Säkularisierung und Islam


Hausarbeit (Hauptseminar), 2012

24 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der Begriff der Säkularisierung
2.1 Der Begriff der Säkularisierung bei Böckenförde
2.1.1 Zwei Formen von Neutralität
2.1.2 Rechtfertigungsansätze säkularer Staaten
2.2 Der Begriff der Säkularisierung bei Casanova

3. Entstehung, Grundlagen sowie Rechtssystem des Islam
3.1 Die Entstehung des Islam
3.2 Die Grundlagen und einige geistliche Strömungen im Islam
3.3 Das islamische Rechtssystem

4. Säkularisierung und Islam
4.1 Die islamistische Auffassung von „Religion und Staat“
4.2 Die Trennung von Kirche und Staat im Islam
4.3 Die Bedeutung und Anwendung der Scharia

5. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Der 17. Dezember 2010 wurde zu einem historischen Tag, welcher ungeahnte Folgen für die gesamte arabische Welt haben sollte. An diesem Datum verbrannte sich der tunesische Gemüsehändler Mohamed Bouazizi in Sidi Bouzid, einer etwa 250 Kilometer südlich von Tunis gelegenen Stadt. Aufgrund seiner perspektivlosen Lebenssituation griff der junge Tunesier zu diesem drastischen Mittel. Binnen weniger Tage kam es zu ähnlichen Aktionen in weiteren arabischen Ländern wie Ägypten, Libyen oder Syrien, sodass schließlich in nahezu jedem arabischen Staat Massenproteste ausbrachen. Ziel dieser Proteste, welche in beispielsweise Syrien oder Bahrain bis zum heutigen Tage andauern, war es, nicht nur bessere Lebensbedingungen für die Menschen der Länder zu erreichen, sondern auch die herrschenden Machthaber zu stürzen, um mehr Gerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit und vielleicht sogar demokratische Verhältnisse zu erlangen.[1] Europäische Journalisten und Wissenschaftler sahen die Proteste in der arabischen Welt als Anzeichen für eine eventuell einsetzende Demokratisierung, welche letztlich ebenfalls mit einer Säkularisierung der bestehenden Gesellschaftsordnungen verbunden sein könnte. Doch was bedeutet eigentlich Säkularisierung und ist diese in islamischen Gesellschaften überhaupt denkbar? Eng hiermit verbunden ist eine weitere Fragestellung, nämlich, ob sich der europäische Säkularisierungsansatz so einfach auf islamische Gesellschaftsordnungen übertragen lässt?

Diese Arbeit soll in den folgenden Kapiteln versuchen, die aufgeworfenen Fragen zu beantworten. Hierfür wird zunächst der zentrale Begriff der Säkularisierung definiert. Dabei wird zunächst auf einen Definitionsansatz nach Ernst-Wolfgang Böckenförde und anschließend auf eine weitere Definition nach José Casanova zurückgegriffen. Im Anschluss daran erfolgt ein kurzer Überblick über die Entstehungsgeschichte sowie über die Grundlagen und das Rechtssystem des Islam. Anschließend soll versucht werden, die hier aufgeworfenen Fragestellungen zu beantworten. Der Autor geht allerdings davon aus, dass aufgrund der letzten Wahlergebnisse in Tunesien und Ägypten zum aktuellen Zeitpunkt eher ein Trend in Richtung Islamisierung der postrevolutionären Gesellschaften besteht. Deshalb vermutet er, dass zum derzeitigen Zeitpunkt mögliche Säkularisierungstendenzen in diesen Staaten in weite Ferne gerückt sein könnten.

2. Der Begriff der Säkularisierung

Zunächst leitet sich der Begriff der Säkularisierung vom lateinischen Wort saeculum ab, welches so viel wie Jahrhundert oder Zeitalter bedeutet. Interessanterweise stammt dieser lateinische Begriff aus dem westlichen Christentum und dessen Theologie, weshalb bereits an dieser Stelle eine enge Verbindung zwischen Säkularisierung und westlichem Christentum vermutet werden kann. Gestärkt wird diese Vermutung dadurch, dass nach José Casanova kein äquivalenter Begriff in anderen Weltreligionen oder im östlichen Christentum existiert.[2] Die Endung „-ierung“ deutet weiterhin darauf hin, dass es sich bei der Säkularisierung um einen Prozess handelt, welcher über einen gewissen Zeitraum bestimmte Veränderungen mit sich bringt.

