Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung - Ziel und Struktur der Arbeit
2 Theoretische Grundlagen
2.1 Zum Begriff der Charakteristik
2.2 Zur Relevanz des Erstellens einer Figurencharakteristik innerhalb der Filmanalyse
2.3 Die filmische Charakterisierung - Modi der Vermittlung von figuralen Merkmalen
2.4 Entwurf einer Methodik zur Erstellung einer Charakteristik von Filmfiguren
2.4.1 Die Figurenbiographie
2.4.2 Die Figurenhandlung
2.4.3 Die Figurenbeziehungen
2.4.4 Die Figurenpsyche
2.4.5 Das Figurenerscheinungsbild
2.5 Die Charakteristik erweiternde filmtheoretische Reflexionen
3 Praktische Anwendung am Film „Das Experiment“: Charakteristik von Tarek Fahd
3.1 Zusammenfassung der wichtigsten filmischen Informationen über Tarek
3.2 Detaillierte Analyse von Tareks filmischer Charakterisierung
4 Fazit und Ausblick
Quellen- und Literaturverzeichnis
1 Einleitung - Ziel und Struktur der Arbeit
„ Willst Du den Charakter eines Menschen erkennen, so gib ihm Macht. “ (Abraham Lincoln) 1
Was Lincoln bereits im 19. Jahrhundert mit obigen Worten konstatierte, wurde im Jahre 1971 durch ein psychologisches Experiment evident, dem sogenannten Stanford Prison Experiment. Von Philip G. Zimbardo durchgeführt, bestand das Erkenntnisinteresse darin, durch die Beboachtung der studentischen Probanden in einer konstruierten Gefängnissituation herauszufinden, wie Menschen mit Macht und Gehorsam umgehen. Obwohl es auf zwei Wochen ausgelegt war, musste das Experiment nach sechs Tagen abgebrochen werden, da einige Wärter die Häftlinge sadistisch behandelten und jene mit Depression und extremen Stressanzeichen reagierten (vgl. Zimbardo 1999: www.prisonexp.org)
Angelehnt an das reale Stanford Prison Experiment entstand der Roman „Black Box“ von Mario Giordano, der als Drehbuch für den Film „Das Experiment“ von Oliver Hirschbiegel aus dem Jahre 2001 fungierte, mit dem sich die vorliegende Arbeit befasst. Ihr Ziel soll sein, eine Charakteristik der Hauptfigur zu erstellen, was innerhalb dieser Abhandlung der Analyse ihrer filmischen Charakterisierung entspricht. Die Charakter- isitik soll gleichlaufend in Relation zur filmischen Handlung und zur Zuschauerrezeption gesetzt werden. Gerade weil der Film menschliche Verhaltensweisen thematisiert, scheint er der Verfasserin für eine derartige Untersuchung gut geeignet.
Jedoch sei angemerkt, dass die Darstellung im Film das reale Vorbild modifiziert, denn im Gegensatz zur Realität wird das Experiment im Film zwar ebenso vorzeitig, aber erst für beendet erklärt, nachdem es Ver- letzte und Tote gegeben hatte. Außerdem zeigte sich in der Realität nur ein Drittel der Wärter gewalttätig, weshalb Zimbardo erfolgreich gegen den Untertitel „nach einer wahren Begebenheit“ klagte. Zu oben genanntem Zweck wird in einem Theorieteil vorab die Bedeutsamkeit dieser Abhandlung erschlossen. Im Anschluss daran schildert die Verfasserin eine mögliche Verfahrensweise zur Erstellung einer Charakterisitik von Filmfiguren, beleuchtet dazu Modi der Merkmalsvermittlung und unternimmt den Versuch, Aussageebenen zu identifizieren, die als Instrumente der Figurenbeschreibung dienen. Daraufhin werden im Rahmen filmtheoretischer Reflexionen Ansatzpunkte herausgearbeitet, mithilfe derer die durch den figuralen Charakter bedingten Interdependenzen zwischen Figur und Film sowie zwischen Figur und Zuschauer ergründet werden können.
