Genannte Einwände verdeutlichen zweierlei Dinge: Erstens fassen gängige Textdefini- tionen die Besonderheiten mittelhochdeutscher Literatur mehr schlecht als recht. Zweitens wird die Notwendigkeit einer sachdienlicheren Vorstellung von Text mit aller Deutlichkeit unterstrichen.

3.4) Eine neue Vorstellung von Text:

Voraussetzung für die Entwicklung einer neuen Vorstellung von Text ist die Anerken- nung höfischer Texte als komplexe Verbindungen von Schrift, Rede und Geste. Der mittel- hochdeutsche Text ist damit gerade nicht mündlicher oder schriftlicher Natur (Vater: 2001, 14), sondern er steht dazwischen, womit die Frage nach den Verknüpfungsmöglichkeiten bei- der Seiten in den Fokus rückt. „Verknüpfung“ als Ansatzpunkt für die Entwicklung einer trag- fähigen Vorstellung von Text erweist sich als ausgesprochen hilfreich, ruft sie denn die popu- läre, aus dem Lateinischen abgeleitete Vorstellung von Text als Gewebe wach (Vater: 2001, 14). Dem Gewebe, als Resultat einer regelhaften, schrittweisen Verknüpfung von Zwirnfäden, entspricht ein Text als Ergebnis regelhafter Verkettung einzelner, größerer Textbausteine (Va- ter: 2001, 14) - den Sätzen.

Eine genauere Betrachtung des Gewebes zeigt, dass es sich dabei um die kreuzweise Verknüpfung horizontal und vertikal laufender Zwirnfäden handelt. Damit sind zwei Fragen aufgeworfen: Erstens, woraus bestehen die Zwirnfäden und zweitens, wie sind diese ver- knüpft?

Besieht man den Zwirnfaden genauer, so ist feststellbar, dass dieser aus mehreren, kürzeren, miteinander verwobenen Fäden hergestellt ist. Weiterhin ist feststellbar, dass auch die Fäden aus kleineren Einheiten, den Fasern, bestehen.

Auf Texte übertragen bedeutet das, dass Sätze als Zwirnfäden des Textes aus kleineren Einheiten bestehen - Nominalphrasen, Verbalphrasen und dergleichen mehr.

Phrasen an sich zerlegt die Linguistik gerne in kleinere Einheiten, Worte und Mor- pheme etwa. Sie sind die Fasern des Satzes.

Was die Verknüpfung der Zwirnfäden eines Gewebes anbelangt, so impliziert die Vorstellung von Text als Gewebe, dass auch die Sätze eines Textes horizontal und vertikal miteinander verknüpft sein müssen.

Text ist somit als Gitternetz vorzustellen: Die Knotenpunkte der einzelnen Netzlinien stellen die Verknüpfungspunkte der horizontal verlaufenden Sätze dar. Setzt man voraus, dass eine horizontale Netzlinie genau einem Satz entspricht, lässt sich zudem verdeutlichen, dass es häufig nur ein bestimmter Teil des Satzes ist, der mit einem anderen bestimmten Teil des vorausgegangenen oder nachfolgenden Satzes verflochten ist, wie dies beispielsweise bei anaphorischer oder kataphorischer Verwendungsweise der Pronomen der Fall ist (Godglück: 2012, mündliche Mitteilung).

Als problematisch könnte es sich erweisen, dass Texte und deren innere Verknüpfun- gen höchst selten dem idealtypischen Bild des Gitternetzes entsprechen. Daher muss gesehen werden, dass die einzelnen Satzglieder nicht nur vertikal oder horizontal, sondern auch diago- nal miteinander verknüpft sein können. Es müssen auch nicht, wie das Bild des Gitternetzes suggeriert, die unmittelbar neben - beziehungsweise übereinander liegenden Satzglieder mit- einander verknüpft sein. Verknüpfungen können auch über größere Entfernungen hinweg be- stehen.

Im Anschluss an die gebotenen Möglichkeiten der Verkettung einzelner Satzglieder stellt sich als nächstes die Frage nach der Natur der Verknüpfungen. Verknüpft sind die einzelnen Satzglieder innerhalb eines Satzes und verflechten lassen sich die Satzglieder des vorangehenden Satzes mit denen des Nachfolgenden. Dessen Satz- glieder mögen wiederum mit denen seines Nachfolgers verknüpft sein. Womit wir es, mit anderen Worten, zu tun haben, ist ein satzübergreifender Zusam- menhang. Letztgenannter „… textbildender Zusammenhang …“ (Bußmann: 1990, 389) ent- steht aus dem Zusammenwirken kohärenz - und kohäsionsstiftender Mittel und lässt sich dementsprechend auf grammatischer (Bußmann: 1990, 389) wie auch auf semantischer Ebene (Bußmann: 1990, 389) nachweisen. Auf die Vorstellung von Text als Gitternetz bezogen, ist damit gesagt, dass die den „… textbildende[n] Zusammenhang …“ (Bußmann: 1990, 389) repräsentierenden, vertikalen Netzlinien implizit Kohärenz und Kohäsion in ihrem Zusam- menwirken darstellen. Aus dem Zusammenwirken von Kohärenz und Kohäsion ließe sich auch erklären, wie es kommt, dass ein Element, welches rein intuitiv der nach Bußmann tie- ferliegenden Sinnebene zuzuordnen ist, an der schriftlich fixierten Textoberfläche aufscheinen mag und umgekehrt (Bußmann: 1990, 389).