Doch was meint eigentlich Säkularisierung? Im Folgenden sollen mithilfe von Ernst-Wolfgang Böckenförde und José Casanova zwei Konzepte zur Definierung von Säkularisierung vorgestellt werden.

2.1 Der Begriff der Säkularisierung bei Böckenförde

Aus historischer Sichtweise ist der Säkularisierungsprozess eng mit der Entstehung der europäischen Nationalstaaten verbunden, weshalb nur eine gemeinsame Betrachtung von Staat und Säkularisierung sinnvoll erscheint. Der Charakter eines säkularen Staates lässt sich nach Ernst-Wolfgang Böckenförde dahin umschreiben, "daß in ihm die Religion beziehungsweise eine bestimmte Religion nicht mehr verbindliche Grundlage oder Ferment der staatlichen Ordnung ist.“[3] Vielmehr sind Religion bzw. Kirche und Staat in einem grundsätzlichen Trennungsverhältnis, sodass der Staat als solcher offiziell keine Religion hat und vertritt. Während in der Antike sowie im Mittelalter der „Staat“ von der Religion umfangen wurde, so hat sich der moderne Nationalstaat von der Religion emanzipiert und somit auch säkularisiert. Deshalb verfolgt er ausschließlich weltliche Zwecke, um das Zusammenleben von Menschen zu organisieren. Darüber hinaus legitimiert sich der Staat aus diesen weltlichen Zwecken, sodass religiöse Zwecke schließlich „außerhalb seines Befugniskreises“[4] liegen. Letztlich verdeutlicht diese Definition, dass die Säkularisierung einen Prozess darstellt, welcher zu einer Trennung von Staat und Religion führt.

Fraglich bleibt für Böckenförde jedoch, ob eine derartige Trennung nicht zu einem gottlosen Staat führe? Nach Böckenförde wäre ein solcher Schluss zu voreilig. Trotzdem gibt er zu, dass „der Staat die Eigenschaft einer ‚societas perfecta‘ im Sinne eines umfassenden, alle Lebensbereiche der Menschen in sich einbeziehenden Gemeinwesens, das sich selbst genügt, wie es in der politischen Theorie des Aristoteles vorgestellt wird“[5] verliert. Dennoch wird die Religion vom Staat nicht verneint. Vielmehr setzt sich der Staat in ein Verhältnis zur Religion, welches dadurch gekennzeichnet ist, dass „die Religion vom Staat freigegeben wird, in Freiheit gesetzt wird.“[6] Die Organisation, Zulassung sowie Ausübung der Religion liegt jedoch nicht länger im Zuständigkeitsbereich des Staates. Dies bedeutet, dass der Staat die Religion in den gesellschaftlichen Bereich verweist, weshalb die Religion nicht länger den Charakter des Staates bestimmt, sodass dieser kein „christlicher, muslimischer oder von einer anderen Religion verbindlich geprägter Staat sein kann“[7]. Trotzdem kann die Religion weiterhin aus der Zivilgesellschaft heraus Einfluss auf die gesellschaftliche Gestaltung des Staates nehmen, weshalb „das politische Eintreten für Ziele und Forderungen, die sich aus religiöser Motivation herleiten, […] keineswegs ausgeschlossen [ist, Anm. d. Autors].“[8]

Dieser Punkt der Einflussnahme auf den Staat führt nun hin zu den Grenzen, welche vom Staat für die Religion gezogen werden. Grundsätzlich versteht sich der säkularisierte Staat als „religionsneutraler Staat“[9]. Das bedeutet, dass er sich erstens mit keiner Religion oder Religionsgemeinschaft identifiziert, zweitens gewährt er religiöse Freiheiten, verweigert der Religion gleichzeitig jedoch drittens den Zugriff auf staatliche Ämter und Institutionen. Für Böckenförde sind der erste und dritte Punkt hierbei unproblematisch. Interessanter ist die Frage nach den Umfängen und Grenzen religiöser Freiheiten innerhalb einer staatlichen Rechtsordnung.[10] Um diese Frage zu klären, greift Böckenförde auf „zwei unterschiedliche Konzepte staatlicher Neutralität“[11] zurück, welche sich in den vergangenen Jahrhunderten herausbildeten.