Im Praxisteil werden die theoretischen Vorüberlegungen auf die Hauptfigur des Films Das Experiment angewendet, wobei eine Charakterisitik der Hauptfigur erstellt wird und auf Grundlage dieser Ergebnisse filmtheoretische Reflexionen vorgenommen werden. Abschließend sollen damit Figurenaufbau und Figurendarstellung im Film beurteilt werden.
2 Theoretische Grundlagen
2.1 Zum Begriff der Charakteristik
Die Charakteristik einer Person ist eine treffende Beschreibung und damit die Feststellung von typischen Merkmalen und persönlichen Eigenschaften. Ihr Ziel ist die Erfassung der Individualität einer Person, sodass die Person unterscheid- und identifizierbar wird (vgl. Kabisch 1997: 38).
Dies trifft auch auf die Erstellung einer Filmfigur-Charakteristik zu. Die Filmfigur per se kann einem Menschen gleichgesetzt werden, denn sie ist „mit individuellen Merkmalen einer real denkbaren Person (eines fiktiven Charakters) ausgestattet“ (Kanzog 2001: 61). Trotzdem ist die fiktive und konstruierte Figur reduziert, weil der Zuschauer nur eine Auswahl an Vorfällen und Episoden aus ihrer filmischen Biographie präsentiert bekommt (vgl. Mothes 2001: 73 ff.). Die Unterschiede zwischen Filmfigur und realer Person liegen demzufolge nicht in ihnen selbst, sondern sind durch das Präsentationsmedium Film begründet, denn Informationen über Figur bzw. Person werden auf jeweils andere Art und Weise vermittelt. Die Filmfigur z.B. kann ebenso in ihrer Privatsphäre gezeigt werden (vgl. Phillips 2000: 76 f.) - als Beobachtungssituation für die Realität eher unwahrscheinlich. Die reale Person hingegen wird u.a. über persönliche Interaktion transparenter.
Zu betonen ist, dass eine Charakteristik immer interpretative Züge aufweist, da Beobachtungen der Person und ihres veränderlichen Verhaltens gedeutet und in beständige Charaktereigenschaften überführt werden. Ferner, auf das dieser Arbeit zugrunde liegende Medium Film bezogen, zeichnet sich im Film Präsentiertes häufig durch Ambiguität aus. Die der Beobachtung vorausgehende Wahrnehmung, die unter anderem durch interindividuell verschiedene und oft unbewusste Aufmerksamkeitszuwendungen bedingt ist, besitzt grundsätzlich eine subjektive Färbung.
Die Verfasserin unterliegt in diesem Zusammenhang einem individuellen Rezeptions- und Interpretations- prozess. Dieser wird durch kognitive Schemata, das heißt durch Vorwissen (z.B. über soziale Rollen), Erfahrung, Einstellung, dem Konzept von Selbst und Identität u.a. konstituiert (vgl. Mikos 2003: 47 ff.) und ist zudem an Emotionen gekoppelt. Trotzdem soll Objektivität, synonym als intersubjektive Nachprüfbarkeit bezeichnet, oberste Prämisse vorliegender Arbeit sein: Diese Intention wird erreicht, indemAussagen, Rückschlüsse und Interpretationen am Film begründet und belegt werden, sodass sie nachvollziehbar sind. Dazu gehört in der Regel die Angabe einer genauen Szene aus dem Filmsequenzprotokoll (siehe Anhang). Überdies können das Bewusstmachen und der Versuch der Distanzierung von emotionalen Antworten zur Erhöhung der Objektivität hilfreich sein.
Diese Charakteristik erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Erfassung der Individualität ist - gleichermaßen für den Film gültig - nur mit Reduktion möglich, verursacht durch die Komplexität des Individuums und seines Verhaltens (vgl. Koch-Hillebrecht 1988: 54 ff.).
