Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Kurze Textarbeit mit „Lieutenant Gustl“
3. Thematische Vorbilder für Gustls
3.1 Biografisches zu Arthur Schnitzler
3.2 Zur Rezeptionsgeschichte von Schnitzlers Werk
3.3 Formale Vorlagen
4. Die Faszination des Duells
4.1 Ehre, wem Ehre gebührt?
4.2 Geschichtliche Einbettung des Duellwesens
4.3 Individuum und Gesellschaft
5. Fazit
1. Einleitung
Die Forschungsliteratur zu Arthur Schnitzler, Arzt und Literat um 1900, hat sich viel mit den Erfahrungen beschäftigt, die er in seinen autobiografischen Schriften aufarbeitet, und sich eingehend mit der Beeinflussung des Autors durch den Zeitgeist zur Jahrhundertwende in der großen österreich- ungarischen Metropole Wien auseinandergesetzt. Mehrfach kam es zu detaillierten Auflistungen der äußeren und inneren Beweggründe, die den Autor zum jeweiligen Werk bewogen haben mögen. Zu beachten ist, dass durchaus äußerst zeitkritische, politische und sozialpsychologische, aber auch klinisch-medizinische Töne in seinen Texten anklingen. Stets sind die Werke des studierten Arztes Abbild des eigenen Forschungsinteresses, doch lassen sie niemals eine persönliche Einfärbung vermissen, die ihn in der Öffentlichkeit schnell berühmt, teilweise auch berüchtigt werden lässt. So ist die Rezeption von den erst unter einem Pseudonym („Anatol“) veröffentlichten Schriften durchgängig an Emotionen geknüpft, die Leserschaft empört sich über die verhältnismäßig freizügigen Stücke, ganze Gesellschaftsschichten fühlen sich von Schnitzler beleidigt, getroffen, bloßgestellt oder gar verhöhnt. In wenigen Sätzen zusammengefasst heißt das:
In sechs Tagen, vom 14. bis zum 19. Juli 1900, schreibt Schnitzler im Kurhaus von Reichenau seine wohl berühmteste Erzählung: Leutnant Gustl. In dieser dem Umfang nach geringen, inhaltlich aber das Wesen einer ganzen Epoche zusammenfassenden Novelle, entwickelt er das Stilmittel des inneren Monologs, den er in die deutschsprachige Literatur einbringt. Ganz schlüpft der Erzähler in den Kopf des Helden hinein, der, für das Österreich der Jahrhundertwende bezeichnend, ein k. k. Leutnant ist, Angehöriger jenes ebenso verpäppelten wie in imperialistischen Denkschablonen und überholten Konventionen erstarrten Standes, der allein den Vielvölkerstaat in seinen divergierenden Kräften noch zusammenhält. Der von wechselnden Assoziationen getragene Monolog des Leutnants, in dem Aggressivität und Sexualtrieb einander bedingen, erinnert an die Technik psychoanalytischer Gesprächsführung, wobei sich der Dialog im Helden selbst, eben als ein innerer Monolog, vollzieht. Er ist von einer sprachlichen Dichte, die wie ein Sog auf den Leser wirkt, welcher in die innere Welt des Offiziers ebenso versetzt wird wie in deren äußere Lebensumstände innerhalb einer dominanten gesellschaftlichen Wirklichkeit.[1]
Ziel dieser Arbeit ist es, anhand des Beispiels von „Lieutenant Gustl“ Hintergründe des Duellwesens zu beschreiben. Zunächst soll mit Begrifflichkeiten, sowie konkreten Interpretationsansätzen versucht werden die Basis für im Folgenden geäußerte Vermutungen zu schaffen. Aufgezeigt werden sollen danach Schnitzlers Vorbilder literarischer und thematischer Art, d.h. neben den rein formalen auch die stofflichen Vorlagen für sein Interesse an der Krise Gustls geschlossen werden, wobei zum einen die geschichtlichen, sozialen und gesellschaftlichen Umstände seiner Zeit, zum anderen die persönlichen Charakterzüge, die der Verfasser ihm verlieh, betrachtet werden sollen. Eine kurze Zusammenfassung zu Schnitzers Wirken schließt die Arbeit ab.
