Am 2. Oktober 1991 hörten zwei bis dato eng miteinander verbundene Institutionen auf zu
existieren. Dabei handelte es sich zum Einen um die Nationale Volksarmee (NVA) und zum
Anderen um das Ministerium für Staatssicherheit (MfS), dessen Aufgabe unter Anderem darin
bestand, die NVA und ihre Angehörigen zu überwachen. Dabei ging es nicht nur um die Abwehr
von Spionagetätigkeiten anderer Geheimdienste, sondern auch um die Überprüfung der Soldaten
hinsichtlich ihrer politischen Zuverlässigkeit. Zur Erfüllung dieser Aufgabe bediente sich die
Hauptabteilung I (HA-I), die zum Ende der 80er Jahre mit ca. 2.000 hauptamtlichen Mitarbeitern zu den personell stärksten Abteilungen des MfS zählte, beispielsweise eines dichten Netzes an inoffiziellen Mitarbeitern (IM). Das Absicherungsverhältnis, die so genannte IM-Dichte, lag im
Idealfall bei ca. 1:20. Auf 20 Soldaten kam demnach ein IM. In strategisch wichtigen Einheiten, wie zum Beispiel im Funk- und Chiffrierdienst, sowie bei den Grenztruppen, war das Absicherungsverhältnis weitaus höher. Die Gründe dafür sind beispielsweise in der Tatsache zu suchen, dass das Chiffrierwesen im Blickfeld ausländischer Geheimdienste lag oder dass sich ein Soldat, der in grenzsichernden Einheiten diente, in prädestinierter Position für eine Fahnenflucht befand.
Die Staatssicherheit misstraute ihrer Natur nach Allem und Jedem. Jede kleinste Normabweichung war operativ bedeutsam und konnte als Widerstand gewertet werden. Dabei ist zu beachten, dass der
Widerstandsbegriff der Staatssicherheit ein Anderer war, als der, welcher in der vorliegenden Arbeit
verwandt werden wird. Die Quellenlage deutet darauf hin, dass aus Sicht des MfS alles als
Widerstand gelten konnte, frei nach dem Prinzip »wer nicht für Uns ist, ist gegen Uns«. So finden sich im Archiv der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes (BStU) tausende Akten über operative Personenkontrollen, in denen die betroffenen Soldaten beispielsweise auf geheimdienstliche Tätigkeiten überprüft wurden, weil sie oder ihre Ehefrauen Kontakt zu Verwandten in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) hatten, denn gemäß der Geheimhaltungsvorschriften der NVA war es den Soldaten untersagt, Westkontakte zu unterhalten. Ob ein solches Verhalten aus der Sicht des Historikers als Widerstand verstanden werden kann, wird – unter anderem- Gegenstand dieser Arbeit sein.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Allgemeines
1.2 Widerstand oder widerstandisches Verhalten? Eine Begriffsdefinition
1.3 Quellenlage
2 Nonkonformitat und Widerstand in den Streitkraften und bei den Bausoldaten
2.1 Formennonkonformen Verhaltens
2.2 Formen der Verweigerung
2.2.1 Arbeits-, Befehls- und Gelobnisverweigerungen bei den Bausoldaten
2.2.2 Befehlsverweigerungen in den Teilstreitkraften
2.3 Formen des Protests
2.3.1 Entpflichtungsgesuche von Berufssoldaten und Austritte aus der SED
2.3.2 Eingaben als Form des Protests
2.3.3 Mundlich- und schriftlich-negative Aufierungen
2.3.4 Unterschiede bei der Aufierung von Protest
2.4 Formen des Widerstands
2.4.1 Fahnenflucht
2.4.2 Die Totalverweigerung als Form des Widerstands
2.5 Die „EK-Bewegung“: ein Sonderfall im Rahmen dieser Untersuchung
2.5.1 Entstehung und Auswirkungen der „EK-Bewegung“
2.5.2 Einordnung der „EK-Bewegung“ im Zuge dieser Untersuchung
3 Resumee
4 Quellen- und Literaturverzeichnis
Quellen
Monographien
Zeitschriften und Sammelwerke
Aufsatze
Zeitschriftenaufsatze
Zeitungsartikel
TV-Sendungen
Internetdokumente
5 Anhang
1 Einleitung
1.1 Allgemeines
Am 2. Oktober 1991 horten zwei bis dato eng miteinander verbundene Institutionen auf zu existieren. Dabei handelte es sich zum Einen um die Nationale Volksarmee (NVA) und zum Anderen um das Ministerium fur Staatssicherheit (MfS), dessen Aufgabe unter Anderem darin bestand, die NVA und ihre Angehorigen zu uberwachen. Dabei ging es nicht nur um die Abwehr von Spionagetatigkeiten anderer Geheimdienste, sondern auch um die Uberprufung der Soldaten hinsichtlich ihrer politischen Zuverlassigkeit. Zur Erfullung dieser Aufgabe bediente sich die Hauptabteilung I (HA-I), die zum Ende der 80er Jahre mit ca. 2.000 hauptamtlichen Mitarbeitern zu den personell starksten Abteilungen des MfS zahlte, beispielsweise eines dichten Netzes an inoffiziellen Mitarbeitern (IM). Das Absicherungsverhaltnis, die so genannte IM-Dichte, lag im Idealfall bei ca. 1:20. Auf 20 Soldaten kam demnach ein IM. In strategisch wichtigen Einheiten, wie zum Beispiel im Funk- und Chiffrierdienst, sowie bei den Grenztruppen, war das Absicherungsverhaltnis weitaus hoher. Die Grunde dafur sind beispielsweise in der Tatsache zu suchen, dass das Chiffrierwesen im Blickfeld auslandischer Geheimdienste lag oder dass sich ein Soldat, der in grenzsichernden Einheiten diente, in pradestinierter Position fur eine Fahnenflucht befand.
