Demenz und Ethik. Die Demenzpflegetheorien von Naomi Feil und Erwin Böhm aus pflegewissenschaftlicher-philosophischer Sicht


Masterarbeit, 2013

83 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 Ausgangslage

2 Grundlagen der Konzeptevaluation
2.1 Entwicklung und Begründung eines Untersuchungsinstrumentes für die Evaluation von Konzepten in der Begleitung von Menschen mit Demenz

3 Konzeptauswahl und Begründung

4 Validation nach Feil
4.1 Ursprung und theoretischer Hintergrund
4.2.1 Zusammenfassung der zentralen Aussagen
4.3 Menschenbild und das Verständnis von Gesundheit und Krankheit
4.3.1 Quellenkritik
4.3.2 Inhaltliche Kritik
4.4 Philosophische Ausrichtung und ethische Positionen
4.5 Anforderungsprofil
4.6 Zusammenfassung

5 Das psychobiographische Pflegemodell nach Böhm
5.1 Ursprung und theoretischer Hintergrund
5.2 Zentrale Aussagen
5.2.1 Zusammenfassung der zentralen Aussagen
5.2.2 Kritik
5.3 Menschenbild und das Verständnis von Gesundheit und Krankheit
5.4 Philosophische Ausrichtung und ethische Positionen
5.5 Anforderungsprofil
5.6 Zusammenfassung

6 Diskussion und Vergleich
6.1 Theoretische Haltbarkeit
6.2 Praktische Brauchbarkeit

7 Zusammenfassung

8 Ausblick
8.1 Persönliche Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Zum Autor

1 Ausgangslage

In der Auseinandersetzung mit ethischen Fragen in Bezug auf die Begleitung von Menschen mit Demenz wird ersichtlich, dass unterschiedliche Betrachtungsweisen nicht nur möglich, sondern auch notwendig sind (vgl. Meyer; 2008). So einmalig jeder Mensch ist, so individuell muss die Beziehungsgestaltung gelebt werden. Die Begleitung von Menschen mit Demenz gleicht dabei, auch aus einer ethischen Perspektive, einer Gradwanderung, bei der die unterschiedlichsten Anforderungen, die an die Begleitenden gestellt werden, manchmal den Blick auf die Person, die begleitet wird, verstellen.

Menschen mit fortgeschrittener Demenz leben im Augenblick, ihr Dasein und ihr Erleben findet im „Jetzt“ statt (vgl. Wojnar, 2001/2), wenn dieses auch häufig Jahrzehnte zurückliegt. Das Erleben der Situation scheint in enger Verbindung zu stehen mit emotionalen Erinnerungen, die im Sinne eines Déjà – vu - Erlebnisses (ebd.) präsent und handlungsleitend werden. Gleichzeitig, so Wojnar (ebd.), entfernen sie sich aus unserer Kultur, gehen zurück in kulturgeschichtlich frühere Zeiten der menschlichen Entwicklung. Die Befriedigung des Bedürfnisses „zu Hause oder bei sich zu sein“ (Wojnar, 2006: 81) schafft „Vertrautheit“ (Bosch, 1998: 123) und bildet die Grundlage für Lebensqualität.

„Das Gefühl „zu Hause zu sein“ ist in diesem Sinne weniger auf bestimmte Räumlichkeiten bezogen, sondern kann eher als eine Form unbewusster existenzieller Kontrolle, die Art wie sich ein Demenzkranker fühlt, wenn alles was er sagt und tut, ernst genommen wird, als Gleichgewicht zwischen der Welt in Ihm und der Welt, in der er sich bewegt, interpretiert werden.“ (ebd.)

Standards und Richtlinien, als Orientierungshilfen für die Helfenden, verlieren ihre Gültigkeit, wenn situatives Handeln und Eingehen auf die augenblickliche Lebenswirklichkeit des Menschen mit Demenz gefordert ist. Die Grenzen zwischen Paternalismus, Fürsorge, Autonomie und Verantwortlichkeit werden diffuser. Je nach ethischem Blickwinkel kann das gleiche Verhalten in der gleichen Situation völlig unterschiedlich interpretiert werden, wie nachfolgendes Beispiel zeigt.