2. Kurze Textarbeit mit Lieutenant Gustl
Es geht in Schnitzlers Novelle „Lieutenant Gustl“ um einen jungen Offizier der österreisch-ungarischen Armee. Diesem widerfährt ein eigentlich unbedeutender Fauxpas, der zum Einen sein weiteres Leben anzweifelt und zum anderen auch seine bisherige Vita im Zeitraffer vor ich vorbei laufen lässt. Gustls unangebrachtes Verhalten nach dem Besuch eines Oratoriums an dessen Garderobe dem Bäckermeister Habetswallner gegenüber führt zu einer Beleidigung. Als ‚dummer Bub’ beschimpft und am Säbelknauf festgehalten, kann sich der Protagonist weder durch physische noch verbale Kontre wehre, den Zivilisten allerdings auch nicht zum bereinigenden Zweikampf fordern. Die ohne Zeugen bleibende kurze Sequenz lässt laut gängigen Regeln eine Wiederherstellung der Ehre nur zu, indem der Militärdienst quittiert oder Suizid begangen wird. Die Selbsttötung vorziehend wandelt Gustl durch das nächtliche Wien und bringt erst durch einen Zufall am nächsten Morgen in Erfahrung, dass Habetswallner umgekommen ist. Froh die Gefahr der nachträglichen Verleumdung durch den Bäcker entgangen zu sein, nimmt der Lieutenant die Gangart seines bisherigen Lebens wieder auf, ohne längerfristige, grundlegende Veränderungen daran vorzunehmen.
Da es sich im betreffenden Zeitraum um die Zeit um 1900 handelt und auch die Geografie das Ihrige tut, sind auf der rein sprachlichen Ebene vorab einige Dinge zu klären. Kontinuierlich wird in der Novelle Wiener Dialekt in einem informellen, vom Soziolekt der unteren Schichten beeinflussten Stil verwendet, was den Charakter Gustls nachhaltig formt. Wichtig für die Betrachtungen inhaltlicher Art bezüglich des Duellwesens und der Ständeproblematik sind vor allem die Floskeln und feststehenden Begriffe, die der Protagonist verwendet.
Die häufige Nutzung der[] Sprachklischees beschränkt sich nicht auf militärische Floskeln, sondern umfaßt [sic!], die dominierende Umgangssprache ergänzend, ebenso allgemeinübliche Phrasen. Sie stehen symbolhaft für die Tendenz des Leutnants, sich stets nach den vorgegebenen gesellschaftlichen Konventionen zu verhalten und seine panische Angst, auch bei unbedeutenden Kleinigkeiten nicht den vorgeschriebenen Handlungsmustern zu entsprechen.[2]
In diesem Sinne funktioniert nicht nur die Analyse der Qualität, sondern auch die der Quantität der vorgefertigten Satzkonstrukte in seinem Kopf, die sich dem Leser offenbaren:
Die Tendenz des Leutnants, mit einem geringen Wortschatz, kurzem und einfachem Satzbau sowie allgemeinüblichen Redewendungen und Floskeln bei der Formulierung seiner Gedanken auszukommen, steht symbolisch für sein Bestreben, gesellschaftlichen Normen zu entsprechen, Umwege oder gar Schwierigkeiten zu vermeiden und eigenes Denken mit Hilfe vorgefertigter Phrasen zu umgehen.[3]
Exemplarisch steht das Wort ‚Satisfaktion’ für einen um 1900 gebräuchlichen Terminus. Satisfaktionsfähig meint explizit folgenden Sachverhalt: „In der Lage, bei einer Beleidigung ‚Satisfaktion’ (=Genugtuung) mit der Waffe zu geben, waren lediglich Adelige, Akademiker und Militärs. Da er den Bäckermeister nicht fordern kann, glaubt Gustls, selbst seine Offiziersehre verloren zu haben.“[4] Im Gegensatz zu Gustls ist der Bäcker satisfaktionsunfähig; er kann und darf nicht gefordert werden zum Duell aufgrund seiner Standeszugehörigkeit. Hier entsteht des Leutnants Konflikt: Die Beleidigung des anderen ignorieren ist unmöglich, die eigene Ehre im Duell wieder herzustellen auch. Besonders auffällig ist Schnitzlers Verweis auf die Tatsache, dass die Ehrverletzung ohne Zeugen geblieben ist und somit die Qualen Gustls rein formal gesehen nur auf der Vermutung basieren, der Bäcker könnte Dritten von dem Vorfall mündlich berichten. Da dem Offizier dies nicht klar ist, da ihm die Möglichkeit der Selbstreflexion nur bedingt gegeben ist, sieht er keinen Ausweg aus der Misere als den Dienst zu quittieren oder sich umzubringen und entscheidet sich für letzteres. Spontan den verbalen Angriff mit einer Tätigkeit zu beantworten verwirft er ebenso, denn:
Ganz wehrlos sind wir gegen die Civilisten: Verschiedene Fälle von „Ehrennotwehr“ eines Offiziers hatten in den 1890er Jahren die Öffentlichkeit erregt, da der tödliche Angriff auf einen unbewaffneten Zivilisten unter dem Gesichtspunkt des Bürgerlichen Gesetzbuches immerhin als Totschlag zu werten war.[5]
Verantworten mussten sich die Betreffenden vor dafür zuständigen Gerichten: „Aufgabe der ‚Militär-Ehrengerichte’ der k. k. Armee war die ‚Wahrung der Ehre des Offiziersstandes’ und die Sanktionierung aller ‚die Standesehre verletzenden Handlungen’.“[6] Daher der hohe Stellenwert des im Werk nie explizit genannten Ehrenkodexes innerhalb Gustls Weltbild, aber ebenso innerhalb der Gesellschaft, der er angehörte und deren Klassendenken und Benimmregeln für das öffentliche Leben auch Schnitzler nicht fremd waren.