Die Staatssicherheit misstraute ihrer Natur nach Allem und Jedem. Jede kleinste Normabweichung war operativ bedeutsam und konnte als Widerstand gewertet werden. Dabei ist zu beachten, dass der Widerstandsbegriff der Staatssicherheit ein Anderer war, als der, welcher in der vorliegenden Arbeit verwandt werden wird. Die Quellenlage deutet darauf hin, dass aus Sicht des MfS alles als Widerstand gelten konnte, frei nach dem Prinzip »wer nicht fur Uns ist, ist gegen Uns«. So finden sich im Archiv der Bundesbeauftragten fur die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) tausende Akten uber operative Personenkontrollen, in denen die betroffenen Soldaten beispielsweise auf geheimdienstliche Tatigkeiten uberpruft wurden, weil sie oder ihre Ehefrauen Kontakt zu Verwandten in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) hatten, denn gemaB der Geheimhaltungsvorschriften der NVA war es den Soldaten untersagt, Westkontakte zu unterhalten. Dass es sie dennoch gab, lag in der Mehrheit der Falle daran, dass verwandtschaftliche Bindungen durch die betreffenden Soldaten hoher bewertet wurden als die Verpflichtungen gegenuber dem Dienstherrn. Ob ein solches Verhalten aus der Sicht des Historikers als Widerstand verstanden werden kann, wird - unter Anderem - Gegenstand dieser Arbeit sein.
Wie jede andere Wehrpflichtigenarmee auch war die NVA ein Spiegelbild der Gesellschaft, aus der sie entsprang. Betrachtet man die Akten des MfS, so fallt auf, dass sich samtliche in der DDR vorhandene politische Stromungen in der NVA nachweisen lassen. Es ist sogar anzunehmen, dass sie die Gesellschaft genauer spiegelte als andere Wehrpflichtigenarmeen, denn sie wies eine Besonderheit auf, die ein Alleinstellungsmerkmal unter diesen war: Mit der Anordnung uber die Aufstellung von Baueinheiten im Bereich des Ministeriums fur Nationale Verteidigung vom 7. September 1964[1] wurde die Moglichkeit eines waffenlosen Dienstes innerhalb der NVA geschaffen. Dieser Dienst wurde von sogenannten Bausoldaten abgeleistet, die zwar nicht an der Waffe ausgebildet wurden, ansonsten jedoch genauso dem militarischen Drill unterworfen waren wie die waffentragenden Soldaten. Erkennbar waren die Bausoldaten aufgrund des goldenen Spatens auf den Schulterstucken, weswegen sie umgangssprachlich auch als „Spatis“ bezeichnet wurden. Ein Rechtsanspruch darauf, den Dienst als Bausoldat zu versehen, bestand nicht. Bausoldaten wurden in der Regel wahrend ihrer Dienstzeit von anderen Wehrpflichtigen separiert und Kontakte zwischen „normalen“ Soldaten und Bausoldaten wurden nach Moglichkeit unterbunden. Die Bausoldaten mussten weiterhin sowohl wahrend, als auch nach ihrer Dienstzeit mit Schikanen rechnen. Ein Dienst als Bausoldat hatte negative Auswirkungen auf die Ausbildungschancen der Betroffenen. Der gewunschte Studienplatz blieb ihnen oft verwehrt. Junge Erwachsene, die sich fur einen Dienst als „Spatensoldat“ entschieden, hatten grofitenteils einen kirchlichen Hintergrund oder kamen aus der Friedens- oder Umweltbewegung. Dem Staat gegenuber waren sie meist negativ eingestellt.
