Wenn der Leser und die Leserin akzeptiert, dass bestimmte Menschen besondere geistige oder spirituelle Fähigkeiten besitzen und es ihnen aus diesem Grund gelingt, die grundsätzlich allen Menschen zur Verfügung stehenden psychischen Möglichkeiten auszuschöpfen, dann können wir auch heute noch einen Zugang finden zum Verständnis der altägyptischen Jenseitsbeschreibungen, wie wir sie in der Jenseitsliteratur in vielfältiger Weise vorfinden.
Tiefenpsychologie, Schamanismus und religiöses Erleben - Zu den altägyptischen Jenseitsbeschreibungen
Vorbemerkung
Bei diesem Text handelt es sich um ergänzende Bemerkungen zu meinem Vortrag „Der Einstieg in die Unterwelt beginnt im Kopf. Zur Interpretation der altägyptischen Jenseitsliteratur“, den ich bei der 37. Ständigen Ägyptologenkonferenz (SÄK) 2005 in Tübingen gehalten habe. Ich stelle nun auch diese Überlegungen zur Verfügung, damit sie vielleicht zu einer anderen als der altbekannten Betrachtungsweise der altägyptischen Jenseitsliteratur beitragen.
Einleitung
Woher stammt das wissen über das Jenseits? Wer sammelte die Informationen über die jenseitige Welt, in der der Verstorbene seinen Weg bis zu seiner Wiedergeburt durchschreiten musste?
Schamanen sind Wanderer zwischen dem Diesseits und dem Jenseits. Als Spezialisten für die Seele bewegen sie sich in dieser Funktion im Dienste ihrer Gemeinschaft in jenseitigen Bereichen. Es handelt sich bei diesen Reisen nicht um Träume. Es sind geistige Reisen, die im Extremfall zu außerkörperlichen Erfahrungen führen.
Wenn der Leser und die Leserin akzeptiert, dass bestimmte Menschen besondere geistige oder spirituelle Fähigkeiten besitzen und es ihnen aus diesem Grund gelingt, die grundsätzlich allen Menschen zur Verfügung stehenden psychischen Möglichkeiten auszuschöpfen, dann können wir auch heute noch einen Zugang finden zum Verständnis der altägyptischen Jenseitsbeschreibungen, wie wir sie in der Jenseitsliteratur in vielfältiger Weise vorfinden. Denn dann werden wir anerkennen müssen, dass die Beschreibungen der Jenseitsführer, wie sie zum Beispiel im Amduat, dem Pfortenbuch, dem Zweiwegebuch oder dem Höhlenbuch zu finden sind, im großen Stil den Darstellungen schamanischer Jenseitsreisen entsprechen. Viele Merkmale stimmen mit denen von schamanischen Jenseitsbeschreibungen überein, etwa der Eingang in die Unterwelt durch eine Höhle oder Felsspalte, die jenseitige Topographie, der Schrecken, den es zu besiegen gilt, die Hilfe durch Türsteher und Geister, die Suche nach dem Paradies und der Erleuchtung und letztendlich die Wiedergeburt.[1]
Tiefenpsychologie und Jenseitsbeschreibungen
Erik Hornung betrachtet die Jenseitsliteratur aus der tiefenpsychologischen Perspektive, weist aber ausdrücklich darauf hin, dass er in dieser Literatur keine „psychologischen Traktate“ sieht. Es handle sich um das „Ergebnis einer Wissenschaft vom Jenseits, die sich zum Teil auf jahrtausendealte, intuitiv gewonnene Einsichten stützt, sie aber auch schöpferisch weiterentwickelt und nach Möglichkeit … in eine systematische Form bringt“.[2] Hornung spricht vom zeitlosen Unbewussten,[3] das sich in Träumen zu Wort melde und interpretiert die Jenseitsliteratur wie folgt: Der altägyptische Mensch meinte, seine Seele wäre während des Schlafens im Jenseits unterwegs. Das, was sie da erlebt habe, sei in Form der Jenseitsbeschreibungen festgehalten worden. Die Unterweltsliteratur beschreibe also aus altägyptischer Sicht das Jenseits, tatsächlich aber spiegle sie das Unbewusste. „Die Lebenden“, so Erik Hornung, „können sich eigentlich mit der Welt der Toten nicht vertraut machen, und auch für die Ägypter war das Jenseits ein ‚anderes Reich, das die Menschen nicht kennen’. Aber an einer Stelle scheint ein Einstieg in jene Welt möglich zu sein: in der ‚Unterwelt’ des Unbewußten in der menschlichen Seele, das uns mit