Die 94 – jährige Frau Lind, fortgeschritten demenziell erkrankt, Diabetikerin, sehr mobil, erkennt in dem damals 43 – jährigen, vollbärtigen und Pfeife rauchenden Heimleiter (Autor), ihren Großvater. Sie will auf seinen Schoß, sich an ihn kuscheln, in den Arm genommen werden und freut sich unendlich über ein heimlich zugestecktes Stück zartbitter Schokolade (die ihre Spuren vom Kopf bis zu den Strümpfen hinterlässt). Aus der alten Dame wird in diesem Moment die kleine Maria, die eine emotionale Erwartungshaltung an ihren „Opa“ hat und dieser verhält sich, zum anfängliche Entsetzen der Tochter („Sie behandeln meine Mutter wie ein kleines Kind“) und der MitarbeiterInnen („Wie sollen wir den Diabestes in den Griff bekommen?“), erwartungsadäquat.

Von dem „Großvater“ erwartet Maria als Kind behandelt zu werden. Mit dieser Rolle verbunden ist ein paternalistischer Umgangsstil, im Sinne einer „Erwachsenen – Kind – Kommunikation“. Die Rollenübernahme, begründet sich in einer fürsorglichen „Perspektivenverschränkung“ (Remmers, 2004: 29) und der emotionalen Einstimmung in die konkrete Situation (vgl. Benner u.a. 2000: 149ff) und ermöglicht dem Kind Maria das Erleben einer „Autonomie des Augenblicks“ (Schwert, 2007: 30). Verantwortliches Handeln in der Begleitung von Menschen mit Demenz beinhaltet das situationsspezifische Reagieren auf die augenblickliche emotionale Bedürfnislage.

Weder eine medizinisch – naturwissenschaftliches Menschenbild und das daraus abgeleitete Verständnis von Gesundheit und Krankheit, noch ein funktionelles traditionell - paternalistich geprägtes Pflegeverständnis lassen solche Betrachtungsweisen zu.

Ob und inwieweit vorherrschende Ansätze und Konzepte zur Begleitung von Menschen mit Demenz diesem Anspruch gerecht werden, soll im Folgenden betrachtet werden.

2 Grundlagen der Konzeptevaluation

In der Auseinandersetzung mit ethische Anforderungen für die Begleitung von Menschen mit Demenz kommt dem vorherrschenden Menschenbild, den damit verbundenen Vorstellungen über Gesundheit, Wohlbefinden und Krankheit sowie die sich daraus ergebende Wertehaltung (vgl. Großklaus – Seidel, 2002: 19) zentrale Bedeutung zu. Sie bestimmen das praktische Handeln und sind abhängig von vielfältigen Faktoren. Dazu gehören fachliches Wissen verbunden mit der Fähigkeit zur Reflektion, um Handeln verantwortlich argumentieren und gestalten zu können und die Bereitschaft einer partnerschaftlichen Beziehungsgestaltung. Sie tragen wesentlich dazu bei, ein Milieu zu schaffen, das die Lebensqualität von Menschen mit Demenz fördert.

Monika Krohwinkel (1993) beschreibt vier Schlüsselkonzepte einer „ganzheitlichen, gesundheitsfördernden Prozeßpflege“ in der sich diese Anforderungen wieder finden:

1. Person

„Das zentrale Interesse der Pflege ist die Person. Person meint hier in erster Linie den pflegebedürftigen Menschen, schließt aber die pflegende Person mit ein.“ (Krohwinkel, 1993: 19)

„Person“ ist definiert als „einheitliches integrales Ganzes, das mehr und anders ist als die Summe seiner Teile, mit einer eigenen Identität und Integrität“ (Rogers 1970, zit. von Krohwinkel, 1993, ebd.)

Diese Aussage orientiert sich an der humanistisch-psychologischen Sicht (vgl. ebd.) von Maslow (1980). Nach ihr hat jeder Mensch das Potential zur Entwicklung, zum Wachstum und zur Selbstverwirklichung.

2. Umgebung

„Umgebung wird ganzheitlich betrachtet und als wichtigste externe Komponente für Leben, Gesundheit und Wohlbefinden des Menschen angesehen. Mensch und Umgebung werden als offene, interagierende Systeme verstanden. Als Teil der Umgebung werden andere Menschen, aber auch andere Lebewesen betrachtet. Darüber hinaus gehören zum Konzept „Umgebung“ aber auch ökologische, physikalische, materielle und gesellschaftliche Faktoren, welche Leben, Gesundheit und Lebensqualität des Menschen beeinflussen“ (Krohwinkel, 1993: 19)

Neben der Interaktion Patient - Pflege bekommt das Beziehungsumfeld der Patient – Pflege -Beziehung zentralen Stellenwert zugewiesen. Von großer pflegerisch - therapeutischer Bedeutung ist die Gestaltung des Lebensumfeldes, das Schaffen einer gesundheitsfördernden Atmosphäre, die Gestaltung des Milieus.