Nonkonformistische oder widerstandige Verhaltensweisen lassen sich jedoch nicht nur unter Bausoldaten nachweisen. Auch in den regularen Einheiten findet man Hinweise darauf, dass nicht alle Soldaten mit den Verhaltnissen in der DDR zufrieden waren. Um jedoch einzuordnen, welche Verhaltensweisen nach wissenschaftlichen Mafistaben als „widerstandisch“ oder „nonkonformistisch“ gelten konnen, beziehungsweise was uberhaupt als Nonkonformitat, Protest, Widerstand etc. bezeichnet werden kann, ist eine nahere Klarung der Begrifflichkeiten erforderlich.
1.2 Widerstand oder widerstandisches Verhalten? Eine Begriffsdefinition
»Die Problematik des Begriffes , Widerstand’ besteht darin, dass er in der Forschung einerseits im weiteren Sinn als Uberbegriff fur ein breites Spektrum von systemnonkonformen Verhaltensweisen und -formen verwendet wird, andererseits aber auch in einem engeren, politischen Sinn, ohne dass sich bisher eine klare begriffliche Trennung zwischen den beiden Definitionen durchgesetzt hat«. [2]
Die hier aufgeworfene Problematik der Begriffsbestimmung trifft auch auf die Forschung in Bezug auf die zweite deutsche Diktatur zu. Auch hier finden sich im Wesentlichen zwei verschiedene Erklarungsansatze, die sich beide mehr oder weniger auf die Erforschung des Widerstands gegen die NS-Herrschaft stutzen und versuchen, die Begrifflichkeiten auf die DDR zu ubertragen. So bezieht sich der Historiker Bernd Stover in seinem Aufsatz zum Leben in Deutschen Diktaturen[3] auf das Peukert'sche Modell der »Formen abweichenden Verhaltens«. Dieses Modell wurde von Detlev Peukert im Jahre 1982 entwickelt[4] und stuft die Reichweite der Systemkritik von partiell zu generell, sowie den Wirkungsraum der Handlung von privat zu staatsbezogen ein.[5] Die Abstufung innerhalb dieser Skala reicht von Nonkonformitat uber Verweigerung bis hin zum Protest und schliefilich zum Widerstand.
Als Widerstand definiert Peukert dabei jene Verhaltensform, in der das NS-Regime als Ganzes abgelehnt wurde und Mafinahmen zur Vorbereitung des Sturzes dieses Regimes im Rahmen der Handlungsmoglichkeiten des jeweils einzelnen Subjektes getroffen wurden.[6] Hier ist jedoch die starke Kontextbezogenheit des Widerstandsbegriffs zu beachten. So kann zum Beispiel bei Weitem nichtjede Fahnenflucht aus der DDR als Widerstandshandlung gewertet werden. Denn manch eine Fahnenflucht erfolgte aus personlichen Motiven, die keinen politischen Hintergrund hatten.
Auch der Begriff des Protests ist stark kontextabhangig. Peukert versteht ihn als eine Form genereller Ablehnung des Regimes, wobei die Handlungen sich meistens gegen Einzelmafinahmen richten. Eine Eingabe an das Politburo der SED kann beispielsweise dann eine Protesthandlung sein, wenn sie sich gegen bestimmte Missstande oder Gesetze, wie zum Beispiel das Gesetz uber die Allgemeine Wehrpflicht, richtet.
Eine mogliche Form der Verweigerung ware im militarischen Kontext die Befehlsverweigerung. Sie richtet sich in der Regel bewusst gegen eine Anordnung des militarischen Vorgesetzten. Auch hier ist der kontextuelle Zusammenhang zu beachten. Denn die Weigerung, einen Befehl auszufuhren, kann auch ein Protest gegen die befohlene Mafinahme sein. So steht beispielsweise die Frage im Raum, ob die Weigerung vieler Bausoldaten, das Gelobnis abzulegen, nicht eher ein Ausdruck des Protests gegen den Wehrdienst an sich war. Fur Peukert stellt sich »[...] beim Versuch, die Motive und Handlungsbedingungen der vielfaltigen Formen unangepassten, widersetzlichen Verhaltens zu verstehen, [...] die Frage, worauf sich eigentlich Menschen oppositionellen Geistes zuruckziehen konnten, ob es Raume gab, aus denen heraus sie Kraft und Bestarkung fur oppositionelle Aktivitaten schopfen konnten«.[7] Dies musste fur die Bausoldaten der NVA geklart werden. Hier ist die Sozialisation der Bausoldaten zu beachten. Sie waren in der Regel Anhanger einer christlichen Religionsgemeinschaft und standen daher der Kirche sehr nahe oder entstammten der Friedensbewegung. Die meisten von ihnen hatten bereits vor dem Wehrdienst eine negative Haltung zum SED-Regime und wurden bereits vor ihrer Einberufung durch Protestaktionen oder Ahnliches auffallig. Dennoch kann an dieser Stelle keine Verallgemeinerung dahingehend erfolgen, dass jede Gelobnisverweigerung eine Protestaktion darstellte. Denn es ist durchaus moglich, dass einzelne Bausoldaten das Gelobnis lediglich aus religiosen Grunden ablehnten. Hierbei ist eine genaue Einzelfallprufung erforderlich, die aufgrund der relativ einseitigen Berichterstattung der Staatssicherheit oftmals schwierig ist.
