"Shutter Island": Zwischen Ermittlungsarbeit und Schizophrenie.

Der last act twist und die Frage nach der wahren Identität.


Hausarbeit, 2013

37 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Methodik: Die Filmanalyse- und Fernsehanalyse nach Knut Hickethier

3. Theoretische Grundlagen
3.1 Definition Dramaturgie
3.2 Definition Narration
3.3 Traditionelle Dramaturgie versus offene Dramaturgieformen
3.5 Erzählstrategien im Film: Die unzuverlässige Erzählung
3.5.1 Der last act twist

4. Hypothese

5. Filmanalyse
5.1 Plot
5.2 Der last act twist : Schizophren oder nicht?
5.3 Der last act twist in Shutter Island: Die narrative Umsetzung im Film.
5.4 Hypothesenprüfung

6. Fazit

7. Quellenverzeichnis
7.1 Literatur
7.2 Internetquellen

8. Stab

9. Sequenzprotokoll

„Wer ist Patient 67 ?“

Zitat aus: Shutter Island

1. Einleitung

Der im Jahr 2010 veröffentlichte US-amerikanische Psycho-Thriller Shutter Island ist einer der finanziell erfolgreichsten Regie-Darbietungen des amerikanischen Regisseurs Martin Scorsese. Mit einem geschätzten Brutto-Umsatz von 127.968.405 Millionen Dollar[1] allein in den USA reiht sich die Geschichte rund um den US-Marshall Edward – „Teddy“ – Daniels in die obere Liga der Hollywood-Filme des Jahres 2010 ein. Eine Besonderheit des Filmes ist die darin angewendete Erzählweise: Die unzuverlässige Erzählung. Diese Erzählform gehört zu den Erzählmöglichkeiten des postklassischen Hollywood und soll den Zuschauer bewusst auf eine falsche Fährte locken. Sie soll dem Film somit eine Art Doppeldeutigkeit verleihen. Innerhalb dieser Arbeit wird diese Form der Erzählung und das überraschende Filmende – der so genannten last act twist – näher beleuchtet. In Zusammenhang mit dieser Zielsetzung geht die Ausarbeitung der Frage nach der wahren Identität der Hauptfigur einher. Zudem soll die Analyse klären, warum das Ende in Shutter Island als last act twist bezeichnet werden kann, obwohl es zunächst so scheint, als wäre die Identität des Protagonisten Edward Daniels letztlich aufgelöst. Es wird somit untersucht, welche offensichtlichen und indirekten Hinweise und Zeichen im Filmverlauf auf Doppelidentität der Hauptfigur hindeuten. Gibt es eventuell zwei Erzählebenen – ähnlich wie in The Sixth Sense (1999)[2] – und wenn ja, wie werden diese in der Erzählung miteinander verwoben, beziehungsweise in die Erzählung eingebaut, sodass Möglichkeiten der Mehrfachinterpretation gegeben sind?

Bevor sich diese Arbeit jedoch der narrativen Filmanalyse von Shutter Island zuwendet, wird vorab noch auf die Filmanalyse als Methodik eingegangen, um auch die Vorgehensweise in dieser Ausarbeitung transparenter zu gestalten. Anschließend werden wichtige theoretische Grundlagen, Begrifflichkeiten und die Arbeitshypothesen erläutert. Dieser theoretische Teil stellt gleichzeitig die Grundlage für ein lückenloses Verständnis der eigentlichen Analyse dar.

2. Methodik: Die Filmanalyse- und Fernsehanalyse nach Knut Hickethier

Für die Beantwortung der Forschungsfragen wird die narrative Filmanalyse von Knut Hickethier herangezogen. Die Filmanalyse ist als Methodik insofern geeignet, als dass es durch sie möglich ist, Erkenntnisse zu ästhetischen und narrativen Strukturen eines Films zu versprachlichen, also als Vermittlungs- und Verständigungsform wie auch als wichtiger Teil der Kommunikation über Film zu fungieren. Dabei betont Hickethier aber, dass Versprachlichung ebenfalls Reduktion bedeutet. Die Filmanalyse rekonstruiert den Film also nicht durch die sprachliche Umschreibung und Interpretation, sondern macht nur eine annäherungsweise Darstellung möglich. Diese Darstellung lässt zugleich aber Raum für analytische Zugänge und ein breiteres Sinnverstehen.[3]