2.2 Zur Relevanz des Erstellens einer Figurencharakteristik innerhalb der Filmanalyse
Der Sinn, die Charakteristik einer Filmfigur zu erarbeiten und damit die filmische Figurencharakterisierung zu analysieren, ergibt sich aus mehreren Überlegungen. Erstens sind Figuren als Handlungsträger für den Filmverlauf von grundlegender Signifikanz: „characters move the story forwards through their actions“ (Phillips 2000: 57). Handlung jedoch, „losgelöst von den Handelnden, exisitiert nicht“ (Vale 1987: 101), denn die Eigenschaften einer Figur bestimmen, was sie tut. Eine Person handelt, weil sie ein Ziel verfolgt. Hier liegt die Wurzel einer dramatischen Struktur: Da zwei Parteien Ziele anstreben, die sich gegenseitig ausschließen, entsteht ein Konflikt gemäß dem Prinzip „Drama ist Konflikt“ (Field et al. 1994: 20). Diese Feststellung setzt eine bestimmte Figurenkonzeption voraus. Die für die Handlung konstitutiven Charaktere müssen klar hervortretende Ziele haben: Die spezifischen Eigen- schaften einer Figur „sind die Ursachen dafür, daß die Figur gerade dieses Ziel [...] anstrebt“ (Eder 1999: 82). Des Weiteren muss die Figur bereit sein, für ihre Ziele zu kämpfen: Eigenschaften „sind ausschlaggebend dafür, ob sich der in der Situation enthaltene Widerspruch entfalten kann“ (Rabenalt 1999: 62 f.) und ob in den Figurenbeziehungen Disparitäten aufkeimen, die für Dramatik sorgen.
Es kann resümiert werden, dass die Figur durch ihre Charaktereigenschaften und somit ihr Verhalten Einfluss auf die Handlung nimmt. Vice versa konstituiert Handlung die Figur, indem sich diese durch Erfahrungen entwickelt, am Konflikt wächst oder sich durch gewisse Ereignisse verändert (vgl. Phillips 2000: 58). Dementsprechend besteht eine Wechselbeziehung zwischen Figur und Geschichte. Zweitens werden über Filmfiguren die in einer Gesellschaft kursierenden Selbst- und Rollenkonzepte verhandelt. Figuren sind von Belang zur Verständigung über soziale Rollen und normative Regeln des Zusammenlebens, denn beides wird für gewöhnlich durch sie repräsentiert (vgl. Mikos 2003: 46 f., 155 f.) und ist eng an ihre Individualität geknüpft. Diese Figurenfunktionen leisten einen Beitrag zur Identitäts- bildung des Rezipienten, die wiederum nur erfolgen kann, wenn der Zuschauer Beziehungen zur Filmfigur aufgebaut hat (vgl. ebd.: 49). Ein persönlicher Bezug ist gleichermaßen bei oben erwähntem Aspekt der figuralen Handlung wesentlich: Handlung kann „für das Publikum nur soweit interessant werden, als die Figuren darin die Sympathie oder [...] Gefühle des Publikums erregen. [...] Selbst die gewaltigsten Ereignisse berühren nicht, wenn sie Figuren zustoßen, die dem Publikum gleichgültig sind“ (Rabenalt 1999: 66). Figuren sind demgemäß nicht nur substantiell für Handlung und Identitätsbildung, sondern bewirken drittens empathische Prozesse beim Zuschauer, die ursächlich für die emotionale Wirkung und folglich das Spannungspotenzial eines Films sind. Der Rezipient versetzt sich in die Welt der Figuren und „empfindet Angst, Hoffnung, Liebe, Hass, Glück und Leid, als durchlebe der dieselbe Situation wie die Filmfigur. [...] Durch sein Einfühlungsvermögen wird er selbst Teil der Geschichte“ (Vale 1987: 236). Eine derartige Gefühlsbindung erfordert indessen eine Identifikation ermöglichende Figurenkonzeption, indem die Figuren den Wünschen und Sehnsüchten der Zuschauer entsprechen und bewundernswerte Qualitäten besitzen. Dessen ungeachtet sollte sie kleine Schwächen aufweisen. Das lässt sie für den Zuschauer sympathischer werden, weil diese Unzulänglichkeiten womöglich die eigenen sein könnten (vgl. ebd.: 233 f.). Die Ausführungen verdeutlichen, welche vielfältigen Effekte der Charakter einer Figur sowohl auf die filmische Handlung als auch auf die Rezeption hat, worin die Relevanz einer Untersuchung dieser Art eindeutig begründet liegt. Eng mit der Figurencharakteristik verknüpft sind filmtheoretische Analysen hin- sichtlich Figurenkonstellation, Rezeption und Identitätsbildung beim Rezipienten, dramatischer Struktur, Spannungspotenzial etc. Diese erweiternden Überlegungen werden in Punkt 2.5 vertiefend aufgegriffen.