Bei Akten der Nonkonformitat handelt es sich Peukert zufolge um einzelne Normverletzungen, die nicht das Ganze in Frage stellten. Bezogen auf die NVA ware dies beispielsweise eine Aufrechterhaltung der Kontakte zu Westverwandten oder den Empfang von westdeutschen Rundfunk- und Fernsehsendern, wie zum Beispiel dem RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor), was zumindest bis in die 80er Jahre als nonkonform gelten konnte.[8]
Die Prozesshaftigkeit von Devianz, worunter ein von der sozialen Norm abweichendes Verhalten zu verstehen ist, wurde Stover zufolge in dem Peukert'schen Modell deutlich gemacht. Normabweichendes Verhalten war niemals statisch, sondern entwickelte sich meist aus einer auf den ersten Blick vollig unspektakularen Situation, zum Beispiel einer als ungerecht empfundenen Bestrafung heraus und konnte zu einer generellen Ablehnung des Regimes fuhren.[9] Aufgrund der ahnlichen Funktionsweise beider deutschen Diktaturen geht Stover davon aus, dass sich auch die (widerstandischen) Verhaltensweisen der Bevolkerungen ahnelten.[10] [11]
Einer pragmatischeren Herangehensweise bedient sich der Historiker Bernd Eisenfeld. Er geht in seinem Aufsatz mit dem Titel „Formen widerstandigen Verhaltens in der Nationalen Volksarmee und bei den Grenztruppenu11 davon aus, dass »widerstandiges Verhalten« im Sinne einer ubergeordneten Kategorie verstanden werden musse, die verschiedene Formen politischer Gegnerschaft beinhalte, jedoch ohne sich im Einzelnen auf Begriffe wie Widerstand, Opposition, Dissidenz, Resistenz oder Protest festlegen zu mussen.[12] Eisenfeld zufolge sei die Benutzung dieser Kategorie vor Allem dann von Vorteil, wenn die Motivlage der Betroffenen im Dunkeln liege und daher auf objektive Bewertungen bestimmter Handlungen zuruckgegriffen werden muss.[13] Er geht davon aus, dass widerstandiges Verhalten immer dann vorgelegen habe, wenn
- eine Handlung erfolgte, die sich gegen die offizielle politische Erwartungshaltung richtete und zugleich offentlichen Charakter besafi,
- die Handlung das Normengefuge in Art und Umfang so verletzte, dass die Funktionsfahigkeit des Systems diskreditiert und bedroht wurde, sowie
- die Handlung von den Machthabern selbst als politisch bedrohlich eingestuft und repressiv verfolgt bzw. geahndet wurde.[14]
Diese pragmatische Herangehensweise findet auch bei Rudiger Wenzke Zustimmung. Auch er geht davon aus, dass in Bezug auf die NVA und der damit verbundenen spezifischen Problematik eine zu ausgepragte begriffliche Typologisierung eher hinderlich sei.[15] Dieser Einwand ist durchaus berechtigt. Aus den Quellen des MfS geht die personliche Motivation der Betroffenen oft nicht eindeutig hervor, sodass in diesen Fallen die Gefahr besteht, dass die jeweilige Handlung falsch eingeordnet wird. Dennoch soll in dieser Arbeit untersucht werden, inwieweit sich das Verhalten der Soldaten anhand einer Kategorisierung nach Peukert'schem Vorbild wissenschaftlich einordnen lasst.
Es ist ebenfalls zu prufen, inwieweit sich das Peukert'sche Widerstandsmodell auf die Nationale Volksarmee uberhaupt anwenden lasst. Hierbei ist zu beachten, dass Peukerts Modell sich auf das Individuum als Bestandteil der gesamten Gesellschaft bezieht. Zwar sind die NVA und ihre Soldaten durchaus ein Bestandteil der Gesamtgesellschaft. Jedoch bildete sie, bedingt durch strikte sowjetische Vorgaben hinsichtlich der Gefechtsbereitschaft und der damit verbundenen permanenten Anwesenheit von mindestens 85 Prozent des Personals in den Kasernen, zumindest bei den Mannschaftssoldaten, also den Wehrpflichtigen und bei den Unteroffizieren auf Zeit (UaZ) ein in sich geschlossenes gesellschaftsahnliches Gefuge mit eigenen informellen Hierarchien und Regeln. Die Historiker Christian Thomas Muller[16] und Ralf Gehler[17] haben im Rahmen ihrer Untersuchungen zur „EK-Bewegung“[18] unter Berufung aufErving Goffmans Theorem einer totalen Institution[19] gezeigt, dass die NVA alle Merkmale einer solchen totalen Institution aufwies. Es ist zu prufen, ob Peukerts Widerstandsmodell unter diesen Bedingungen uneingeschrankt zur Anwendung kommen kann.