„Filmanalyse ist deshalb immer nur ein >sekundärer< Text gegenüber dem >Primärtext< des Films […].“[4] Zu unterscheiden ist allgemein zwischen der empirisch-sozialwissenschaftlichen und der hermeneutischen Vorgehensweise. Während innerhalb der empirischen Analyse primär eine strikt lineare Abfolge der Inhaltsanalyse angewendet wird, um Strukturen in den Äußerungen und Inhalte statistisch sichtbar zu machen, soll die hermeneutische Vorgehensweise vor allem die Gestaltungsstrukturen hinter der inhaltlichen Geschichte sichtbar machen und Bedeutungsebenen sowie Sinnpotentiale hervorheben.[5]

„Hermeneutisch orientierte Film- und Fernsehanalyse geht von der Mehrdeutigkeit filmischer und televisueller Werke aus und versucht, diese Mehrdeutigkeiten erkennbar zu machen.“[6]

Aus diesem Grund wird in dieser Arbeit primär die hermeneutische Vorgehensweise zur Hilfe gezogen. Dabei soll lediglich die narrative Ebene des Films untersucht werden. Auf Grundlage der gewählten Vorgehensweise erfolgt die Analyse mit Hilfe eines Sequenzprotokolls.

Dieses macht die Filmanalyse gleichzeitig transparent und nachvollziehbar. Die Sequenz wird in diesem Kontext – in Anlehnung an Hickethier – ebenfalls als Handlungseinheit begriffen, die mehrere Szenen beinhaltet. Der Wechsel einer Sequenz zur nächsten wird dabei durch eine Veränderung des Orts, der Figurenkonstellation oder der erzählten – beziehungsweise der Erzählzeit markiert.[7] Auf ein detailliertes Einstellungsprotokoll wurde an dieser Stelle verzichtet, da nicht die Betrachtung einzelner Einstellungen und ihrer Ästhetik, sondern vielmehr ganze Handlungsabläufe und Ereignisse im Film zur Bearbeitung der Forschungsfragen von Bedeutung sind.

3. Theoretische Grundlagen

In diesem Kapitel werden verschiedene, für diese Arbeit relevante, (Fach-) Begriffe der Filmwissenschaft definiert und näher erläutert. Dadurch soll primär ein lückenloses Verständnis für den Analyseteil dieser Arbeit gewährleistet werden.

3.1 Definition Dramaturgie

Der Begriff der Dramaturgie lässt sich auf drei Ebenen definieren. Die erste Ebene ist die der Film- und Fernsehproduktion, wobei Dramaturgie dort als Tätigkeit aufgefasst und von verschiedenen Personen, wie dem Dramaturg, dem Redakteur oder dem Producer, ausgeführt wird. Darüber hinaus kann der Begriff Dramaturgie ebenfalls auf Produktebene, also auf Ebene des Films definiert werden. Auf dieser Basis wird Dramaturgie als Handlungsstruktur eines Films aufgefasst. Des Weiteren lässt sich der Begriff ebenfalls auf der Ebene der Rezeption und Reflektion beschreiben. Im Gegensatz zur ersten und zweiten Ebene wird Dramaturgie hier als eine Theorie verstanden.[8] Die Rezipienten, welche sowohl Fachleute als auch Laien sein können, setzten sich auf dieser Ebene theoretisch mit der Dramaturgie auseinander, analysieren also die Struktur oder die Strukturregeln des Werks.[9] Der Begriff beschreibt also den Aufbau des filmischen Werks und setzt Dramaturgie im weitesten Sinne mit Struktur gleich.[10] Im Kontext dieser Arbeit findet primär die zweite Definition Anwendung, wobei die Dramaturgie in diesem Kontext nicht nur Handlungsstruktur ist, sondern gleichzeitig auch analysiert werden soll und damit entfernt auch der dritten Begriffsebene entspricht. Somit kann zunächst festgehalten werden, dass der Begriff Dramaturgie im Sinne dieser Arbeit die Struktur einer Narration – in diesem Fall einer Filmnarration – beschreibt.

