Denkökonomie und Metaphysik(-kritik). Der Empiriokritizismus des Richard Avenarius


Ausarbeitung, 2014

13 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Über Avenarius

Einleitung

Das Prinzip des kleinsten Kraftmaßes als Wurzel der Philosophie

Philosophie als Denken der Welt

Die Methode der Philosophie: Kritik der Erfahrung und Elimination

Ontologie der Empfindungen - Eine neue Metaphysik?

Literaturverzeichnis

Über Avenarius

Da es sich bei Richard Avenarius (1843-1896) um einen heutzutage eher weniger bekannten Philosophen handelt (allein schon im Vergleich zu Ernst Mach, der Avenarius sehr schätze), seien hier ausnahmsweise einige wenige Daten zu seinem akademischen Leben vorangestellt.1

Avenarius wird der Schule von Johann Friedrich Herbart zugerechnet. So bezieht Avenarius auch das Konzept der Apperzeption, welches sein ganzes Werk durch- zieht, von dem Herbartianer Heymann Steinthal.2 1868 wurde Avenarius mit der Abhandlung Ü ber die beiden ersten Phasen des Spinozistischen Pantheismus promoviert und habilitierte sich 1876 mit der Schrift Philosophie als Denken der Welt gem äß dem Prinzip des kleinsten Kraftma ß es. Prolegomena zu einer Kritik der reinen Erfahrung. 1877 folgte Avenarius dann einem Ruf an die Universität Zürich und zwar auf den Lehrstuhl f ü r induktive Philosophie, den zuvor u.a. Wundt und Windelband innehatten. Im selben Jahr wurde er zudem Herausgeber der wichtigsten Zeitschrift des frühen Positivismus, der Vierteljahrsschrift f ü r wissenschaftliche Philosophie. Sein angekündigtes Hauptwerk, die Kritik der rei- nen Erfahrung, erschien erst 1888/90 in zwei Bänden. Ein Jahr danach folgte sei- ne letzte Monographie Der menschliche Weltbegriff.

Einige von Avenarius‘ Gedanken werden als Antizipationen von Thesen der logi- schen Empiristen angesehen. Er soll besonders Moritz Schlick beeinflusst haben. Die Geistesverwandtschaft mit Husserl (und die Kritik an der autoritätsfixierten Tradition) zeigt sich im Vorwort zur Kritik der reinen Erfahrung: „Und so viel also überhaupt zur Motivierung meines Versuches, - statt auf diesen oder jenen Philosophen - einfach auf den natürlichen Ausgangspunkt selbst ‚zurückzuge- hen‘, und - statt an Bücher - unmittelbar an die Sachen ‚anzuknüpfen‘.“3

Einleitung

Die vorliegende Arbeit wird sich vornehmlich der Rekonstruktion der in Leipzig vorgelegten Habilitationsschrift von Avenarius widmen und die darin sich ab- zeichnende Metaphysikkritik herausarbeiten. Dazu wird Avenarius‘ Weg zur Auf- findung des im Denken herrschenden Ö konomieprinzips dargestellt und dessen Konsequenzen für die Möglichkeiten des Philosophierens aufgezeigt werden. In der Kritik der reinen Erfahrung fasst Avenarius sein Vorhaben wie folgt zusam- men: „in den Prolegomenen zur vorliegenden Arbeit [hatte ich mich bestrebt], Wurzel, Aufgabe, Methode und Gestaltung der gesamten Philosophie als durch ein allgemeines Princip bestimmt zu denken.“4 Das führt ihn letzten Endes zu ei- ner Generalkritik der abendländischen Denktraditionen, die die ursprüngliche Welterfahrung verschüttet hat.5 Das 1. empiriokritische Axiom der Erkenntnis- Inhalte besagt demgemäß:

„Jedes menschliche Individuum nimmt ursprünglich sich gegenüber eine Umgebung mit mannigfaltigen Bestandteilen, andere menschliche Indivi- duen mit mannigfaltigen Aussagen und das Ausgesagte in irgendwelcher Abhängigkeit von der Umgebung an: alle Erkenntnis-Inhalte der philoso- phischen Weltanschauungen - kritischer oder nicht kritischer - sind Ab ä n- derungen [Variationen] jener ursprünglichen Annahme. […] Philosophen gewannen ihre Resultate durch positive oder negative Vermehrungen jener Annahme, die auch sie zu Anfang ihrer Entwicklung gemacht haben.“6

Die Rückkehr zum Ursprung, zum natürlichen (vor-theoretischen) Weltbegriff als neutralem Ausgangspunkt des streng wissenschaftlichen Denkens ist folglich das erklärte Ziel der Bemühungen Avenarius‘.

Das Prinzip des kleinsten Kraftmaßes als Wurzel der Philosophie

Das Anliegen von Avenarius in der seiner Schrift von 1876 ist es „die Entwicke- lung der Philosophie unter das Prinzip des kleinsten Kraftmasses zu befassen.“7 Das bedeutet, die Geschichte und Zukunft der Philosophie von der Perspektive aus zu betrachten, dass sie einem unumstößlichen Gesetz der Ökonomie des Den- kens unterworfen ist. Ziel dieses Prozesses soll laut Avenarius die Herstellung der reinen Erfahrung sein. Es handelt sich hierbei um ein Prinzip, das die Zweckmä- ßigkeit unter dem möglichst kleinsten Aufwand von Mitteln8 im Organismus wie auch der Psyche fordert. Es werden demnach solche kognitiven Akte vorgezogen, die „die gleiche Leistung mit einem geringeren Kraftaufwand, bez. mit dem glei- chen Kraftaufwand eine größere Leistung“9 versprechen. Auch zeitweilige Mehr- anstrengungen, die dafür größere oder länger andauernde Effekte mit sich bringen, entsprechen diesem Prinzip. Unter Zweckmäßigkeit ist also Problemlösung mit maximaler Effizienz zu verstehen, deren übergeordnetes Ziel es ist zur Erhaltung des Individuums beizutragen.10

Avenarius versucht im ersten Teil seines Buches zu zeigen, dass sich dieses Stre- ben nach Kraftersparnis im Denken allgemein und in der Philosophie im Besonde- ren nachweisen lässt. Statt Denken, was nach ihm die theoretische Funktion der Seele ausmacht, spricht Avenarius meistens von (theoretischer) Apperzeption, die im Groben einen Vorgang der inhaltlichen Bestimmung (relativ gesehen) unbe- stimmterer Vorstellungen durch andere bereits in klarerer Weise vorliegende Vor- stellungen darstellt.11 Diese Tätigkeit erfordert einen bestimmten, jedoch nach Avenarius nicht quantifizierbaren Kraftaufwand. Da die dem Menschen zur Ver- fügung stehende Kraft (Energie) endlich ist, nötigt uns dies zur Effizienz und Op- timierung unserer Handlungen und Denkakte.12 Dabei helfen uns Avenarius zu- folge sogenannte Unlustreaktionen. Sie lassen uns Abneigung gegenüber unnützer Kraftverschwendung spüren und treiben uns dahin, leicht zu erfassende Ordnun- gen und Strukturen von Vorstellungen zu finden oder zu produzieren, die Kraft sparen.13 Die Beseitigung von Widersprüchen vermindert ebenso Unlust.14 Die Systematisierung von Vorstellungen (z.B. in der Philosophie) vermag auch eine Strategie zur Krafteinsparung zu sein. So lassen sich durch Gewöhnung Rou- tinen und Musterlösungen für theoretische Probleme ausbilden, die die Konzentra- tion auf Wesentliches erlauben und ein gewisses Sicherheitsgefühl vermitteln. Leider führt das Systematisieren aber nicht unbedingt auch zu besserer Einsicht.15 Trotzdem gilt für Avenarius: „Die Gewohnheitsreaktionen sind die leichtesten, daher die Vorliebe der Seele für dieselben.“16 Quasi unmittelbare, unbewusste oder halbbewusste Reaktionen und (habitualisierte oder instinktive) Verhaltens- weisen schonen die Ressourcen des Geistes.