3. Gesundheit

„Aus einem ganzheitlichen Verständnis heraus werden Gesundheit und Krankheit nicht als Zustand, sondern als dynamischer Prozess definiert. Diese Sichtweise ermöglicht es, sich nicht nur auf pathologische Abweichungen (Defizite) zu konzentrieren, sondern insbesondere auch die konstruktiven Attribute (Fähigkeiten) des Menschen (Person) herauszufinden.“ (Krohwinkel, 1993: 21)

4. Der pflegerische Handlungsprozess

Ausgangspunkt des pflegerischen Handlungsprozesses sind die Bedürfnisse/ Probleme und Fähigkeiten des pflegebedürftigen Menschen und ihre Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlbefinden. Diese Bedürfnisse und Fähigkeiten werden ganzheitlich gesehen. Dies bedeutet, sie können nicht fragmentiert werden in physisch – funktional, willentlich – emotional, kulturell oder sozial, sondern jedes Bedürfnis physiologischen, psychologischen, sozialen und ähnlichen Kategorien differenziert, sondern jedes Bedürfnis auch wenn es primär physisch – funktional, willentlich – emotional, kulturell oder sozial ist, in allen anderen Komponenten mit enthalten. (Krohwinkel, 1993: 21)

Diese vier Schlüsselkonzepte bieten sich, nicht zuletzt, weil die Mehrzahl der deutschen ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen (s. Anlage 1) sich auf den theoretischen Ansatz von Krohwinkel beruft, als ein Orientierungsinstrument für die Auseinandersetzung mit Konzepten in der Begleitung von Menschen mit Demenz an.

Eine der ersten Auseinandersetzungen mit unterschiedlichen Pflegetheorien im deutschen Sprachraum findet sich bei Aggleton/Chalmers (1989). In ihrem siebenschrittigen Analyseansatz steht das, in den Modellen zugrunde liegende, Menschenbild an erster Stelle.

Fawcett schlägt, im ersten umfassenden Werk, dass im deutschen Sprachraum veröffentlicht wurde, für die „Analyse und Evaluation konzeptioneller Modelle“ (vgl. 1996: 57 ff) fünf Betrachtungsebenen vor:

Die Darlegung des Ursprungs

Darunter versteht sie die wissenschaftliche Orientierung und die zugrunde liegenden Überzeugungen und Wertvorstellungen der UrheberInnen.

Die inhaltliche Reichweite

Betrachtet wird die inhaltliche Tiefe, unter Berücksichtigung der wissenschaftlichen Haltbarkeit und der ethischen Ausrichtung, sowie die inhaltlich Breite, die den Verwendungszweck des Modells betrachtet.

Die logische Kongruenz

Sie dient der Überprüfung der logischen Übereinstimmung in der Gedankenführung der AutorInnen in Bezug auf die wissenschaftlichen Ausführungen,

Die Ableitung von Theorien

Hier stellt sie die Frage, inwieweit das Modell dazu geeignet ist, Theorien für das pflegerische Handeln daraus abzuleiten und dieses Handeln wissenschaftlich zu evaluieren.

Die Glaubwürdigkeit

Aus der Perspektive der Glaubwürdigkeit muss sich eine Theorie in konkreten pflegerischen Situationen und unter Beteiligung der Berufstätigen bewähren. Als Messgrößen nennt sie praktische Nützlichkeit, kulturelle Kongruenz und soziale Signifikanz (ebd.: 64).

2.1 Entwicklung und Begründung eines Untersuchungsinstrument für die Evaluation von Konzepten in der Begleitung von Menschen mit Demenz

Auch wenn der Fokus dieser Arbeit darauf gerichtet ist, die philosophischen Grundlagen in Konzepten zur Begleitung von Menschen mit Demenz herauszuarbeiten, kann dies nicht unter Ausschluss einer vertieften, inhaltliche Auseinandersetzung mit diesen erfolgen. Ohne diese wird das Verständnis für die Zusammenhänge erschwert und die weitere Zielsetzung dieser Arbeit ist auf eine breitere Diskussion der Konzepte angewiesen. Auch kann berücksichtigt werden, dass, neben den aufgeführten Evaluationsansätzen, bei anderen Autorinnen (vgl. u.a. Chinn/Kramer, 1996; Kirkevold, 1997; Meleis, 1999) der ethischen Ausrichtung ebenfalls ein hoher Stellenwert beigemessen wird.