Aus der postulierten Untrennbarkeit von Kohärenz und Kohäsion ergibt sich des Wei- teren eine zusätzliche Anwendungsmöglichkeit unserer Vorstellung von Text. Aus der Über- legung, dass Texte Gitternetze darstellen, ist abzuleiten, dass die in den Sätzen enthaltenen und auf der Sinnebene eines Textes zu verortenden Aussagenkerne (Bußmann: 1990, 617) der einzelnen Sätze, sprich deren „Proposition[en]“ (Bußmann: 1990, 616), gleichfalls als Gitter- netz angeordnet zu denken sind. Das heißt, die tatsächliche Aussage der textkonstituierenden Sätze, ihre „Wahrheitswert[e]“ (Bußmann: 1990, 617), lassen sich mit unserem Textkonzept erfassen und, da unser Konzept auf mehreren Ebenen wirkt, sollten sich demzufolge auf Grundlage möglicher Diskrepanzen zwischen Aussagekern und schriftlicher Repräsentation durch Passung beider Auskünfte zu redebegleitenden Gesten gewinnen lassen.

3.4.1) Anwendung auf den mittelhochdeutschen Text:

Obige Textkonzeption hat gegenüber dem vorhergegangenen Versuch vor allem den Vorteil, dass sie sich für mittelhochdeutsche Hofliteratur fruchtbar machen lässt. Unterschiede und Gemeinsamkeiten sind einfacher herausstellbar. So haben mittelhochdeutsche Texte mit zeitgenössischen Texten beispielsweise eine gewebeähnliche Struktur gemein (Vater: 2001, 14). Weiterhin ist beiden gemeinsam, dass die einzelnen Sätze formal und sinnhaft, horizontal und vertikal aufeinander bezogen sein müssen (Godglück: 2012, mündliche Mitteilung).

Wichtiger für uns sind aber die Abweichungen: Höfische Texte wirken, wie andere Texte auch, auf mehreren Ebenen. Aufzufassen sind diese Ebenen als die schriftlich fixierte Textoberfläche und die darunter liegende Sinnebene (Bußmann: 1990, 389). Was den Aufbau der einzelnen Ebenen anbelangt, so gleichen sich beide, da ihnen, wie bereits gesagt, die Struktur eines Gitternetzes zugrunde liegt (Godglück: 2012, mündliche Mitteilung). Eingedenk dem durch die Machtverteilung im mittelhochdeutschen Gefüge von Autor und Rezipient zur gültigen Definition von Text erhobenen, laienadligen Verständnis von Text als komplexe Einheit aus Schrift, Wort und Geste (Schmitt: 1992, 248), gehören zum voll-ständigen Zeichensatz mittelhochdeutscher Texte Sprachzeichen, gestische Zeichen und para-linguistische Zeichen, wie etwa Intonation. Das heißt, die einzelnen, textkonstituierenden Sät-ze sowie die Formulierung der in ihnen enthaltenen Aussagekerne sind spezifische Zei- chenkombinationen, die uns nur in unvollständiger Form vorliegen, denn die zur Verwendung gekommenen Sprechweisen und Gesten wurden ja nicht mitüberliefert.

[...]


1 Kuhn, Hugo: Minnesang als Aufführungsform. In: Festschrift für Klaus Ziegler. Hrsg. von Eckehard Catholy. Tübingen: Niemeyer, 1968. S.1 - 12.

2 Schmitt, Jean - Claude: Die Logik der Gesten im europäischen Mittelalter. Stuttgart: Fischer, 1992.

3 Bumke, Joachim: Höfische Kultur: Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag, 2005.

4 Wolff, Gerhart: Deutsche Sprachgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Tübingen: Franke, 2004.

5 Beutin, Wolfgang: Deutsche Literaturgeschichte: Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart: Metzler, 2008.

6 Wenzel, Horst: Einführung: Aufführung und Repräsentation. In: Aufführung und Schrift im Mittelalter und früher Neuzeit: DFG-Symposium 1994. Hrsg. von Jan - Dirk Müller. Stuttgart: Metzler, 1996. S. 141 - 148.

7 Kinder, Hermann: dtv - Atlas zur Weltgeschichte. Bd. I. Von den Anfängen bis zur Französischen Revolution. München: dtv, 1982.

8 Eggers, Hans: Deutsche Sprachgeschichte III: Frühneuhochdeutsch. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt, 1968.

9 Schubert, Martin: Zur Theorie des Gebarens im Mittelalter: Analyse von nichtsprachlicher Äußerung in mittelhochdeutscher Epik; Rolandslied, Eneasroman, Tristan. Köln: Böhlau, 1991.

10 Müller, Cornelia: Redebegleitende Gesten: Kulturgeschichte, Theorie, Sprachvergleich. Berlin: Spitz, 1996.

11 Wenzel, Horst: Hören und Sehen, Schrift und Bild: Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München: Beck, 1995.

12 Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters: Eine Einführung. Bd. III. Die Aufführung als Text. Tübingen: Narr, 1983.

13 Bußmann, Hadumod: Lexikon der Sprachwissenschaft. Stuttgart: Kröner, 1990.

14 Vater, Heinz: Einführung in die Textlinguistik. München: Fink, 2001.

Ende der Leseprobe aus 76 Seiten

Details

Titel
Die Aufführung mittelhochdeutscher Lyrik
Untertitel
Versuch einer Rekonstruktion am Beispiel von Walthers "Under der linden" und Neidharts "Sommerlied Nr. 70"
Hochschule
Universität des Saarlandes
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
76
Katalognummer
V212797
ISBN (eBook)
9783656404903
ISBN (Buch)
9783656405610
Dateigröße
689 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
aufführung, lyrik, versuch, rekonstruktion, beispiel, walthers, under, neidharts, sommerlied
Arbeit zitieren
Jens Pfundstein (Autor:in), 2012, Die Aufführung mittelhochdeutscher Lyrik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/212797

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