Im ökonomischen Umgang mit Neuem hat sich insbesondere die Zurückführung von Unbekanntem auf Bekanntes bewährt. Die Masse der dafür hinzugezogenen bekannten Vorstellungen ist dabei so weit wie möglich zu reduzieren. Sparsam- keit, Vereinfachung sind die Maximen des theoretischen Denkens, Verständlich- keit das Ziel. Scheitert dieses Verfahren jedoch, so bleibt nur noch „zu vergessen oder zu ignorieren.“17 Die Rückführung von Unbekanntem auf Bekanntes ge- schieht häufig in der Weise des Begreifens18 , d.h. der Bestimmung eines Besonde- ren durch ein Allgemeines, der Unterordnung der aufzufassenden Vorstellung durch einen allgemeineren Begriff. Diese Form der Apperzeption ist nicht nur sparsam, sondern bietet zudem den Mehrwert der Erkenntnis. Begreifen, Gewin- nung von Einsicht stellt deshalb ein über die Entlastung hinausgehendes Kriterium für die Zweckmäßigkeit im theoretischen Denken dar.19

Nun unterscheidet Avenarius die Wissenschaften in solche, die lediglich be- schreibend (deskriptiv) verfahren und solchen, die begreifen und uns das Zustan- dekommen der Phänomene erklären (explanativ). Es stellt sich dann die Frage, ob die Philosophie zu den begreifenden Wissenschaften gehört. Angesichts der be- stehenden Pluralität von Philosophien kann die Frage, historisch gesehen, sicher bejaht werden.20 Und so schließt denn auch Avenarius: wir fänden „in dem Prinzip des kleinsten Kraftmasses wie im Allgemeinen den Grund aller theoretischen Apperceptionen, alles Triebes zu begreifen und aller begreifenden Wissenschaften, so im Besonderen auch die Wurzel der Philosophie.“21

Philosophie als Denken der Welt

Was ist nun die Aufgabe der Philosophie und wo liegen ihre Grenzen ? Da die Phi- losophie nach Avenarius zu den begreifenden Wissenschaften gehört, obliegt ihr die Analyse und Synthese der Erscheinungen durch Begriffe. Folglich ist diese Tätigkeit durch die Reichweite bzw. den Umfang der Begriffe begrenzt.22 Man denke an Wittgenstein: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen mei- ner Welt.“23

Avenarius bestimmt die Philosophie „als das wissenschaftlich gewordene Streben [..], die Gesammtheit des in der Erfahrung Gegebenen mit dem geringsten Kraft- aufwand zu denken.“24 Diese Gesamtheit nennen wir Welt. Dem Titel des Werkes entsprechend ist die Philosophie also das Denken der Welt gem äß dem Prinzip des kleinsten Kraftma ß es. In ihrem Bestreben das Ganze zu erfassen (im Unterschied zu den Einzelwissenschaften)25 gehorcht sie auf äußerste Weise dem Ökonomie- prinzip. Denn durch Zusammenfassung des Gemeinsamen alles Seienden in all- gemeinsten Begriffen, durch Subsumption und Vereinheitlichung werden Kräfte gespart.26 Die Einfachheit bewahrt den Geist vor der Unlust.