Davon ausgehend, dass zumindest in den Kreisen der Lehrenden und Verantwortlichen in der Altenhilfe die Ansätze von Krohwinkel und Fawcett als bekannt vorausgesetzt werden dürfen, wird bei der evaluierenden Beschreibung der Konzepte auf diese zurückgegriffen. Dem ungeachtet bekommt die Betrachtung der ethischen Ausrichtung der Konzepte eine besondere Bedeutung.

Für die Auseinandersetzung mit den Konzepten zur die Begleitung von Menschen mit Demenz wird folgendes Vorgehen (s. a. Tabelle 1) gewählt:

- Im ersten Schritt werden die Ursprünge des Konzeptes, der theoretische Hintergrund und, soweit möglich, biographische Aspekte der VerfasserIn („Darlegung des Ursprungs“) dargestellt.
- Es folgt eine Zusammenfassung der zentralen Aussagen („inhaltliche Reichweite und logische Kongruenz“)
- Anschließend wird das, dem Konzept zugrunde liegende, Menschenbild („Person“) und das sich abbildende Verständnis von Gesundheit und Krankheit („Gesundheit“) diskutiert.
- Die philosophischen Ausrichtung des Konzeptes und die vertretenen ethischen Positionen werden im vierten Schritt betrachtet.
- Abweichend von dem, in der Literatur erwähnten, Evaluationsvorschlägen, wird im fünften Schritt untersucht, welche Kompetenzen bzw. welches Anforderungsprofil für die Umsetzung des Konzeptes notwendig sind. In Anlehnung an Krohwinkel (1993) lässt sich dieser Schritt unter den Begriffen „Umwelt“ und „pflegerischer Handlungsprozess“ subsumieren.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab. 1 Untersuchungsraster für Konzepte

Abschließend werden die unterschiedlichen Ansätze kritisch bewertet („Glaubwürdigkeit“) und vergleichend diskutiert.

3 Konzeptauswahl und Begründung

Auf die Vielfalt der inzwischen bestehenden Konzepte und Vorstellungen für die Begleitung von Menschen mit Demenz wurde bereits hingewiesen (vgl. Kap. 1), Eine Auseinandersetzung mit allen, alleine in Deutschland, diskutierten und bestehenden Ansätzen, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, so dass eine Begrenzung notwendig ist. Für diese bietet sich, als erstes Auswahlkriterium, die von Wetzstein vorgeschlagene Aufteilung in „medizinisch – naturwissenschaftlich orientierte“ und „personenorientierte“ Konzepte an.

Wesentliche Aspekte des cartesianischen Menschenbildes und dem damit verbundenen Verständnis von Gesundheit und Krankheit wurden bereits (s. Kap. 1) ansatzweise erwähnt. Eine vertiefende und umfassendere Auseinandersetzung mit Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit findet sich bei Franke (2006). Wetzstein (2005) setzt sich intensiv in Bezug auf die Diagnose Alzheimer aus ethischer Perspektive damit auseinander, so dass hier auf diese beiden verwiesen werden kann.

In den theoretischen Ansätzen zur Begleitung von Menschen mit Demenz werden in Deutschland weitgehend personenorientierte Ansätze favorisiert. Eine Ausnahme bildet hier Sven Lind (2003/2007), der diese konsequent ablehnt und eine ausschließliche Orientierung an der Neurologie als Leitwissenschaft fordert.

Bei der Auswahl der Konzepte wurden deren Verbreitung und ihre Bekanntheit in der Praxis zugrunde gelegt. Als Maß für die Verbreitung wurden die publizierten Auflagen der AutorInnen gewertet. Die Bekanntheit wurde ermittelt, indem (randomisiert) 21 Altenpflegeschulen von 335 im Internet (vgl. http://www.altenpflegeschueler.de/altenpflegeschulen/index. php) aufgeführten und fünf gerontopsychiatrische Weiterbildungsstätten telefonisch danach befragt wurden, welche Konzepte unterrichtet werden.