3.2 Definition Narration

Der Begriff der Narration kann in diesem Zusammenhang mit folgendem Zitat passend umschrieben werden:

„Narration findet als kommunikativer Akt statt: denn auch hier gilt die Umkehrung, dass in diesem Prozess der, dem erzählt wird, aus dem Geschehen und Gehörten selbst Bedeutungen erzeugt, Verbindungen herstellt und Geschichten erkennt.“[11]

Bordwell differenziert den Begriff der Narration auf Grundlage der aristotelischen Differenzierung zwischen Zeigen und Erzählen. Er unterscheidet demnach ebenfalls zwischen der mimetischen und diegetischen Narration. Die Mimesis wird als Imitation oder Nachahmung verstanden: Durch das Zeigen eines Geschehens innerhalb einer dramatischen Struktur kann sich der Autor durch seine Figur äußern. Die diegetische Narration beschreibt das Erzählen einer Handlung durch einen Erzähler, der hier nun selbst und nicht durch seine Figuren spricht. Das besondere an der filmischen Narration ist nun, dass sie sowohl mimetisches als auch diegetisches Erzählen verbindet. Demnach erzählt Film sowohl durch das Zeigen von Geschehnissen als auch durch das Erzählen von Sachverhalten, die nicht direkt gezeigt werden.[12] Zusammengefasst lässt sich Narration in dieser Arbeit also als Darstellung der Ereignisse in einem Werk - in diesem Fall einem Film - definieren.

3.3 Traditionelle Dramaturgie versus offene Dramaturgieformen

Es gibt verschiedene Formen der Dramaturgiegestaltung: Dazu gehören übergeordnet das traditionelle Dramaturgie-Modell und die offene Formen.

Die Wurzeln des traditionellen Modells reichen bis in die Antike hin zu Aristoteles zurück. Eine Erzählung beginnt demnach an einer Ausgangssituation, passiert Komplikationen, Wandlungen und Veränderungen und bewegt sich schließlich auf einen Abschluss der Narration hin.[13] Während das traditionelle Modell somit vor allem auf geschlossene Formen von dramatischen Texten und Filmen sowie einem in sich geschlossenen Aufbau von Handlung und Figurenkonstellation setzt, bezeichnet der Begriff der offenen Form, der vor allem in dem so genannten postklassischen Hollywood Anwendung findet, eine Vielzahl verschiedener dramatischer Strukturmöglichkeiten – sowohl auf die Handlung als auch auf die Figurenkonstellation und auf die gesamte dramatische Struktur eines Werks bezogen.[14] Ein offenes Ende im Film bedeutet in der Umgangssprache, dass es kein traditionelles Ende gibt, die Geschichte also nicht in einer Auflösung aufhört.[15] Zwar ist die dramatische Struktur der offenen Formen ebenfalls durchdacht und gezielt zusammengesetzt, doch ist es notwendig, sie auch narrativ gut zu managen um nicht entgegen jeder dramaturgischen Logik zu arbeiten[16] und die Handlung unverständlich zu gestalten. Die offenen Erzählformen können beispielsweise a-chronologisch aufgebaut sein oder eine progressive Struktur aufweisen, während sich die traditionelle Form gern Ähnlichkeiten und Wiederholungen von Anfangs- und Endbildern, einem Zurückführen eines Geschehens zum Ausgangspunkt und insgesamt symmetrischen Strukturen bedient. Auf den Zuschauer bezogen zielt die traditionelle Form vor allem auf eine emotionale Wirkung ab, während die offene Form mehr auf eine kognitive Wirkung beim Rezipienten setzt.[17]

