Der Erwerb des Lesens und des Schreibens wird in neuerer Zeit als Denkentwicklung verstanden, während derer Einsichten in Funktion und Aufbau unseres Schriftsystems gemacht werden müssen. Fehler werden dabei als Notwendigkeit betrachtet, die den Entwicklungsstand eines Kindes bzw. sein Wissen über unser Schriftsystem offenbaren. Diese Betrachtungsweise der Schriftsprachentwicklung hatte eine ganz bestimmte Sichtweise von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten zur Folge. Die Entwicklung der Schüler mit Problemen beim Schriftspracherwerb verläuft danach lediglich zeitlich verzögert, aber in der gleichen Form wie die der Kinder, die das Lesen und Schreiben ohne Schwierigkeiten erwerben.
Aus der heutigen Sichtweise von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten entstehen weitreichende Konsequenzen für die betroffenen Kinder. Sie werden bestimmten Stufen in der Entwicklung zugeordnet und Fördermaßnahmen orientieren sich am normalen Fortgang und beschränken sich auf die Entfaltung schriftsprachlicher Fähigkeiten gemäß der Zone der nächsten Entwicklung. Die Frage, die sich nun ergibt, ist, ob die Form der Erfassung lese-rechtschreib-schwacher Kinder in Stufenmodellen sinnvoll ist und ob die Entwicklung dieser Kinder mit der von Kindern ohne Schwierigkeiten vergleichbar ist.
Zu Beginn dieser Arbeit soll die Entstehung dieses Ansatzes vom Ende des 19. Jahrhunderts bis heute beschrieben werden. Dabei möchte ich ihr vorausgehende Konzepte, das Legastheniekonzept und den prozeßorientierten Ansatz, in ihrer Brauchbarkeit zur Erfassung von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten bewerten. Im Folgenden soll deutlich werden, daß die derzeitige Sichtweise der Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten der Komplexität des Phänomens nicht gerecht wird, daß vor allem eine sozialpsychologische Sichtweise der Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten nötig ist, um das Problem adäquat zu erfassen. Die aus den Untersuchungen hervorgehenden Merkmale der Kinder werden deshalb in ein entsprechendes Modell eingeordnet. Aus den vorliegenden Untersuchungsergebnissen und der im dritten Kapitel dargestellten differenzierten Sichtweise von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten entstehen Konsequenzen, die sich überwiegend auf Interventionsverfahren und die weitere Forschung beziehen. Diese werden zum Schluss dargestellt.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- 1. Historische Entwicklung der Erforschung der Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten
- 1.1 Die Anfänge der Forschung
- 1.2 Die Legasthenieforschung
- 1.3 Kritik am Legastheniekonzept
- 1.4 Funktion des Legastheniekonzepts
- 1.5 Der prozeßorientierte Ansatz
- 1.5.1 Redundanz-Modell des Lesens nach Haber
- 1.5.2 Zwei-Wege-Modell des Lesens nach Coltheart
- 1.5.2.1 Weiterentwicklungen des Zwei-Wege-Modells
- 1.6 Der entwicklungsorientierte Ansatz
- 2. Stufenmodelle des Schriftspracherwerbs
- 2.1 Stufenmodell der Entwicklung des Lesens und des Schreibens nach Günther
- 2.2 Modell der Rechtschreibentwicklung nach Scheerer-Neumann
- 2.3 Modell der Rechtschreibentwicklung nach Valtin
- 2.4 Veränderte Sichtweisen
- 3. Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten im Rahmen der Schriftsprachentwicklung
- 3.1 Relevanz der Stufenmodelle des Schriftspracherwerbs für die entwicklungsorientierte Sicht von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten
- 3.2 Schriftsprachentwicklung aus sozialpsychologischer Perspektive
- 3.2.1 Merkmale lese-rechtschreib-schwacher Kinder und deren Entwicklung
- 3.2.1.1 1. Stadium der Entwicklung
- 3.2.1.2 2. Stadium der Entwicklung
- 3.2.1.3 3. Stadium der Entwicklung
- 3.2.1.4 4. Stadium der Entwicklung
- 3.2.1 Merkmale lese-rechtschreib-schwacher Kinder und deren Entwicklung
- 4. Konsequenzen
- 4.1 Schulische Konsequenzen
- 4.1.1 Die soziale Situation
- 4.1.2 Das Selbstvertrauen
- 4.1.3 Der Schriftspracherwerb
- 4.2 Konsequenzen für die Forschung
- 4.1 Schulische Konsequenzen
- Schlußbemerkung
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der aktuellen Sichtweise von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten als Verzögerung der Schriftsprachentwicklung und hinterfragt deren Gültigkeit. Die Arbeit analysiert die Entstehung dieser Sichtweise im Kontext der historischen Entwicklung der Forschung und untersucht, ob die Einordnung von Kindern mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten in Stufenmodelle der Schriftsprachentwicklung gerechtfertigt ist. Darüber hinaus wird die Relevanz der sozialpsychologischen Perspektive für das Verständnis von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten beleuchtet.
- Die historische Entwicklung des Legastheniekonzepts und die Kritik daran
- Die Bedeutung von Stufenmodellen für die aktuelle Sichtweise auf Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten
- Die sozialpsychologischen Aspekte der Schriftsprachentwicklung bei Kindern mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten
- Die Frage, ob Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten tatsächlich nur eine Verzögerung des Schriftspracherwerbs darstellen
- Konsequenzen für die schulische Praxis und die Forschung
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung erläutert den aktuellen Stand der Forschung zu Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten und stellt die zentrale Fragestellung der Arbeit dar: Ob die Betrachtung von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten als reine Verzögerung der Schriftsprachentwicklung gerechtfertigt ist.
Kapitel 1 beleuchtet die historische Entwicklung der Erforschung von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten, beginnend mit den Anfängen der Forschung bis hin zur aktuellen entwicklungsorientierten Sichtweise. Dabei werden das Legastheniekonzept und der prozeßorientierte Ansatz diskutiert und ihre Bedeutung für das Verständnis von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten bewertet.
Kapitel 2 analysiert verschiedene Stufenmodelle des Schriftspracherwerbs, darunter das Stufenmodell von Günther, das Modell der Rechtschreibentwicklung nach Scheerer-Neumann und das Modell von Valtin. Es wird untersucht, wie diese Modelle die Entwicklung von Lese-Rechtschreib-Fähigkeiten bei Kindern beschreiben und welche Rolle sie in der aktuellen Sichtweise auf Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten spielen.
Kapitel 3 geht auf die Relevanz der Stufenmodelle für die entwicklungsorientierte Sicht von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten ein und betrachtet die Schriftsprachentwicklung aus sozialpsychologischer Perspektive. Es werden Merkmale lese-rechtschreib-schwacher Kinder und deren Entwicklung in verschiedenen Stadien analysiert.
Kapitel 4 diskutiert die Konsequenzen der aktuellen Sichtweise auf Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten für die schulische Praxis und die Forschung. Es werden Aspekte wie die soziale Situation, das Selbstvertrauen und der Schriftspracherwerb bei Kindern mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten beleuchtet.
Schlüsselwörter
Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten, Schriftsprachentwicklung, Legasthenie, Stufenmodelle, sozialpsychologische Perspektive, Entwicklungsverzögerung, Förderung, Intervention, schulische Praxis, Forschung.
- Arbeit zitieren
- Sandra Kleine (Autor:in), 2000, Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten: eine Verzögerung im Schriftspracherwerb?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/25303