Weiterhin wurden insgesamt 187 PraktikerInnen aus der stationären und ambulanten Altenhilfe bei Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen befragt, welche Konzepte ihnen (namentlich) bekannt sind. Die beiden Konzepte mit der höchsten Verbreitung und Bekanntheit wurden für diese Arbeit ausgewählt und werden in dieser Reihenfolge dargestellt.

Am häufigsten genannt wurde die „Validation nach Feil“, in 19 Altenpflegeschulen und an vier Weiterbildungsinstituten wird Validation nach Feil unterrichtet. Alle befragten Pflegekräfte hatten davon gehört, nach eigenen Angaben, hatten 142 der Befragten auch eine konkrete Vorstellung von dem Konzept. 93 Teilnehmerinnen hatten, selber bereits an einer Fortbildung, in der Regel 2 – tägiges Grundlagenseminar, nach Feil teilgenommen. Nach Angaben des Verlages orientieren sich über 30 000 Einrichtungen weltweit an diesem Konzept und mehr als 100 000 Pflegende und Angehörige wurden darin geschult (vgl. 2005: 164).

An zweiter Stelle folgt das „Psychobiographische Pflegemodell nach Böhm“. In 15 Altenpflegeschulen und in den fünf Weiterbildungsstätten wird es unterrichtet und 136 befragte Pflegekräfte kannten es namentlich. 104 gaben an, damit ganz konkrete Vorstellungen zu verbinden.

Nachfolgend werden die beiden Konzepte nach den in Kapitel fünf vorgestellten Kriterien untersucht.

4 Validation nach Feil

Das Konzept der Validation nach Feil („Validation, The Feil Method“) wurde 1982 erstmalig veröffentlicht, Ihr Buch: „Validation. Ein neuer Weg zum Verständnis alter Menschen“, erschien 1990 in deutscher Sprache und liegt inzwischen (seit 2005) in der 8. Auflage, die sie zusammen mit ihrer Tochter Vicki de Klerk – Rubin, schrieb vor.

Der Begriff „Validation“ ist urheberrechtlich geschützt und die Ausbildung in der Validation über autorisierte Institute geregelt. Die Qualifikation der Anwender findet in vier aufeinander aufbauenden Stufen, Anwender, Gruppenleiter, Lehrer und Master/Experte statt.

In der Auseinandersetzung mit Feil´s Konzept werden die Versionen von 1993 und die von 2005 betrachtet.

4.1 Ursprung und theoretischer Hintergrund

Naomie Feil (vgl. Feil, 1993; socialnet, 2008; EVA, 2008), wurde 1932 in München geboren, musste als Jüdin, 1936 mit ihren Eltern nach Amerika fliehen. Sie wuchs im Montefiore – Altenheim in Cleveland, Ohio, in dem ihre Eltern in der Arbeit mit verwirrten alten Menschen tätig waren, auf. Ihr Studium der Sozialarbeit an der New York School of Social Work schloss sie 1956 mit einem Masters Degree ab.

Bis 1963 war sie als Abteilungsleitung für Gruppenarbeit im Bird S. Coler –Spital auf Welfare Island und im Hodson Community Center tätig. Danach kehrte sie in das Montefiore – Altenheim zurück und war dort als Gruppenleiterin und an der Case Western Reserve University, in Cleveland, Ohio, als Assistenzprofessorin tätig. Von 1963 – 1980 entwickelte sie, auch aus Unzufriedenheit mit dem vorherrschenden Realitätsorientierungstraining (ROT), die Methode der Validation, die sie 1982 veröffentlichte.

Naomie Feil war auch einige Jahre als Off - Broadway Schauspielerin tätig, nähere Angaben dazu werden aber nicht gemacht.

Feil gibt an ihr Konzept insbesondere auf die analytische und die humanistische Psychologie und Psychotherapie zu stützen. Für ihre theoretischen Annahmen (vgl. 1993: 12) beruft sich auf einzelne (zentrale?) Aussagen von Rogers, Freud, Maslow, Jung, Zuckermann, Penfield, Schettler/Boyd, Verwoerd und Wells sowie auf behavioristische Ansätze in der Verhaltenserklärung. Eine zentrale Stellung nimmt Eriksons (1966) „Theorie der Lebensstadien und Aufgaben“ ein, deren sechs Stadien und die dazugehörenden Aufgaben, bzw. die Folgen des Misslingens dieser, ausführlich (1993: 13ff) dargestellt werden. Sie erweitert diese Stadien um eine siebte*, die sie als „Hohes Alter“ (1993: 20) bezeichnet. Die dazu gehörende Aufgabe ist es, die Vergangenheit zu verarbeiten (vgl. ebd.).