2.1.1 Zwei Formen von Neutralität

Zum einen handelt es sich um das Konzept der distanzierenden Neutralität, welches vor allem in Frankreich praktiziert wird. Nach Böckenförde ist die französische Laizität, welche sich durch die erwähnte distanzierende Neutralität auszeichnet, streng zu trennen von der türkischen Laizität. Bei dieser handelt es sich laut Böckenförde um einen staatlich verwalteten Islam, da Glaubensfragen sowie der religiöse Kult dem Direktorium für Religionsfragen (Diyanat) unterstellt sind. Zum zweiten existiert das Konzept der übergreifenden offenen Neutralität, welches vor allem in der Bundesrepublik Deutschland anzutreffen ist. Erstere, also die distanzierende Religion, „verweist die Religion tendenziell in den privaten und privat-gesellschaftlichen Bereich und hält sie dort fest“[12], wohingegen die offene Neutralität Möglichkeiten der Entfaltung im öffentlichen Raum offeriert. So zum Beispiel in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen oder allgemeiner ausgedrückt in Institutionen der öffentlichen Ordnung.[13]

Der Unterschied der beiden Konzepte ist nach Böckenförde „nicht nur ein formaler, er wirkt sich vor allem in den Bereichen aus, die einen geistlich-religiösen und weltlich-politischen Aspekt zugleich haben (rex mixtae).“[14] Diese rex mixtae ist überall dort anzutreffen, „wo eine Religion sich nicht auf Gottesverehrung in Form von Liturgie und Kultus beschränkt, sondern auch das Leben in der Welt und Verhaltensgebote dafür in sich einbegreift, wie das bei der christlichen Religion, ebenso aber auch im Islam und im Judentum der Fall ist.“[15] Die distanzierende Neutralität ist nun dadurch gekennzeichnet, dass sie eine rein weltliche Rechtsordnung ausformt, welche religiöse Aspekte als irrelevant und privat abweist. Im Unterschied dazu versucht die offene Neutralität, einen Ausgleich herzustellen, „indem das Bekenntnis und die Lebensführungsmöglichkeit gemäß der Religion auch im öffentlichen Bereich, soweit mit den weltlichen Zwecken der staatlichen Ordnung vereinbar, durch die Rechtsordnung zugelassen und in sie hineingenommen wird.“[16]

Nachdem die unterschiedlichen Konzepte der Neutralität dargelegt wurden, soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, wie sich ein säkularer Staat rechtfertigt bzw. legitimiert, immerhin war es in der Geschichte und ist es in der heutigen Zeit nicht selbstverständlich, dass Staat und Religion voneinander getrennt waren bzw. sind. So waren beispielsweise in der griechischen Polis oder im Römischen Reich Religion und politische Ordnung nicht voneinander zu trennen. Vor allem existierte im Mittelalter laut Böckenförde eine „religiös-politische Einheitswelt“[17].

2.1.2 Rechtfertigungsansätze säkularer Staaten

Zunächst gibt es nach Böckenförde einen traditionellen Rechtfertigungsansatz, welcher „eng mit der Herausbildung des Staates als einer Form der Säkularisierung der politischen Ordnung verknüpft [ist, Anm. d. Autors]“[18]. Dieser Prozess resultierte „aus der Abwehr kirchlich-religiöser Suprematieansprüche im weltlichen Bereich, die nicht nur im Mittelalter auf der Grundlage einer bestehenden religiös-politischen Einheitswelt, sondern auch in der frühen Neuzeit weit verbreitet waren.“[19] Vor allem jedoch die Spaltung des Christentums, welche schließlich im dreißigjährigen Krieg mündete, musste nach Böckenförde eine eigene, von der Religion unabhängige Legitimation finden, um das Zusammenleben der Menschen zu gewährleisten und zu ordnen. Nur so war es ihr möglich, politische Autonomie zu erlangen und durchzusetzen. Funktionieren konnte dieser Vorgang jedoch nur „durch eine prinzipielle Unterscheidung von religiöser und politischer Ebene, die Formulierung genuin weltlicher Aufgaben und Zwecke der politischen Ordnung und die Behauptung der Suprematie in diesen Aufgaben und Zwecken gegenüber kirchlich-religiösen Ansprüchen“[20]. Hierbei war die Religionsfreiheit jedoch nicht leitendes Motiv. Sie ergab sich vielmehr als Folge der Abwehr kirchlich-religiöser Intoleranz und aus der politischen Entscheidung, dass Menschen unterschiedlicher religiöser Zugehörigkeit friedlich zusammenleben sollten.