Die Methode der Philosophie: Kritik der Erfahrung und Elimination

Das vorwissenschaftliche, naive Denken zeichnet sich Avenarius zufolge dadurch aus, dass in ihm das durch die Gegenstände in der Umwelt des Erfahrenden Gege- bene und das vom perzipierenden Individuum in die Gegenstände Hineingedachte noch ohne Trennung gleichsam verschmolzen im Bewusstsein vorliegen.27 Erst dem wissenschaftlichen Denken, das sich aus ersterem Denken heraus entwickel- te,28 liegt eine Kritik der Erfahrung zugrunde, die das objektiv Gegebene vom subjektiv Konstruierten zu scheiden versucht. Verwissenschaftlichung heißt dann, in einen Prozess einzutreten, der auf die absolute Objektivität der Erkenntnis, auf die reine Erfahrung abzielt.29 Aus dem wissenschaftlichen Denken müssen alle subjektiven Beimischungen und Beeinflussungen ausgeschlossen werden. Damit kommt es dem Anspruch des Sparsamkeitsprinzips nach, denn „vom Denken ei- nes Gegebenen alles das ausschliessen, was es nicht selbst enthält, heisst, nicht mehr Kraft auf sein Denken verwenden, als der Gegenstand selbst erfordert“30. (Nicht kratzen, wo es nicht juckt!)

Das betrifft zum einen die sogenannten timematologischen Apperzeptionen, bei denen es sich letztlich um ethische (gut/schlecht) und ästhetische (schön/hässlich) Urteile handelt. Die individuellen Bewertungen der Gegenstände werden dabei jedoch als wesentliche Eigenschaften den Dingen an sich zugeschrieben.31 An dieser Stelle scheint es starke Parallelen beim frühen Wittgenstein zu geben. Witt- genstein schreibt gegen Ende des Tractatus: „In der Welt ist alles, wie es ist, und geschieht alles, wie es geschieht; es gibt in ihr keinen Wert“32 und darum „kann es auch keine Sätze der Ethik geben.“33 Dasselbe gilt nach Wittgenstein auch für die Ästhetik, denn „Ethik und Ästhetik sind Eins“34.

Bei der anderen, bedeutenderen Gruppe problematischer Verstellungen handelt es sich um die anthropomorphistischen Apperzeptionen. Diese führen die Projektion menschlich-seelischer Merkmale auf die umgebende Natur mit sich und versu- chen sich so die Bewegungen der Dinge begreiflich zu machen.35 Auf eine beson- dere Form dieser Apperzeptionen haben erst Hume und Kant aufmerksam ge- macht: die intellektualformalen. Es sind dies u.a. Substanzialit ä t, Kraft, Notwen- digkeit und Kausalit ä t sowie weitere subjektive Erkenntnisformen (bzw. apriori- sche Verstandesbegriffe). Sie sind „nicht in dem Materialen des wirklich Erfahre- nen mitgegeben oder des wirklich Gegebenen miterfahren, sondern erst durch das Denken des Erfahrenden in dasselbe hineingelegt“36. Es fragt sich, ob eine Erfah- rung ohne Begriffe möglich ist (bloße Anschauung). Avenarius will in diesem Punkt Kant überwinden. Erliegt er hier dem Mythos des Gegebenen (Sellars)? Nach Avenarius sollen „nur solche allgemeine Begriffe zum wissenschaftlichen Begreifen als gültige verwendet werden, deren Inhalt aus der reinen Erfahrung stammt“37. Sind solche Begriffe prinzipiell überhaupt möglich? Diesen und weite- ren Fragen kann im Rahmen dieser kurzen Abhandlung leider nicht in der nötigen Tiefe nachgegangen werden.