* Anmerkung: während in der Literatur einheitlich von acht Entwicklungsphasen nach Erikson gesprochen wird und in der Ausgabe von 2005 (vgl.: 22f) auch Feil diese darstellt, geht sie in der Ausgabe von 1993 (vgl.: 13) von sechs Stadien aus und beschreibt ihre Erweiterung als siebtes.

„Sehr alte Menschen, die mit ihren tiefen, ungelösten Gefühlen aus früheren Stadien festsitzen, kehren oft in die Vergangenheit zurück, um diese Gefühle

zu lösen. Sie bereiten sich auf die letzte Reise vor. Sie mustern die schmutzige Wäsche aus, die sich im Lagerhaus der Vergangenheit angesammelt hat.“ (ebd.: 20f). Wenn dies nicht gelingt, oder entsprechende Hilfe zum Gelingen nicht (durch die Validation) geleistet wird, „ziehen sie sich in das Vegetieren zurück“ und werden zu „lebenden Toten in unseren Pflegeheimen“ (ebd.: 21).

Ein Leugnen der mit zunehmendem Alter zwangsläufig auftretenden körperlichen und sozialen Verluste führt zu Desorientierung (vgl. ebd. S.25), als Schutz vor den Anforderungen der Gegenwart (vgl. ebd.: 26ff).

In der aktuellen Ausgabe (vgl. 2005: 19ff) wird die Bedürfnispyramide von Maslow (1908 – 1970) zum besseren Verständnis von alten Menschen (vgl. ebd.: 19) herangezogen.

Vicki de Klerk – Rubin, Krankenschwester, Bachelor of Fine Arts und Master für Business Administration, ist Europa – Managerin des Validations- Trainings – Institutes (vgl. 2005: 164)

4.2 Zentrale Aussagen

Für Feil haben desorientierte sehr alte Menschen ein produktives Leben geführt und normal funktioniert (vgl. ebd.: 29) bevor die Summe der Verluste sie in die Vergangenheit flüchten lässt. Dabei sind hirnorganische Veränderungen kein kausal ausreichendes Kriterium (vgl. ebd.: 30). Desorientierte sehr alte Menschen (ebd.: 28f)

- besitzen kein flexibles Verhaltensrepertoire
- halten an überholten Rollen fest
- müssen mit unbewältigten Gefühlen ringen
- ziehen sich aus der Gegenwart zurück, um überleben zu können
- weisen signifikante kognitive Leistungseinbußen auf und sind nicht mehr zu intellektueller Einsicht fähig.

Validation hat die Aufgabe, „dem sehr alten, desorientierten Menschen bei der Erfüllung seiner Lebensaufgaben zu helfen“ (ebd.: 36). Dies geschieht durch empathisches Zuhören, der Wertschätzung und dem Bestätigen der Gefühle damit verdrängte Emotionen befreit werden (vgl. ebd.).

Der Validationsanwender „ist ein Super – Erwachsener“ der „spontane, tiefe Gefühle der sehr alten Menschen akzeptieren und mit Empathie spiegeln.“ (ebd.: 37) kann, aber er soll „kein Analytiker“ (ebd.; 38) sein. Er „ist ein „Übermensch“ (für 3 bis 10 Minuten, 2005: 51), denn er bringt für sehr alte, desorientierte Menschen Empathie auf und achtet ihre Gefühle als echte, ohne zu wissen, warum der alte Mensch sich so verhält.“ (ebd.: 38)

Validation basiert auf drei Prinzipien (vgl. ebd.: 47f):

- den sog. Verhaltensprinzipien, sie erklären das Verhalten von demenziell erkrankten Menschen aus behavioristischer Sicht,
- Entwicklungsprinzipien, sie erklärten das Erleben aus entwicklungs-psychologischer Sicht und
- Psychologische Prinzipien, die Gefühle aus psychoanalytischer Sicht erklären.
Desorientierung (vgl. ebd.: 49) wird in vier Stadien, die in der aktuellen Version (vgl. 2005: 64ff) Phasen genannt werden, eingeteilt. Die einzelnen Stadien folgen aufeinander (falls nicht durch die Validation verhindert) und für jedes Stadium werden eindeutige körperliche und psychologische Charakteristika beschrieben.