Die grundlegenden Schemata einer dramatischen Struktur sind im Drehbuch des Films festgelegt, wobei sich seit dem Beginn der Filmgeschichte bis heute verschiedene Möglichkeiten für einen dramaturgischen Aufbau herausgebildet haben. Eines der Basismodelle ist die Drei-Akt-Struktur von Syd Field. Nach ihm haben Drehbücher einer geradlinige Struktur, die sich in drei Akte unterteilen lässt: Exposition, Mitte beziehungsweise Konfrontation und das Ende als dritter Akt, in dem sich die Story auflöst und dem Zuschauer klar wird, wie die Geschichte endet. Zusätzlich gibt es innerhalb der Geschichte einzelne Plot Points, also einen Punkt, an dem die Handlung eine Änderung erfährt.[18] Daneben werden noch weitere Ansätze für den dramaturgischen Aufbau postuliert, die beispielsweise mehr als drei Akte in Betracht ziehen. Neben diesen klassischen Ansätzen zum Aufbau einer Handlungsstruktur haben sich ebenso Strömungen herausgebildet, die einen eher gegenteiligen Aufbau postulieren und nicht mehr einer geschlossenen Narration angehören. Maltby fasst dies zusammen:

„Closure is not, hoewever, necessarily absolute. The sense that characters have lives beyond the closing credits, that the story continues even though the plot is over, is an important element in the economic patterns of movie consumption preferred by Hollywood cinema, as it renews the audience’s enthuisuasm to re-experience the process of narration.”[19]

Im Folgenden wird diesbezüglich primär auf die Erzählstrategie des unzuverlässigen Erzählens eingegangen, die ebenfalls im Film Shutter Island Anwendung findet.

3.5 Erzählstrategien im Film: Die unzuverlässige Erzählung

Die unzuverlässige Erzählung zeichnet sich zunächst dadurch aus, dass die Wahrnehmung der Hauptfigur – sei es bewusst oder unbewusst – nicht richtig und damit auch nicht zuverlässig ist. Die Zuschauer müssen sich den wahren Sachverhalt zunächst selbst erschließen. Das Prinzip der unzuverlässigen Erzählung stammt dabei aus der Literaturwissenschaft. Bereits der amerikanische Literaturwissenschaftler Wayne Booth erkannte das Grundschema dieser Erzählstrategie und legte seinen Fokus bezüglich der Unzuverlässigkeit aufgrund zunächst mangelender Terminologie zunächst nur auf den Erzähler.[20] Für ihn ist der Erzähler dann unzuverlässig, wenn er nicht mit den Normen des Werkes beziehungswiese Autors übereintritt und nicht in Übereinstimmung mit ihnen handelt. Demgegenüber handelt es sich um einen zuverlässigen Erzähler, wenn diese für die Normen des Werks einsteht.[21] Die Bezeichnung des unzuverlässigen Erzählers oder auch unreliable narrators, wurde von Nünning weiter gefasst.

Er bezieht sich nicht nur auf den Erzähler, sondern auf die gesamte Narration und spricht demnach von einer unzuverlässigen Erzählung, also einer unreliable narration. Dies öffnet den Raum auch für Beispiele, in denen sich keine explizite Erzählerfigur erkennen lässt, was in vielen Filmen häufig der Fall ist. Vollständigkeitshalber ist zu erwähnen, dass eine unzuverlässige Erzählung das Auftreten eines unreliable narrators nicht ausschließt. Die unreliable narration ist vielmehr eine Definitionserweiterung des unzuverlässigen Erzählers.[22]

Damit der Zuschauer eine unzuverlässige Erzählung erkennen kann, ist eine entsprechende Lesestrategie notwendig. Dazu müssen textuelle Unstimmigkeiten und Widersprüche erkannt und aufgelöst werden:

„Wenn ein Erzähltext textuelle Wiedersprüche aufweist oder wenn Diskrepanzen zwischen der Textwelt und dessen kontextuellen Bezugsrahmen vorhanden sind, können Rezipienten diese auflösen, indem sie den Text dadurch >naturalisieren<, dass sie Unstimmigkeiten auf die Erzählinstanz und deren mangelnde Glaubwürdigkeit zurückführen bzw. projizieren.“[23]