2.3 Die filmische Charakterisierung - Modi der Vermittlung von figuralen Merkmalen
Die Literatur besitzt durch ihre schriftliche Form die Möglichkeit, figurale Identität und besonders Innenwelt - Gefühle, Gedanken, mentale Zustände - mit Tiefe darzulegen. Der Film hingegen „tendiert zum Sicht- baren, zum Äußerlichen“ (Faulstich 2002: 95): Er kann weniger beschreiben, sondern muss visualisieren.
Nach Faulstich (vgl. 2002: 97 ff.) kann man drei verschiedene Modi der Charakterisierung differenzieren, die im Film auf audiovisuellem Wege umgesetzt werden müssen: Selbst-, Fremd- und Erzählercharakterisierung. Bei der Selbstcharakterisierung charakterisiert sich die Figur selbst durch ihr Handeln und Verhalten, ihr Äußeres und, insofern erkennbar, ihre Gedanken und Gefühle. An dieser Stelle sei ergänzt, dass unter dem Begriff der Handlung im weiteren Sinne verbales und nonverbales Mitteilen zu subsumieren sind. Die Selbstcharakterisierung kann direkt oder indirekt erfolgen. Bei der direkten Selbstcharakterisierung beschreibt eine Figur sich und ihren Charakter selbst; bei der indirekten werden aus dem, was eine Person tut, denkt oder fühlt, Rückschlüsse auf ihren Charakter gezogen (vgl. Egle 1999: www.teachsam.de). Es gilt dabei die Tatsache, dass tun den Akt der Verwendung von Sprache und Körpersprache mit umfasst, denn das Wort ist „Handlung und gleichzeitig die Färbung des Charakters“ (Freilich 1964: 155). Das bedeutet außerdem, dass die Figur sich indirekt selbst charakterisiert, wenn sie Äußerungen, Handlungen oder Erscheinungsbild einer anderen evaluiert (vgl. Nieragden 1995: 81 f.).
Die Fremdcharakterisierung gibt Auskunft über die zu analysierenden Figur durch andere Figuren. Sie geschieht jeweils wieder auf direkte oder indirekte Weise. Direkte Fremdcharakterisierung gestattet Auf- schluss über die Analysefigur, indem sich andere Figuren über sie explizit kommentierend äußern oder ein Urteil über sie und ihren Charakter in ihrer An- oder Abwesenheit fällen. Bei direkter Fremdcharakterisierung jedweder Art ist jedoch Vorsicht geboten, denn sie ist für gewöhnlich mit Bewertungen verbunden. Die Sichtweise einer Person hängt von deren Charakter ab. Es passiert daher nicht selten, dass Personen sich selbst oder andere falsch einschätzen. Indirekte Fremdcharakterisierung vollzieht sich auch während der Interaktion zwischen Analysefigur und anderen Figuren: Aus Verhalten oder Reaktionen anderer Figuren gegenüber der Analysefigur kann deren Charakter abgeleitet werden.
Erzählercharakterisierung bezeichnet die Methode, bei der narrative Bauformen etwas über die Figur aussagen. Filmfiguren sind medial inszeniert, das heißt durch Mittel der visuellen und akustischen Darstellung in Szene gesetzt - durch Kameraverhalten (speziell Einstellungsgröße und Kameraperspektive), Lichtge-staltung, begleitende Musik, Farbgebung oder Montage. Mediale Inszenierung kann Aspekte des Verhaltens oder ein Charakteristikum der Figur hervorheben, das in der Regel für das Bestehen der filmischen Situationen äußerst wichtig ist (vgl. Mikos 2003: 158). Ferner erzeugt sie konnotative Bedeutung vornehm-lich durch den gezielten Einsatz von Licht, Musik und Farbe und lässt Gefühle oder Stimmungen der Figur unabhängig vom Schauspieler sicht- und hörbar werden.