In den Fokus der inhaltlichen Betrachtungen gehört die entscheidende, den Konflikt Gustls auslösende Szene an der Garderobe des Theaters. Neben der in der Forschung gezogenen Parallele zwischen männlichem Glied und Waffe, steht jene in erster Linie für die Armeeangehörigkeit: „Über den Bereich sexueller Dingsymbole jedoch weit hinausreichend, steht der Säbel in der Erzählung zugleich aus äußeres Zeichen des Soldatenstandes und verkörpert auf einer indirekten Motivischen Ebene die Konventionenhörigkeit seines Trägers.“[7] Mit der Mitgliedschaft im Militär untrennbar verbunden ist die Unterwerfung unter dessen Werte und Normen, wozu in erster Linie, wie besagt, der Ehrenkodex zählt. Beim Griff an den Säbel ist der junge Leutnant im Grunde schon gekränkt, die verbale Beleidigung kommt noch erschwerend hinzu. Es scheint als wisse der Bäcker um seinen Vorteil in jenem Moment, da er von Standeswegen her nicht satisfaktionsfähig ist und durch das Festhalten der Waffe dem Leutnant jegliche Verteidigungsmöglichkeit nimmt, zumal er jenem körperlich um einiges überlegen ist.
Mit d[em] Akt verletzt der Bäcker zum einen die Soldatenehre seines Gegenübers, da ein Militärangehöriger sich niemals, erst recht nicht seitens eines Zivilisten, von der Verteidigung seiner eigenen Person und der damit einhergehenden Nutzung seines Gewaltmonopols abhalten lassen durfte. Zum anderen symbolisiert das Festhalten des Säbelgriffs auf der unbewußten [sic!] Ebene einen Kastrationsvorgang.[8]
Der Schockzustand und die unerwartete Situation, in der Gustls sich befindet, lassen ihn im entscheidenden Moment zögern; er lässt die psychische Pein über sich ergehen und leidet im Weiteren enorm unter der auf sich geladenen Schmach. Er wird zum Opfer seiner eigenen Gesetze, was wiederum die Lächerlichkeit der Situation aufzeigt. Eben jene Möglichkeiten, die Gustl durch die Armee offen standen, ihn sozial haben aufsteigen lassen und seinem Denken Richtlinien eingetrichtert haben, die ihn in seinem Befinden etwas Besonderes zu sein stärken und schützen, werden ihm zum Verhängnis. Das bloße Kopieren der Verhaltensweise des Offizierskorps und der daraus resultierende Konflikt von triebhaftem Lebenswillen mit Scharmgefühl und Todeswunsch zeigen die Absurdität und die Menschenfeindlichkeit der erlernten Konventionen.
3. Thematische Vorbilder für Gustls
Schnitzler will die dunklen Innenräume der menschlichen Seele ausleuchten, das >Werden und Vergehen< der Gedanken und Gefühle, die sich >ineinander, durcheinander, gegeneinander< (Hermann Bahr 1890) bewegen, sprachlich erfassen, den feinsten Regungen und Strebungen der Psyche, deren Wahrnehmungen im genormten Miteinander und in den Sprachreglungen des öffentlichen und privaten Lebens stumpf geworden oder gar abhanden gekommen ist, nachspüren und ihnen literarische Gestalt verleihen.[9]
[...]
[1] Franz Baumer. Arthur Schnitzler: Köpfe des 20. Jahrhunderts. Band 118. Berlin: Colloquium Verlag, 1992. S.71.
[2] Ulrike Kunz. „Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit.“: Ästhetischer Realismus in der europäischen Décadenzliteratur um 1900. Hamburg: Verlag Dr. Kovač, 1997. S.394.
[3] Ulrike Kunz. „Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit.“: Ästhetischer Realismus in der europäischen Décadenzliteratur um 1900. Hamburg: Verlag Dr. Kovač, 1997. S.394.
[4] Arthur Schnitzler. Lieutenant Gustl: historisch-kritische Ausgabe. (Hrsg.:) Konstanze Fliedl. Berlin/ New York: Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 2011. S.558
[5] Ebd.
[6] Ebd.
[7] Ulrike Kunz. „Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit.“: Ästhetischer Realismus in der europäischen Décadenzliteratur um 1900. S.409.
[8] Ebd. S.411.
[9] Arthur Schnitzler. Traumnovelle: Informationen für Lehrerinnen und Lehrer. (Hrsg.:) Peter Bekes/ Volker Frederking. Braunschweig: Bildhaus Schulbuchverlage, Schöningh Winklers GmbH, 2008. S.23.