Phase (Stadium) I: Mangelhafte/unglückliche Orientierung (orientiert, aber unglücklich)

Gekennzeichnet durch bestimmte Symbole, definiert als „ein Gegenstand oder eine Person der Gegenwart, die einen wichtigen Gegenstand oder eine wichtige Person der Vergangenheit repräsentiert.“ So steht der Schuh (vgl. 1993: 51) als universelles Symbol für einen Behälter, aber auch für männliches oder weibliches Geschlecht, (2005 wird der Schuh zum Symbol für das Kind, ein Kind anziehen und Sexualorgan, vgl. ebd.: 67) Nasenbohren für sexuelles Vergnügen und die Tasche für die Vagina.

Diese Phase wird durch dreizehn körperliche und fünfzehn psychologische Charakteristika (1993: 54f; 2005: 71f) beschrieben.

Personen in diesem Stadium brauchen fürsorgliche, respektvolle Autorität, die ihnen nicht widerspricht, die sie versteht und nicht beurteilt (vgl. 1993: 53; 2005: 68).

Phase (Stadium) II: Zeitverwirrtheit

Gehirnschäden beeinträchtigen die Kontrollzentren, „ein Ding oder eine Person der Gegenwart ist das Symbol - die Fahrkarte in die Vergangenheit“ (1993: 55; 2005: 70), universelle Gefühle, Liebe, Angst, Hass übernehmen die Steuerung des Erlebens und Verhaltens und werden gefühlsmäßig inkontinent (vgl. ebd.).

Diese Phase wird durch acht körperliche und zwanzig psychologische Charakteristika (vgl. 1993: 56 f; 2005: 71f) gekennzeichnet.

Aufgabe der ValidationsanwenderInnen ist es „die ohnmächtige Wut der Dornröschen“ (1993: 55; 2005: 70) nachzuempfinden.

Phase (Stadium) III: Sich wiederholende Bewegungen

„Menschen, die in der II. Phase (im II. Stadium, 1993: 57) ihre Gefühle nicht verarbeiten können, indem sie diese jemandem mitteilen, der sie validiert, ziehen sich häufig in vorsprachliche Bewegungen und Klänge zurück, um unbewältigte Konflikte der Vergangenheit zu lösen.“ (1993: 57; 2005: 72)

Durch eine fürsorgliche Beziehung, im Sinne der Validation, hätte ein Abgleiten (vgl. 1993: 59; 2005: 74) aus Phase II in Phase II verhindert werden können

Auch diese Phase wird durch körperliche (sechzehn) und psychologische (fünfzehn) Charakteristika (vgl. 1993: 59f; 2005: 74 f) gekennzeichnet.

Phase (Stadium) IV: Vegetieren

„In dieser Phase verschließt sich der Mensch völlig von der Außenwelt und gibt das Streben, sein Leben zu verarbeiten auf. Der eigene Antrieb ist minimal, gerade genug, um zu überleben.“ (1993: 61; 2005: 75). Dieses Stadium hätte durch die Validation verhindert werden können (vgl. ebd.).

Gekennzeichnet wird die Phase des Vegetierens durch fünf körperliche und vier psychologische Merkmale (vgl. ebd.; 2005: 76).

Für die Anwendung der Validation werden drei Schritte (vgl. 1993: 62; 2005: 77) vorgeschlagen. Im ersten Schritt erfolgt eine, über zwei Wochen gehende, Informationssammlung, die den lebensgeschichtlichen Hintergrund möglichst umfassend in Erfahrung bringen soll. So genannte „Hier und Jetzt“ – Fragen (vgl. ebd.: 63; bzw.: 78), „Damals und Dort“ – Fragen (vgl. ebd.: 64; bzw.:79), die Beobachtung des Aussehens und des Verhaltens, hier wird auf das Neurolinguistische Programmieren (NLP, nach Bandler/Grinder, 1979) und dessen Bedeutungszuschreibung (vgl. ebd.: 66f; bzw.: 81f) verwiesen, erlauben eine Bestimmung der Aufarbeitungsphase.