Welcher Methoden muss sich die Philosophie bedienen, um zu wahrhafter Ein- sicht über die Welt zu gelangen? Da die Beobachtungsmethoden der Einzelwis- senschaften nicht Sache der Philosophie sind, auch wenn sie „ihre Objekte aus den einzelnen Naturwissenschaften […] zu entnehmen habe“38, muss nach der ihr eigenen Erkenntnisweise Ausschau gehalten werden. Das Schließen von Bekann- tem auf Unbekanntes hat in einer post-metaphysischen Philosophie, wie Avenari- us sie anstrebt, nur seine Berechtigung, wenn dafür von der reinen Erfahrung aus- gegangen wird, da jene als das einzig wahrhaft Bekannte gelten kann. „Diese [die reine Erfahrung] aber ist es, die gar erst noch zu beschaffen bleibt.“39 Die Philo- sophie muss also darauf „verzichten, durch Schlüsse neue Objekte zu schaffen“40 und sich der Spekulation enthalten. Denn zunächst und zuerst ist ihre Aufgabe „Gewinnung der reinen Erfahrung“41 und eben dazu muss sie sich Methoden be- dienen, die ihr zur Reinigung der Erfahrung nützen. Die kritische Analyse der Er- fahrung in Hinsicht auf ihre Zumischungen, wie sie etwa Kant lieferte, ist nur die Vorbereitung für das eigentlich entscheidende Verfahren der Elimination, der Be- seitigung der eruierten Zusätze, die das Gegebene in seiner Reinheit verdecken.42

Ontologie der Empfindungen - Eine neue Metaphysik?

Wie verhalten sich bei Avenarius der Begriff der Erfahrung und der der Wahr- nehmung zueinander? Alles Gegebene ist zwar nur durch die Wahrnehmung ge- geben, aber der Begriff der Erfahrung, den Avenarius ansetzt, ist komplexer und weiter als der der Wahrnehmung. Schließlich bietet die Wahrnehmung immer nur ein Einzelnes, ein Partikulares, das aufgrund seiner Singularität und Perspektivität lückenhaft bzw. mangelhaft ist und der Ergänzung oder Korrektur durch andere Einzelwahrnehmungen bedarf.43 „Dieses System combinirter Wahrnehmungsurt- heile und gültiger Schlüsse zum Zwecke ausreichender und richtiger Beurtheilung der einzelnen Wahrnehmung“44 ist das, was Avenarius Erfahrung nennt und pri- mär auf das Gegebene bezieht. Reine Erfahrung ist demnach ein Geflecht sich gegenseitig bestimmender Wahrnehmungsinhalte.

Unsere menschliche Selbsterfahrung lässt uns als empfindende Wesen erleben. Wird diese Gewissheit mit dem im Ökonomieprinzip angelegten „Bedürfniss, die Gesammtheit alles Seienden mit dem geringsten Kraftaufwand zu denken“45 kombiniert, so würde man dahin gelangen, die Verallgemeinerung vorzunehmen, nach der „die Empfindung zur Eigenschaft der Substanz schlechthin“46 gehörte. Wir können aus der Erfahrung weder wissen, dass andere Wesen Empfindungen haben, noch, dass sie empfindungslos sind. So schreibt Avenarius zunächst in einer gewissen Nähe zu Russell und der panexperientialistischen Prozessphiloso- phie Whiteheads:

„Es ist mir nicht zweifelhaft, dass die naturwissenschaftliche Weltauffas- sung sich im Laufe ihrer Entwickelung zu der Anerkennung der empfin- denden Substanzen oder, in ihrer Sprache, der ‚bewussten Atome‘ wird entschliessen müssen, weil die Unmöglichkeit, die Empfindung aus der unempfindenden Substanz abzuleiten, allmälig […] zum Bewusstsein kommen muss[.]“47

Es soll für das Denken eine Erleichterung sein, wenn es „in der Welt nichts erblickt, als bewegte und bewusste Atome oder als Substanzen, deren Aeusseres durch Bewegung, deren Inneres durch Empfindung bestimmt ist“48. Dies Bewegung ist die Form des Seins, die Empfindung dessen Inhalt. Bewegungsänderung und Empfindungsänderung gehen somit miteinander einher.49