Methodisch ist diese Arbeit so aufgebaut, dass zunachst einmal die nonkonformen Verhaltensweisen von NVA-Angehorigen dargestellt werden. Diese stellen, was die Haufigkeit angeht, mit Abstand die meisten von der Staatssicherheit festgestellten Sachverhalte dar. Anschliefiend soll anhand konkreter Beispiele gezeigt werden, inwiefern es innerhalb der NVA Akte der Verweigerung, des Protestes und des Widerstands gab und wie sich diese gegeneinander abgrenzen lassen. Ferner soll auch untersucht werden, inwieweit sich beispielsweise Akte des Widerstands im Peukert'schen Sinne anhand der Unterlagen der Staatssicherheit nachweisen lassen. Auf die „EK-Bewegung“, die im Rahmen dieser Untersuchung einen Sonderfall darstellt, wird im letzten Kapitel naher eingegangen.
1.3 Quellenlage
Gestutzt wird diese Arbeit hauptsachlich auf die Unterlagen des Zentralarchivs des Bundesbeauftragten fur die Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der DDR (BStU). Die Akten der BStU sind im Hinblick auf diese Thematik sehr umfangreich und bieten eine ganze Reihe moglicher Interpretationsansatze. In Vorbereitung auf diese Arbeit wurden ca. 20.000 Seiten an Akten der Staatssicherheit als Quellenmaterial gesichtet, davon kamen nach genauerer Auswertung ca. 6.000 Seiten in die engere Auswahl zur Verwendung in dieser Arbeit. Bei den anderen Seiten handelte es sich meist um Kopien gleichen Inhalts, die verschiedenen Empfangern zur Kenntnisnahme zukommen sollten. Den Hauptbestandteil bilden dabei die operativen Personenkontrollen (OPK's) und operativen Vorgange (OV's) und die darauf beruhenden allgemeinen Lageeinschatzungen des MfS zu den jeweils relevanten Erscheinungen innerhalb der NVA. Die Bestande anderer Archive, zum Beispiel des Bundesarchivs, finden ebenfalls Verwendung, soweit sie in der Sekundarliteratur zitiert werden.
Um eine qualifizierte Einordnung vornehmen zu konnen, muss zunachst geklart werden, wie hoch der Wahrheitsgehalt der Quellen ist. Auch hierbei kann die Forschung zur NS-Geschichte hilfreich sein. So erlauben beispielsweise die Akten des Sicherheitsdienstes der SS (SD) Ruckschlusse auf Formen und Umfang von Loyalitat und Illoyalitat der Bevolkerung in einer Diktatur. Diese Dokumente geben aber auch einen Einblick in die Arbeitsweise der politischen Polizei und Geheimdienste in Diktaturen und erlauben somit Ruckschlusse auf die Glaubwurdigkeit ihrer Verschriftlichungen. Zwar wird in der Forschung der Wahrheitsgehalt der Akten nicht ganzlich in Frage gestellt, dennoch hat beispielsweise Heinz Boberach, dessen Arbeiten hier stellvertretend fur viele andere erwahnt seien, festgestellt, dass Berichte geschont wurden[20] oder es zu Ubertreibungen kam, da »im Laufe der Jahre eine Art Zugzwang, immer neue Beanstandungen hervorzubringen,« entstand, »um den angewachsenen Apparat nicht in den Verdacht kommen zu lassen, unnotig geworden zu sein«.[21] Es besteht die Vermutung, dass diese Phanomene auch in den Unterlagen des MfS festzustellen sind.
Bezogen auf das Thema dieser Arbeit besteht die Problematik, dass es sich bei den Hinterlassenschaften des Ministeriums fur Staatssicherheit um eine heterogene Uberlieferung handelt, sodass hierbei keine pauschalen Aufierungen zum Wahrheitsgehalt moglich sind. Das liegt daran, dass hier unterschiedliche Quellenarten vorliegen, welche die Realitat jeweils auf eine besondere, qualitativ unterschiedliche Weise abbilden.[22] Der Aussagewert der jeweiligen Quelle muss also durch spezifische interpretatorische Mafinahmen bestimmt werden.