Eng mit der Vermittlung des figuralen Seelenlebens verknüpft, obliegt es der medialen Inszenierung, die Beziehung zwischen Zuschauer und Filmfigur zu steuern: „our relationship to any particular character can be significantly affected by the way they are presented to us. For example, [...] whether the film is edited in such a way as to create [...] intimacy between the spectator and the character“ (Phillips 2000: 63). Folglich beeinflusst mediale Inszenierung die Wahrnehmung der Filmfigur durch den Zuschauer (vgl. Arnheim 1975: 308), denn der Rezipient gewinnt auf bewusste oder unbewusste Weise Vorstellungen von den Eigenschaften oder dem Inneren der präsentierten Figur und baut auf dieser Grundlage Nähe zu ihr auf. Die Angabe des Modus' der Vermittlung eines Merkmals ist beim Verfassen einer Charakterisitik unabdingbar, weil nur so getroffene Äußerungen belegt und auf ihre Evidenz hin überprüft werden können. Gewiss verspricht figurale Handlung mehr Unmissverständlichkeit bei der Registrierung von Merkmalen als mediale Inszenierung oder Fremdkommentar, wobei dies trotzdem situativ variieren kann.
2.4 Entwurf einer Methodik zur Erstellung einer Charakteristik von Filmfiguren
Die hier nur überblicksartig aufgezählten Aussageebenen Figurenbiographie, Figurenhandlung, Figurenbeziehungen, Figurenpsyche und Figurenerscheinungsbild nehmen eine inhaltliche Klassifizierung der Figurendeskription vor. Sie fungieren daher als Anhaltspunkte zur Erstellung einer Charakteristik, indem mit ihrer Hilfe Figuren und ihre Verhaltensweisen beschrieben werden können.
Ist diese Beschreibung vorgenommen, sind in ihr bereits explizit Figurenmerkmale enthalten, andererseits impliziert sie mögliche figurale (Charakter-)Eigenschaften, die erst extrahiert werden müssen. Jene werden üblicherweise durch adjektivische Konstruktionen ausgedrückt, schließlich werden Adjektive als Eigen- schaftswörter verstanden. Der Wesenskern einer Person wird durch die Summe ihrer dominanten Eigenschaften gebildet, deren Dokumentation erst dann zulässig ist, wenn sie repetitiv oder permanent evident werden. Figuren können sich bekanntlich widersprüchlich verhalten und etwas tun, das man unter Berücksichtigung des bereits über sie aufgebauten Wissens nicht von ihnen erwartet. Entscheidend für den Inhalt einer Charakterisitik sind jedoch beständige Merkmale, denn nur mit ihnen kann sich dem Ziel des Festhaltens der Identität am ehesten genähert werden kann. Die Erfassung von dominanten Charakter- eigenschaften wird wissenschaftlich von der differentiellen Psychologie in der Persönlichkeitsbeurteilung betrieben. Da ein solches Vorgehen den Rahmen sprengte, soll diese Erfassung lediglich populärpsychologisch vorgenommen werden.
Bereits in Abschnitt 2.1 wurde die Subjektivität einer angefertigten Charakteristik herausgestellt. Dies trifft auf ihren beschreibenden Teil zu, weil der Wiedergabe mit eigenen Worten immer individuelle Rezeptions- und Interpretationsprozesse vorausgehen und jeder Mensch „bei der Erfassung anderer bestimmte (ihm oft kaum bewußte, oft enge) Schemata, Erfassungs-Kategorien“ (Koch-Hillebrecht 1988: 2 f.) benutzt. Überdies gilt dies für die Zuordnung einer Eigenschaft zu einer Person, da sie der anfechtbare Versuch ist, „seinen wechselvollen Verhaltensstrom in widerstandsfähigen, substantiellen Stückchen festzuschreiben“ (ebd.: 11). Doch zurück zu den oben aufgeführten Aussageebenen, bei denen es sich um verschiedene Perspektiven auf die zu charakterisierende Person handelt, weshalb zwischen ihnen starke Interdependenzen auftreten. Exemplarisch sei hierzu genannt, dass die Biographie die Psyche einer Figur beeinflusst; diese selbst aber entscheidende Auswirkungen auf das Handeln hat.