Da mittlerweile selbst die katholische Kirche die Religionsfreiheit anerkannt und ihren alten Herrschaftsansprüchen entsagt hat, ist fraglich, ob diese traditionelle Rechtfertigung noch zeitgemäß ist. Deshalb führt Böckenförde einen zweiten Rechtfertigungsansatz ein, welcher sich von den Menschenrechten her ableitet.[21] Nach Böckenförde stellt dieser Ansatz die Rechtfertigung des Staates auf eine gänzlich neue Grundlage, da sie nicht allein auf die Freiheitsrechte des Individuums gegenüber dem Staat abzielen, sondern ebenfalls „der staatlichen Ordnung insgesamt eine andere, neuartige Legitimation verschaffen.“[22] Anspruch der Menschenrechte ist weiterhin, Grundlage aller menschlichen Gemeinschaften zu sein bzw. zu werden, weshalb die Gewährleistung der Menschenrechte als die zentrale Aufgabe des Staates angesehen werden kann. Daraus ergibt sich, dass nicht die Menschen um des Staates willen, sondern der Staat um der Menschen willen da ist. Zu diesen erwähnten Menschenrechten gehört freilich das Grundrecht der Religionsfreiheit, welches laut Böckenförde „vom Ursprung her das erste Grundrecht des auf sich gestellten Individuums“[23] darstellt. Wird die Religionsfreiheit voll anerkannt, so führt sie dazu, dass der Staat nicht nur eine Freiheit zur Religion, sondern auch eine Freiheit von der Religion gewährleistet.

Letztlich bleibt dieser Rechtfertigungsansatz nicht ohne Einfluss auf die religiöse Neutralität des Staates, da die Religionsfreiheit nicht nur den privaten, sondern auch den öffentlichen Lebensbereich betrifft. Deshalb ist nach Böckenförde die offene, übergreifende Neutralität die angemessene Form, da diese auch einen öffentlichen Entfaltungsraum bietet. Da die distanzierende Neutralität keine religiösen Freiheiten im öffentlichen Raum gewährt und somit keine volle Religionsfreiheit garantieren kann, geriet sie laut Böckenförde unter Rechtfertigungsdruck.

[...]


[1] Vgl. Kunz, Mathias (2011): Revolutionäre Umbrüche und Gewalt erklärt anhand der modifizierten Modernisierungstheorie − Das Fallbeispiel Libyen, München, Grin Verlag, S. 1.

[2] Vgl. Casanova, José (2009): Europas Angst vor der Religion, Berlin, Berlin University Press, S. 85.

[3] Böckenförde, Ernst-Wolfgang (2007): Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung

und seine Probleme im 21. Jahrhundert, München, Carl Friedrich von Siemens Stiftung, S. 12.

[4] Zitiert nach Böckenförde (2007): Der säkularisierte Staat, S. 13.

[5] Böckenförde (2007): Der säkulare Staat, S. 13.

[6] Ebd., S. 13.

[7] Ebd., S. 14.

[8] Ebd.

[9] Ebd.

[10] Vgl. Ebd., S. 14 f.

[11] Ebd., S. 15

[12] Böckenförde (2007): Der säkulare Staat, S. 15.

[13] Vgl. Ebd.

[14] Ebd., S. 16.

[15] Ebd.

[16] Ebd.

[17] Ebd.

[18] Böckenförde (2007): Der säkulare Staat, S. 17.

[19] Ebd.

[20] Ebd, S. 17.

[21] Vgl. Ebd., S. 18.

[22] Ebd., S. 19.

[23] Ebd.

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Säkularisierung und Islam
Hochschule
Universität Potsdam  (Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät )
Veranstaltung
Religion und Politik
Note
2,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
24
Katalognummer
V231615
ISBN (eBook)
9783656474609
ISBN (Buch)
9783656474760
Dateigröße
578 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ägypten, Islam, Arabischer Frühling, Säkularisierung, Arabische Welt, Arabellion, Demokratisierung
Arbeit zitieren
Mathias Kunz (Autor:in), 2012, Säkularisierung und Islam, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/231615

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