Von Bedeutung sind in diesem Fall die Berichte der Inoffiziellen Mitarbeiter, auf deren Grundlage die meisten operativen Personenkontrollen (OPK) eingeleitet wurden, die Berichte uber Fahnenflucht und andere Militarstraftaten, Eingaben an das Zentralkomitee (ZK) der SED sowie die Informationen und Lageberichte der Hauptabteilungen I und XX. Den quantitativ grofiten und gleichzeitig problematischsten Quellenbestand bilden die OPK's. Zwar war das MfS stets bemuht, verfalschende Faktoren durch intensive Gegenprufungen auszuschalten,[23] doch ganzlich ausschliefien konnte man diese jedoch nie. So kam es gerade in solchen Berichten haufig zu Ubertreibungen, die nicht zuletzt dem erhohten Geltungsbedurfnis des jeweiligen Inoffiziellen Mitarbeiters (IM's) und der daraus resultierenden Selbstprofilierung geschuldet waren.[24]
Eine moglichst exakte quellenkritische Analyse ist somit aus den genannten Grunden unerlasslich. Wie wichtig sie ist, zeigt beispielhaft der Fall des ehemaligen Stellvertreters des Kommandeurs der 3. Raketenbrigade Martin Ott. In seinem Buch mit dem Titel „Unkontrollierte, verborgene Macht, Die unheilvolle Allianz aus Staatssicherheit (Militarabwehr), Politabteilung und Parteikontrollkommission in der 3. Raketenbrigade der Nationalen Volksarmee“[25] stellt er anhand der OPK „Griff‘,[26] in der er selbst und seine Familie aufgrund eines angeblichen GVS-Verstofies[27] beobachtet wurde, die Arbeitsweise des MfS dar. Zwar fehlt dem Verfasser dieses Buches die wissenschaftliche Distanz zum Gegenstand, was sich durch die vielen Aufierungen der personlichen Befindlichkeiten zeigt. Auch die dargestellten Fakten lassen sich nur anhand der im Buch abgedruckten Quellen nachvollziehen.[28] Dennoch lassen sich aus dem beschriebenen Vorgang Ruckschlusse auf die vom MfS angewandten Methoden der Informationsbeschaffung und Faktengenerierung ziehen. Anders gesagt: Es kann durchaus vorgekommen sein, dass bei besonderen Vorkommnissen aller Art unter Umstanden auch Aufierungen oder Sachverhalte erfunden wurden. Nicht alles, was in den Akten steht, entspricht den tatsachlich vorgefallenen Ereignissen.
Der Historiker Roger Engelmann geht davon aus, dass »ein Standardmotiv, das auch in den im MfS gangigen Berichtsformen zum Tragen kommt, [...] das Bestreben des Berichtenden, die eigene Arbeit in einem guten Licht erscheinen zu lassen« sei.[29] Ihm zufolge ist bei den „Arbeitsberichten“ eine Tendenz zur Beschonigung festzustellen, die haufig auf die Erwartungshaltung des jeweiligen Vorgesetzten zugeschnitten gewesen sei.[30] Es drangt sich also der Verdacht auf, dass es einigen der Berichtenden durchaus darum gegangen sein mag, ihren eigenen Posten zu rechtfertigen oder gegebenenfalls gewisse Privilegien nicht zu verlieren.
Hinzu kommt eine weitere Problematik, die bezogen auf die Inoffiziellen Mitarbeiter NVA- spezifisch war. Da es sich bei der Volksarmee um eine Wehrpflichtigenarmee mit entsprechenden Zu- und Abgangen von Personal handelte, musste ein Grofiteil der IM's aus den Reihen der Wehrpflichtigen des jeweiligen Diensthalbjahres gewonnen werden. Dies fuhrte nicht nur zu einer hoheren Fluktuation unter den „Spitzeln“ als dies in anderen Abteilungen der Fall war. Die Geworbenen waren zudem meist auch noch sehr jung und bezogen auf die geheimdienstliche Tatigkeit, die sie ausfuhren sollten, ziemlich unerfahren. Des Weiteren war, wie sich bei der Auswertung der Unterlagen zeigte, ihre Schulbildung vor allen Dingen in den Anfangsjahren oftmals schlecht, was sich sowohl in der grammatischen als auch inhaltlichen Qualitat der Berichte widerspiegelt.
Was die NVA-bezogene Sekundarliteratur angeht, so bieten die Werke von Rudiger Wenzke, Torsten Diedrich und Christian Thomas Muller einen sehr guten Einstieg in den Themenkreis dieser Arbeit. Ferner zu erwahnen sind die Werke von Matthias Rogg und Hans Ehlert, die in ihren Monographien und Sammlungen ebenfalls sehr gut recherchierte Inhalte zu bestimmten thematischen Problemfeldern, wie zum Beispiel dem Alkoholmissbrauch oder den Erscheinungen der ,,EK- Bewegung“, liefern.