Bei der Erstellung einer Charakterisitik sollte auf die im Folgenden vertieften Aussageebenen notwendigerweise eingegangen werden, da sie die Identität einer Person maßgeblich bestimmen. Es ist selbstverständlich, dass nicht die Ausprägung jedes Aspekts einer Aussageebene (siehe unten) festgestellt werden muss, weil selten alle Informationen über eine Person verfügbar sind. Vielmehr sollen Auffälligkeiten oder Merkmale mit besonderer Implikation für die Charakteristik identifiziert werden. Gleichfalls sind die Aufzählungen nicht komplett, sie können durch zusätzliche Aspekte ergänzt und in völlig anderer Reihenfolge angewendet werden.
2.4.1 Die Figurenbiographie
Erste wichtige Aussageebene ist die Figurenbiographie: Sie ist zunächst durch soziodemographische Merkmale gekennzeichnet, die durch die Vergangenheit begründet sind, wie Geschlecht, Geburtsjahr / Alter, Nationalität / ethnische Zugehörigkeit, Religion, Wohnort, Beruf / Beschäftigung, Familienstand oder Schulbildung. Diese Einteilungen sind essenziell für unsere grundlegende Orientierung in der Umwelt (vgl. Koch-Hillebrecht 1988: 33 f.). Solch ein soziodemographisches Merkmal allein ist schon sehr aussägekräftig und bezüglich seiner Implikationen zu ergründen. So hat die Anzahl der Lebensjahre in beträchtlichem Maße Konsequenzen für das Handeln einer Person (vgl. Vale 1987: 105) und wird je nach Kultur mit diversen Rollen und Erwartungen assoziiert (vgl. Koch-Hillebrecht 1988: 44). Neben den Prägungen durch das Lebensalter wird der Mensch durch den kulturhistorischen Kontext geformt, in den er hineingeboren wurde: Er ist „ein Kind seiner Zeit“ (ebd.: 51) und seines Kulturkreises. Der Beruf und das Einkommen offenbaren normalerweise die soziale Stellung, der Familienstand einen Teil des Privatlebens usw. Dennoch bleibt jeder unabhängig von diesen soziodemographischen Merkmalen ein Individuum, weshalb er oder sie dadurch weder endgültig noch vollständig charakterisiert werden kann.
Die Biographie einer Person umfasst im Kern Informationen über die Zeit von ihrer Geburt bis zur (filmischen) Gegenwart. Diese Hintergründe sind insofern relevant, als dass Schicksal und „menschliche Auffassung der Zeitläufe und Erlebnisse“ (ebd.: 94) den Charakter modellieren und somit direkte Effekte auf das aktuelle Handeln haben. Biographische Aspekte einer Person können sein: ihr familiärer Hintergrund, ihr soziales Umfeld, ihre Kindheit und Jugendzeit, ihr beruflicher Werdegang, aber auch prägende Ereignisse, Krisen oder traumatische Erlebnisse (vgl. Seger 2001: 61).
2.4.2 Die Figurenhandlung
Zweitens interessiert die Figurenhandlung: Was „der Mensch im innersten Grunde ist, bringt sich erst durch sein Handeln zur Wirklichkeit“ (G.W.F. Hegel 1965: 216 [zitiert in: Rabenalt 1999: 65]). Die den Charakter offenbarende figurale Handlung ist dabei so ausdrucksstark wie vielschichtig. Alles, was die Figur tut, ihre Aktionen und Reaktionen, ihre Art und Weise zu handeln und sich zu verhalten, ihre Auseinandersetzung mit Aspekten des setting (vgl. Nieragden 1995: 39) usw., lässt auf ihre Gewohnheiten, ihre Eigenheiten und Defizite, Fähigkeiten, Interessen und Neigungen et cetera schließen und kann derart zu einer Charakteristik beitragen. Gleichermaßen die Besitztümer einer Person wie Auto, Haus, Wohnraum oder häusliche Einrichtung zählen im weiteren Sinne zur Aussageebene der Figurenhandlung, da die Person agiert, wenn sie etwas kauft, mietet oder Gebrauch davon macht. Sie können ein wichtiger Indikator der gesamten Person sein ( vgl. Phillips 2000: 59).