Kurz darauf nimmt er aber die Kritik an dieser spekulativen Weltsicht vorweg, da in ihr „ein der Erfahrung nicht entnommenes Moment enthalten ist […] [und so- mit] auch diese Weltauffassung einer Revision zu unterwerfen“50 ist. Gegenstand dieser „wichtigsten Elimination“51 wird die Substanz selbst sein. Im Substanzden- ken wird das Verhalten der natürlichen Gegenstände „unter der Form menschli- chen Handelns und Habens aufgefasst“52 und muss nach Avenarius einer sprach- philosophischen Kritik unterzogen werden. „[D]ie Wurzel der Substanzvorstel- lung [liegt] in der Sprachentwickelung [..] und nicht im Bereich des ausser uns

Seienden.“53 Die Subjekt-Prädikat-Struktur unserer Sprache kennzeichnet eine ontologische Asymmetrie, der gemäß Eigenschaften in einem Abhängigkeitsver- hältnis zu relativ selbständigen Substanzen (Beharrendem/Zugrundeliegendem) stehen.54 Als „eine psychologisch nothwendige Hülfsfunktion“, die uns die Vor- stellung von Veränderungen ermöglicht, mag der Begriff der Substanz noch eine Berechtigung haben (Einschränkung der Elimination), aber außerhalb des Den- kens dürfen Substanzen nicht als real Existierendes angenommen werden.55 Ähn- lich wie später Carnap und Wittgenstein konstatiert Avenarius, dass in der Ge- schichte der Philosophie ungemein viel Kraft „an die metaphysische Bestimmung einer hypostasirten Hülfsvorstellung, an ein in Wahrheit objektloses Problem“56 (Scheinproblem) verschwendet wurde. Wenn die Substanz wegfällt, dann bleibt nur die Empfindung: „das Seiende wird demnach als Empfindung zu denken sein, welcher nichts Empfindungsloses mehr zu Grunde liegt.“57 Der Dualismus von Bewusstsein und Außenwelt, von Physischem und Psychischem, die „Doppelexis- tenz“58 der Gegenstände als Dinge an sich und Erscheinungen wird in einem Mo- nismus aufgehoben.59 Der Übergang zum nat ü rlichen Weltbegriff60 ist erfolgt.

Literaturverzeichnis

Avenarius, Richard (1876): Philosophie als Denken der Welt gem ä ss dem Princip des kleinsten Kraftmasses. Prolegomena zu einer Kritik der reinen Erfahrung, Leipzig: Fues.

Avenarius, Richard (1888): Kritik der reinen Erfahrung, Leipzig: Fues.

Avenarius, Richard (1891): Der menschliche Weltbegriff, Leipzig: Reisland.

Sommer, Manfred (1985): Husserl und der fr ü he Positivismus, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann.

Wittgenstein, Ludwig 1921 (1999): Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

[...]


1 Die in diesem Abschnitt folgenden biographischen und bibliographischen Angaben sind Sommer (1985), S. 18f. entnommen.

2 Vgl. Avenarius (1876), S. 2.

3 Avenarius (1888), X.

4 Avenarius (1888), V.

5 Man ist geneigt dabei an Heideggers These der Seinsvergessenheit zu denken.

6 Avenarius (1888), VII.

7 Avenarius (1876), III. Als historischen Vorgänger ließe sich Ockham anführen (Rasiermesser).

8 Vgl. Avenarius (1876), S. 47.

9 Avenarius (1876), III.

10 Vgl. Avenarius (1876), S. 1f.

11 Vgl. Avenarius (1876), S. 2. Avenarius (1876), S. 10: „Das Streben zu appercipiren ist nichts als das Streben der Seele nach Kraftersparnis.“