dem Jenseits verbindet. Was die Unterweltsbücher der thebanischen Königsgräber beschreiben, sind Fahrten durch tiefste Räume der Seele, und auch das Totenbuch versucht in vielen seiner Sprüche, mit dem Licht der Sonne, des Tagesbewußtseins, in tiefste Schichten menschlicher Existenz hinabzuleuchten, elementare Wünsche, Ängste, Gefahren und Möglichkeiten aufzudecken oder namhaft zu machen. Hier wird Tiefenpsychologie in nahezu modernem Sinne betrieben, aber es werden zugleich Informationen über das Jenseits gesammelt und in Wort oder Bild mitgeteilt. Was von beiden vordergründig, was hintergründig ist, bleibt eine Frage des Standpunktes“.[4]
Das „zeitlose Unbewusste“, von dem Erik Hornung spricht, entspricht dem „kollektiven Unbewussten“ C. G. Jungs, das sich in Träumen in Form von archetypischen Bildern zeigt. Archetypen sind Inhalte des kollektiven Unbewussten und entstammen überindividuellen Bereichen. Sie sind, so der Psychologe Anthony Stevens, „universale, identische Strukturen der Psyche“: „Im wesentlichen verstand er [C. G. Jung] sie [die Archetypen] als angeborene neuropsychologische Zentren mit der Fähigkeit, allgemeine und für alle Menschen typische Verhaltensmuster und Erfahrungen auszulösen, zu steuern und miteinander in Verbindung zu setzen. Archetypen lösen bei gegebenem Anlaß in allen Menschen ähnliche Gedanken, Bilder, Gefühle, Ideen und Mythen aus, unabhängig von Klasse, Religion, Rasse, geographischer Lage und geschichtlicher Epoche“.[5]
Die Idee des kollektiven Unbewussten könnte, so sollte man meinen, die Interpretation der altägyptischen Jenseitsbeschreibungen erleichtern, wenn man in ihnen archetypische Bilder erkennen möchte. Doch ganz so einfach ist es nicht, denn Archetypen haben keinen spezifischen Inhalt, sondern sind Möglichkeiten zum Erleben der Welt oder anders gesagt: Muster zur Reaktion auf bestimmte Ereignisse.
Archetypen manifestieren sich in Form von Komplexen im persönlichen Unbewussten der individuellen Psyche. Nicht der Archetypus zeigt sich in Träumen, sondern seine Symbole - und darin liegt die Schwierigkeit dieses Interpretationsansatzes. „Das Symbol stellt einen Versuch der unbewußten Psyche dar, ein Unbekanntes, das lediglich dunkel geahnt und erspürt werden kann, in dem Individuum nachvollziehbaren Bilder auszudrücken. Das Symbol ist nie ganz ausdeutbar, immer bleibt ein Rest Unerklärbares zurück. Das Symbol vereinigt unbewußtes und bewußtes Material“.[6] Das heißt, dem träumenden Altägypter zeigte sich das Unbewusste in Bildern, die er verstehen konnte, die aber nicht auch uns verständlich sein müssen. Sie stammen aus seinem Alltag, seiner Weltsicht, seiner Lebensweise und seiner Kultur. „Wirksam werden können allgemeine Ideen ohnehin meist erst dann, wenn sie mit persönlichen Erfahrungen und Vorstellungen des Träumers in Beziehung treten. Archetypische Symbole stellen sich deshalb oft so dar, daß sie überhaupt dem Individuum annähernd faßbar zu werden vermögen, und das geschieht eben durch das Eintauchen der archetypischen Symbole in den Verstehenshorizont der Wachwirklichkeit des Träumers“.[7]
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[1] S. dazu Joan Halifax, Die andere Wirklichkeit der Schamanen. Erfahrungsberichte von Magiern, Medizinmännern und Visionären, 1983
[2] Erik Hornung, Das Totenbuch der Ägypter, 1990, 26
[3] S. Erik Hornung, Die Nachtfahrt der Sonne. Eine altägyptische Beschreibung des Jenseits, 1998, 8
[4] Hornung, Totenbuch, 25f
[5] Anthony Stevens, Jung, 1999, 50
[6] Harre, Träume weisen dir den Weg. Praxis der Traumdeutung nach C. G. Jung, 1981, 36
[7] Harre, Träume, 74
- Arbeit zitieren
- M.A. Sabine Neureiter (Autor:in), 2005, Tiefenpsychologie, Schamanismus und religiöses Erleben. Zu den altägyptischen Jenseitsbeschreibungen., München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/233588