Der Entwurf einer konkreten Systematik für dieses Traktat zur Analyse der Handlung scheitert an deren komplexer Dimensionen. Deswegen wird sich die Verfasserin auf die Untersuchung einer sehr wesentlichen und überblicksartig skizzierbaren Handlungsdimension beschränken, nämlich das verbale und nonverbale Mitteilungshandeln. Verbales Mitteilen einer Figur entspricht ihrer Sprache und Sprechweise. Sprache „wirkt [...] entscheidend mit bei der Entfaltung der Handlung, Zeichnung der Charaktere, Darstellung von Empfindungen“ (Schmitz 2004: 115 f.) im Film und ist - aus kommunikationspsychologischer Sicht - „highly revealing both in what it tells us about individuals and what it tells us about their relationship with others“ (Phillips 2000: 70). Mit dem gesprochenen oder geschriebenen Wort können über Inhalt und Form auf direkte oder indirekte Weise Gefühle, Werthaltungen oder Charaktereigenschaften vermittelt werden. Gesondert einzugehen ist auf formale Aspekte der gesprochenen Sprache einer Figur. Diese bezeichnen ihre Sprechweise, welche viel über sie offenbart. Dazu zählen unter anderem prosodische Eigenschaften der Sprache wie Dialekt / Akzent, Lautstärke, Sprechtempo / Pausen, Betonung / Rhythmus oder Intonation (Sprachmelodie) (vgl. Schwitalla 1997: 141), genauso wie Stil oder Sprachebene bzw. Wortwahl einer Figur. Es muss erneut betont werden, dass der Film und damit auch Filmsprache konstruiert und stilisiert sind. Filmsprachedie hebt sich beispielsweise durch das Fehlen von Redundanzen oder Selbstkorrekturen von Alltagssprache ab (vgl. Schmitz 2004: 39) und kann daher nicht wie diese evaluiert werden. Nonverbales Mitteilungshandeln bezeichnet die Körpersprache einer Figur und damit ihren gestischen und mimischen Habitus. Die Körpersprache hat Funktionen der „Charakterisierung, Figurenkennzeichnung und Personalstrukturierung“ (Nieragden 1995: 63) und ist teilweise kulturell determiniert, weshalb sie in diesem Kontext verfolgt werden muss. Sie kann gesprochene Sprache unterstützen, zu ihr in Widerspruch stehen oder eigenständig vorkommen. Wo nötig, sollten verbale Mitteilungen mit nonverbalen als Einheit analysiert werden.
2.4.3 Die Figurenbeziehungen
Als dritte Aussageebene fungieren die Sozialbeziehungen einer Figur. Sie sind eng mit der figuralen Handlung über Interaktion verknüpft, aber aufgrund ihrer figurenkonstituierenden Bedeutung als eigenständig anzusehen. Die zu analysierende Figur mit den zu ihr in Beziehung stehenden Figuren bilden allesamt „eine Konstellation, in der sie durch ihre Ausstattung an Eigenschaften und Handlungsmöglich- keiten gegeneinander gesetzt sind“ (Hickethier 2001: 128) und in der die Figuren meistens „die wichtigsten Dimensionen des in der Geschichte zum Austrag gebrachten Konflikts verkörpern“ (ebd.: 128). Aussagen über Sozialbeziehungen können durch Analyse der Interaktionen einer Figur, der persönlichen Relationen zu ihrer Umwelt (das heißt zu Partner, Freunden, Familienmitgliedern, Kollegen, Nachbarn usw.) und der Auswirkungen dieser Beziehungen auf die Figur getroffen werden. Dabei sind so maßgebliche Aspekte zu beachten wie Handlungsmotivationen (Eigeninteresse versus fremdfigurales Interesse), Handlungsinvolviertheit (aktives versus reaktives Handeln), Zielausrichtung (konfligierend versus konform), Figurenkommentare zu anderen Personen (direkte Fremd-, und indirekte Selbstcharakterisierung), Abhängigkeits- und Einflussverhältnisse, Inferioritäten und Superioritäten (vgl. Nieragden 1995: 54 ff.), figurales Selbst- und Fremdbild oder Figurenentwicklung. Mit der Kategorie der Sozialbeziehungen sind weiterführend sozialer Status, häusliche und familiäre Situation, politische Zugehörigkeit, Vereinsmit- gliedschaften et cetera verbunden. Beim Film kann kraft Figurenkonstellation eine Kontrastierung erfolgen.
[...]
1 nach http://www.dewi-ziehm.de/zitate/charakter.html