„Stimmen Sie ihre Beobachtungen der körperlichen Charakteristika und die aus der verbalen Geschichte gewonnenen Informationen mit den in Teil II angeführten typischen körperlichen und psychologischen Merkmalen der vier Phasen ab. (…) Das Bestimmen der Phase hilft Ihnen, die richtige Validationstechnik auszuwählen.“ (2005: 82)

Im dritten Schritt erfolgt dann die konkrete Anwendung der gewählten Technik. Für die jeweilige Dauer der Anwendung werden konkrete Zeitvorschläge, 5 – 15 Minuten in Phase I, 2 – 10 Minuten in Phase II und zwischen einer und zehn Minuten in Phase III und IV angegeben. Wobei in Phase IV, unabhängig vom Ergebnis, nach drei Minuten die Anwendung abgebrochen werden sollte (vgl. 1993: 68; 2005: 83).

Ziele der Validationsanwendung sind erreicht, wenn das Verhalten des Klienten (vgl. ebd.) „positive“ Veränderungen, für die einige phasentypische Beispiele (ebd.) genannt werden, zeigt.

Jede Phase erfordert bestimmte, sich unterscheidende, Techniken (vgl. 1993: 69ff; 2005: 84ff), die eine Gemeinsamkeit, das „Sich Zentrieren“ voraussetzt. Für das Zentrieren werden (vgl. 1993: 39f; 2005: 60), in Anlehnung an Hendriks und Wills (1975) sieben Regeln aufgestellt.

Ausführlich werden typische „Fehler und Reaktionen“ (vgl. 1993: 82ff; 2005: 97ff) dargestellt und, „alte Menschen sind weise, sie werden Fehler verzeihen“ (ebd.: 82; bzw.: 97) Korrekturmöglichkeiten aufgezeigt.

Im vierten Kapitel werden die Anforderungen und Voraussetzungen für Validationsgruppen (1993: 86ff; 2005: 102ff) in sieben Schritten, checklistenartig beschrieben, was aber für die hier zugrunde gelegte Fragestellung keine weiteren Erkenntnisse bringt. Während 1993 abschließend zahlreiche Tabellen, Arbeitblätter und Tests (vgl.: 106ff) folgten, wird in der aktuellen Version davor (Kapitel V) noch darauf hingewiesen, dass Validation nicht alle Menschen mit Demenz erreicht und andere Methoden beherrscht und angewandt werden können (vgl. 2005: 119ff).

Kurz vorgestellt werden:

- die Erinnerungsarbeit , der manchmal ein gewisser Erfolg bei mangelhaft orientierten Menschen zugebilligt wird (vgl. ebd.: 120)
- ROT , hier gilt das Gleiche, allerdings wird auf die, damit verbundene, Gefahr des Rückzuges und der feinseligen Abwehr (vgl. ebd.: 121) hingewiesen.
- Re – Motivation , die nicht auf Gefühle eingeht und daher nur für Menschen in der Phase 1 sinnvoll sein kann (vgl. ebd.: 121).
- Verhaltensmodifizierung , sie kann keinen Langzeiterfolg bringen, „da der tiefe Grund für das Verhalten nicht berührt wird“ (ebd.:122).
- Sensorische Stimulation , die richtig angewandt „bei Menschen in der Phase des Vegetierens sehr erfolgreich sein“ (ebd.) kann.
- Ablenkung und Umlenkung, „einfach für den Pfleger und manchmal kurzfristig auch erfolgreich, aber da sie nicht auf die wahren Bedürfnisse des Klienten eingehen, wird das alte Verhalten immer wiederkehren.“ (ebd.:123).

[...]

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Details

Titel
Demenz und Ethik. Die Demenzpflegetheorien von Naomi Feil und Erwin Böhm aus pflegewissenschaftlicher-philosophischer Sicht
Autor
Jahr
2013
Seiten
83
Katalognummer
V264057
ISBN (eBook)
9783656533597
ISBN (Buch)
9783656536208
Dateigröße
723 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bühm, Validation, Psychobiographie, Feil, Böhm, Naomie Feil, Erwin Böhm, Demenztheorien
Arbeit zitieren
Dipl. Pflegewirt, M.A. Bernd Meyer (Autor:in), 2013, Demenz und Ethik. Die Demenzpflegetheorien von Naomi Feil und Erwin Böhm aus pflegewissenschaftlicher-philosophischer Sicht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/264057

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