Eine gute Beschreibung der Bausoldatenproblematik bieten die Werke von Bernd Eisenfeld und Peter Schicketanz. Besonders umfangreich ist dabei das Gemeinschaftswerk dieser beiden Autoren mit dem Titel ,,Bausoldaten in der DDR, Die 'Zusammenfuhrung feindlich-negativer Krafte' in der NVA“.[31] Ebenfalls informativ ist in diesem Zusammenhang das Werk von Andreas Pausch zur
Waffendienstverweigerung in der DDR,[32] der einen sehr guten Einblick in die Motivlage und das Leben der Bausoldaten ermoglicht. Dies gilt auch fur die von Stefan Wolter unter dem Titel „Geheime Aufzeichnungen eines Bausoldaten in Prora“[33] herausgegebenen Erinnerungen von Uwe Ruhle, welche in diese Arbeit ebenfalls eingeflossen sind.
2 Nonkonformitat und Widerstand in den Streitkraften und bei den Bausoldaten 2.1 Formen nonkonformen Verhaltens Genau wie das ,,Dritte Reich“ war auch die DDR und damit ihre Armee im Inneren kein einheitlicher machtpolitischer Block. Selbst in der NVA gab es innere Widerspruche, welche die Armeeangehorigen oftmals zwangen, sich mit der Frage zu beschaftigen, ob sie den Anordnungen ihres Dienstherren Folge leisten sollten oder nicht. So standen viele Soldaten vor der Frage, ob sie ihre engsten Verwandten dazu zwingen sollten, Kontakte zur Westverwandtschaft abzubrechen. Die Geheimhaltungsvorschriften der NVA schrieben dies eindeutig vor. Sollte hier nicht doch das Prinzip ,,Blut ist dicker als Wasser“ gelten? Andere Fragen waren im Dienstalltag ebenso von nicht unerheblicher Relevanz, so zum Beispiel, ob der Kamerad, den man gerade beim Horen des RIAS erwischt hatte, gemeldet werden sollte oder nicht. Dies waren Fragen, die im Alltagsleben der NVA- Angehorigen eine Rolle gespielt haben. Im Zusammenhang mit diesen alltaglichen inneren Konflikten soll im folgenden Kapitel der Versuch einer Einordnung der Handlungen der Betroffenen, wie sie in den genannten Unterlagen vorfindbar sind, in das Peukert'sche System versucht werden.
Am haufigsten sind in den untersuchten Akten der BStU Vorkommnisse erwahnt, die gemafi der Peukert'schen Definition als Ausdruck nonkonformen Verhaltens zu werten sind. Wie eingangs bereits erwahnt wurde, geht Peukert davon aus, dass nonkonformes Verhalten in der Regel im privaten Wirkungsraum angesiedelt sei und dass es sich um einzelne Normverletzungen handele, die nicht den Staat als Ganzes, also das herrschende Regime und seine Politik, in Frage stellen wurden. Wo aber hort der staatsbezogene Wirkungsraum auf und wo beginnt der Private? Es ist im Allgemeinen sinnvoll, den Begriff des Wirkungsraumes nicht von einer Ortlichkeit abhangig zu machen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der private Wirkungsraum auf die Privatangelegenheiten des Soldaten bezogen werden kann. Die Reichweite der Systemkritik ist eher gering und damit auf der Peukert'schen Skala[34] nur partiell, wohingegen Handlungen, die im staatsbezogenen Wirkungsraum anzusiedeln sind, eine hohe Reichweite der Systemkritik beinhalten. Diese Handlungen sind als Widerstand zu bewerten.
Konkrete Statistiken zu den im Folgenden dargelegten Fallen gibt es nach derzeitigem Kenntnisstand nicht. Daher liegt auch kein genaues Zahlenmaterial vor und statistische Aussagen konnen hier nur tendenziell getroffen werden. Aufgrund der Haufigkeit, mit denen die hier beschriebenen Verhaltensformen in den hier zur Untersuchung verwandten Unterlagen der Staatssicherheit vorkommen, ergibt sich folgende Gewichtung:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: eigene Untersuchungen des Autors.