Dieses Vorgehen kann vergleichbar auf die Filmrezeption übertragen werden, obgleich der Film mit anderen erzählerischen Mitteln arbeitet. Der Zuschauer ist in der Lage, die Widersprüche zu erkennen, indem er die Aussagen und das Handeln der Filmfigur mit seinem Wirklichkeitsmodell vergleicht und – beispielsweise unter Einbezug seines lebensweltlichen Allgemeinwissens – entscheidet, ob diese vereinbar sind. Der Rückbezug auf dieses Allgemeinwissen ist jedoch nicht immer die hilfreichste Methode. Sie kann nur dann zur Anwendung kommen, wenn das lebensweltliche Allgemeinwissen des Zuschauers mit dem im Film geltenden Wirklichkeitsmodell übereinstimmt. Der Zuschauer muss sich also ebenfalls am Werte- und Normensystem der Filmgeschichte orientieren, will er eine unzuverlässige Erzählung klar identifizieren. Dies verdeutlicht Krützen passend am Beispiel von Harry Potter. In dieser filmischen Welt sind Fabelwesen, Werwölfe und Zauberer durchaus real und nicht Teil einer unzuverlässigen Erzählung. Obgleich der Zuschauer diese Welt in seinem Wirklichkeitsmodell nicht kennt, scheint sie ihm möglich zu sein, da er sich am Werte- und Normensystem der Filmwelt orientiert.[24]

„Maßstab der Beurteilung ist als nicht die actual world des Rezipienten, sondern die im Text entworfene Welt, die textual actual world.“[25] Diese Unterscheidung ist wichtig, möchte man eine unzuverlässige Erzählung identifizieren.

Insgesamt lassen sich drei große Spielarten des unzuverlässigen Erzählens ausmachen. Die erste Spielart umfasst Filme, in denen schnell vermittelt wird, dass die weltliche Wahrnehmung der Filmfigur unzutreffend ist. Der Zuschauer kann dies schnell erkennen, sodass am Ende des Films keine überraschenden Enthüllungen gezeigt werden. Die zweite Spielart zeichnet sich dadurch aus, dass die Aufdeckung der Unzuverlässigkeit im Vergleich zur ersten Spielart bis zum Filmende hinausgezögert wird und es zu einer überraschenden Enthüllung kommt. Der Zuschauer erkennt erst am Ende des Films, dass die Figur ihre Welt unzutreffend wahrnimmt.[26] Innerhalb dieser Arbeit ist allerdings die dritte besonders bedeutend: Der last act twist, der eine weitere Möglichkeit für ein überraschendes Filmende darstellt.

3.5.1 Der last act twist

Der last act twist stellt insofern eine Besonderheit dar, als dass er den Zuschauer auch am Ende des Films im Unklaren lässt und ihm im Vergleich zu den anderen beiden Spielarten der unzuverlässigen Erzählung eine Aufklärung vorenthält. Leschke fasst dies zusammen:

„Das Erzählen hat offenbar seine Entschlossenheit verloren. Es wird mehrfach erzählt, es kann so sein oder auch anders und von diesem Auch-anders-sein-können wird das Publikum auch durch keine finale Lösung mehr befreit.“[27]

Am Ende des Films kann der Zuschauer also nicht eindeutig klären, ob es sich um eine unzuverlässige Erzählung handelt oder ob diese doch zuverlässig ist. Die Bezeichnung des twist bezieht sich dabei primär auf die Hauptfigur des Films, die in den meisten Fällen eine Wandlung erfährt. Es finden Offenbarungen, so genannte identity-surprises statt, die eine neue Bewertung für das bis dahin Gesehene erforderlich machen. Aufgrund der identity-surprises, also der Wandlung der Hauptfigur, erhalten vorangegangene Szenen eine neue Bedeutung. Der Zuschauer muss den Film also rückwirkend noch einmal im Inneren betrachten. Doch nicht nur für den Zuschauer, sondern auch für die Produktionen, die einen last act twist in der Erzählung planen, ergibt sich eine große Herausforderung. Während der Rezipient Szenen rückwirkend neuen Bedeutungen zuschreiben muss und damit einem komplexen Prozess der Neubewertung gegenübersteht, müssen Filmemacher Szenen in ihren Film einbinden, die genug Platz für die Interpretationsspielräume des Zuschauers lassen. Zur Verdeutlichung soll ein Beispiel dienen, welches bereits Krützen in ihren Aufzeichnungen anführt: In Fight Club leidet der Protagonist nicht an Schlaflosigkeit, wie er anfänglich beim Arzt berichtet. Der Schlafmangel ist vielmehr seiner Schizophrenie und seinem damit einhergehendem Nachtleben geschuldet, von dem er bewusst aber gar nichts weiß. Erst am Ende des Films kann auch der Zuschauer die vermeintliche Doppelidentität des Protagonisten erkennen und derartige Szenen rückwirkend entschlüsseln. Dass die Auflösung jedoch bis zum Schluss nicht offengelegt wird, ist dem Interpretationsspielraum der Szenen zu verdanken, die ein „sowohl als auch“ in der Handlung zulassen. Diese Neudeutungen, die durch das rrimary and secondary reading bedingt sind, werden auch als rückwirkende Überraschungsgeschichten bezeichnet.[28] Zu betonen ist an dieser Stelle jedoch, dass in Fight Club die zweite Spielart Anwendung findet, da es eine hinausgezögerte Auflösung am Ende des Films gibt, der Zuschauer also nicht im Unklaren gelassen wird.