12 Vgl. Avenarius (1876), S. 3.

13 Vgl. Avenarius (1876), S. 3f.

14 Vgl. Avenarius (1876), S. 4. Man könnte auch positive behaupten, dass Erkenntnis und Ordnung Lust vermitteln.

15 Vgl. Avenarius (1876), S. 5-7.

16 Avenarius (1876), S. 7.

17 Avenarius (1876), S. 10.

18 Die andere Form der theoretischen Apperzeption ist für Avenarius das Wiedererkennen. Vgl. Avenarius (1876), S. 14.

19 Vgl. Avenarius (1876), S. 13f.

20 Vgl. Avenarius (1876), S. 16.

21 Avenarius (1876), S. 17.

22 Vgl. Avenarius (1876), S. 18.

23 Wittgenstein 1921 (1999), 5.6.

24 Avenarius (1876), S. 21.

25 Vgl. Avenarius (1876), S. 20. Philosophie ist Metawissenschaft.

26 Vgl. Avenarius (1876), S. 19.

27 Vgl. Avenarius (1876), S. 27.

28 Vgl. Avenarius (1888), VII. Avenarius vertritt eine Kontinuit ä tsthese (2. empiriokritisches Axiom): Die Erkenntnisformen der Wissenschaften stellen nur Ausbildungen vorwissenschaftlicher Erkenntnisweisen dar.

29 Vgl. Avenarius (1876), S. 28.

30 Avenarius (1876), S. 32. Verlangt der Kraftakt der Analyse und Reinigung der Erfahrung zunächst nicht auch ein enormes Maß an Arbeit und Zeit?

31 Vgl. Avenarius (1876), S. 29.

32 Wittgenstein 1921 (1999), 6.41.

33 Wittgenstein 1921 (1999), 6.42.

34 Wittgenstein 1921 (1999), 6.421.

35 Vgl. Avenarius (1876), S. 29.

36 Avenarius (1876), S. 30.

37 Avenarius (1876), S. 32.

38 Vgl. Avenarius (1876), S. 34.

39 Avenarius (1876), S. 35.

40 Avenarius (1876), S. 38.

41 Avenarius (1876), S. 39.

42 Man könnte Avenarius‘ Denken deshalb als post-kantianisch bezeichnen.

43 Vgl. Avenarius (1876), S. 43.

44 Avenarius (1876), S. 44.

45 Avenarius (1876), S. 50.

46 Avenarius (1876), S. 50. Man fragt sich, welche Rolle für diesen Gedanken Avenarius‘ die Beschäftigung mit Spinoza hatte.

47 Avenarius (1876), S. 50. Dem Anschein entgegen vertritt Avenarius aber keinen Atomismus, sondern kritisiert einen solchen vielmehr. Vgl. Avenarius (1876), S. 64.

48 Avenarius (1876), S. 50f. Diese Passage erinnert schon fast an Pierre Teilhard de Chardins Das Herz der Materie.

49 Vgl. Avenarius (1876), S. 60.

50 Avenarius (1876), S. 51.

51 Avenarius (1876), S. 52.

52 Avenarius (1876), S. 52.

53 Avenarius (1876), S. 59.

54 Vgl. Avenarius (1876), S. 52-54.

55 Vgl. Avenarius (1876), S. 56.

56 Avenarius (1876), S. 59.

57 Avenarius (1876), S. 59. Mit dieser Äußerung verpflichtete sich Avenarius Lenins Kritik zufolge auf einen Idealismus und Solipsismus (Avenarius beschrieb sein Spätwerk selbst als Wende zum Realismus). Lenin bestand dagegen auf einen materialistischen Reduktionismus.

58 Avenarius (1876), S. 58.

59 Vgl. Sommer (1985), S. 13.

60 Eingehendere Betrachtungen dazu finden sich in Avenarius (1891).

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Denkökonomie und Metaphysik(-kritik). Der Empiriokritizismus des Richard Avenarius
Autor
Jahr
2014
Seiten
13
Katalognummer
V268390
ISBN (eBook)
9783656593980
Dateigröße
404 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
empiriokritizismus, richard, avenarius, denkökonomie, metaphysik
Arbeit zitieren
Martin Scheidegger (Autor:in), 2014, Denkökonomie und Metaphysik(-kritik). Der Empiriokritizismus des Richard Avenarius, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/268390

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