[...]


[1] Vgl. Box Office zu Shutter Island. Auf IMdB.com. Online: http://www.imdb.com/title/tt1130884/?ref_=sr_1 [18.07.2013].

[2] Vgl. Sixth Sense. Auf iMdB.com. Online: http://www.imdb.com/title/tt0167404/?ref_=sr_1 [18.07.2013].

[3] Vgl. Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse. Weimar 2007. S. 26–27.

[4] Ebd. S. 26.

[5] Vgl. Ebd. S. 29–30.

[6] Ebd. S. 30.

[7] Vgl. Ebd. S. 35.

[8] Vgl. Ebd. S. 115.

[9] Vgl. Eder, Jens: Dramaturgie des populären Films. Hamburg 1999. S. 9.

[10] Vgl. Ebd. S. 9.

[11] Hickethier 2007. S. 105.

[12] Vgl. Ebd.: S. 10.

[13] Vgl. Elsaesser, Thomas: Hollywood heute. Geschichte, Gender und Nation im postklassischen Kino. Berlin 2009.S. 53.

[14] Vgl. Hickethier 2007. S. 116–117.

[15] Vgl. Christen, Thomas: Das Ende im Spielfilm. Vom postklassischen Hollywood zu Antonionis offenen Formen. Marburg 2002. S. 43.

[16] Vgl. Leschke, Rainer/ Venus, Jochen (Hrsg.): Spielformen im Spielfilm. Zur Medienmorphologie des Kinos nach der Postmoderne. Bielefeld 2007. S. 199.

[17] Vgl. Hickethier 2007. S. 116–117.

[18] Vgl. Bienk, Alice: Filmsprache. Einführung in die interaktive Filmanalyse. Marburg 2008. S. 103.

[19] Maltby, Richard: Hollywood cinema. Oxford 2011. S. 489.

[20] Vgl. Krützen, Michaela: Dramaturgie des Films. Das etwas andere Hollywood. Frankfurt/Main 2010. S. 38.

[21] Vgl. Booth, zitiert in: Krützen 2010. S. 38.

[22] Vgl. Krützen 2010. S. 39.

[23] Nünning, zit. in: Krützen 2010. S. 41.

[24] Vgl. Krützen 2010. S. 42–44.

[25] Ebd. S. 44.

[26] Vgl. Ebd. S. 46.

[27] Leschke/ Venus 2007. S. 197.

[28] Vgl. Krützen 2010. S. 47–49.

Ende der Leseprobe aus 37 Seiten

Details

Titel
"Shutter Island": Zwischen Ermittlungsarbeit und Schizophrenie.
Untertitel
Der last act twist und die Frage nach der wahren Identität.
Hochschule
Universität Leipzig  (Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft)
Veranstaltung
Theorie und Praxis der Dramaturgie
Note
1,3
Autor
Jahr
2013
Seiten
37
Katalognummer
V262699
ISBN (eBook)
9783656516156
ISBN (Buch)
9783656516347
Dateigröße
695 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
shutter, island, zwischen, ermittlungsarbeit, schizophrenie, frage, identität
Arbeit zitieren
Sarah Asic (Autor:in), 2013, "Shutter Island": Zwischen Ermittlungsarbeit und Schizophrenie., München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/262699

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