Die Aufrechterhaltung von Westkontakten und das Horen westlicher Radioprogramme waren die am haufigsten begangenen Verstofie. »Wie injeder Armee gab es auch in der NVA Vorschriften zum Schutz militarischer Geheimnisse. Grundlegende Bedeutung [hatte] die DV 10/9 uber den Schutz der Staatsgeheimnisse in der NVA [...]«.[36] Grundsatzlich waren Westkontakte von
Armeeangehorigen durch diese Dienstvorschrift untersagt. Darin war auch geregelt, dass insbesondere Berufssoldaten auf alle in ihrem Haushalt lebenden Personen dahingehend Einfluss nehmen sollten, dass diese sich ebenso an die Vorschrift halten.[37] Diese
Geheimhaltungsbestimmungen wurden, folgt man der Argumentation von Wenzke, von vielen Berufskadern der NVA und ihren Angehorigen als Benachteiligung gegenuber der Zivilbevolkerung angesehen.[38] Dem Prinzip »Blut ist dicker als Wasser« folgend, war fur viele Berufssoldaten »die Aufrechterhaltung der familiaren Bande und das Zusammengehorigkeitsgefuhl in der Verwandtschaft wichtiger als alle ideologischen Abgrenzungserklarungen der Partei«.[39] Die Aufnahme und Pflege von Westkontakten durch die Armeeangehorigen war mit einem hohen Risiko verbunden, da deren Aufdeckung durch das MfS in der Regel mit dem Ende der militarischen Karriere verbunden war. So wurde zum Beispiel im Falle eines Leutnants der Grenztruppen die Degradierung zum Unterleutnant bei gleichzeitiger Entlassung aus dem Wehrdienst vorgeschlagen, weil er im August 1986 »anlasslich der Schuleinfuhrung seiner Tochter einen Kontakt in seiner Wohnung mit seiner Grofimutter« aus Marburg an der Lahn organisierte.[40]
Dem ehemaligen Oberst und Stabschef der 3. Raketenbrigade Martin Ott zufolge stellte die Meldepflicht von Westkontakten durch Verwandte ersten Grades ein wesentliches Problem fur die Armeeangehorigen dar: »Wurde die Meldung unterlassen, konnte der Schuss nach hinten losgehen. Erfolgte pflichtgemafi die Meldung, musste auch mit Sanktionen gerechnet werden. Im wahrsten Sinne des Wortes standen sie [die Berufssoldaten] immer zwischen Baum und Borke«.[41] Es war also im Wesentlichen egal, ob diese Kontakte gemeldet wurden oder nicht, beobachtet wurde man in jedem Fall.
Laut Wenzke registrierte das MfS allein fur das Jahr 1975 uber 6.000 Westkontakte und fur 1980 immerhin noch 4.000.[42] Wenzke spricht hier von einem »Nonkonformismus im Interesse der Families der auch bei Offizieren mit Fuhrungsverantwortung zu finden war. So geriet ein Oberstleutnant, der als Leiter AG Haushaltskontrolle im Grenzkommando Mitte tatig war, in das Visier der Staatssicherheit, weil er Kontakte zu seinem in die BRD geflohenen Bruder sowie zu seinen eigenen Schwiegereltern aufrechterhielt.[43] Zusatzlich unterhielt er aufgrund seiner Sammelleidenschaft fur Briefmarken einige Kontakte zu Personen in der Volksrepublik Polen und der CSSR. Dies war fur das MfS ein Grund, den Oberstleutnant auf eine Fluchtabsicht oder mogliche Geheimdiensttatigkeit zu uberprufen. Es bestatigte sich weder das Eine,[44] noch das Andere[45] und die OPK wurde »wegen Nichtbestatigung eingestellt«,[46] sodass es in diesem Fall keine Konsequenzen gab. Dies warjedoch nicht die Regel.
Oftmals wurden die verwandtschaftlichen Beziehungen in den Westen von der Staatssicherheit im Zusammenhang mit anderen Verstofien durchleuchtet. Kam es zu besonderen Vorkommnissen, so galt der Grundsatz, dass »immer ein Verantwortlicher gefunden werden musste, auch wenn die Verursacher des BV [besonderen Vorkommnisses, d. Autor] die alleinigen Schuldigen waren. So wurden getreu dieses Grundsatzes Fakten in den Untersuchungsbericht aufgenommen, die durch den GVS-Verlust[47] uberhaupt nicht beruhrt wurden und im wahrsten Sinne des Wortes „an den Haaren“ herbei gezogen wurden«.[48] Dies konnte unter Umstanden dazu fuhren, dass es seitens des MfS zu Spekulationen daruber kam, ob der Beobachtete oder dessen Familie dienstliche Geheimnisse uber die Verwandten im Westen an gegnerische Geheimdienste abfliefien lassen konnte.
So verstiefi ein Oberst in seiner Funktion als Stabskompaniechef Ruckwartige Dienste (StKChRD) der Militartechnischen Schule in Bad Duben gegen die Geheimhaltungsvorschriften, indem er eine Zivilbeschaftigte mit Schreibarbeiten an geheimen Verschlussdokumenten (MOB-Dokumenten) beauftragte, fur die diese nicht bestatigt und damit nicht berechtigt war.[49] Selbst die Feststellung des IM, dass der Oberst diese Entscheidung »in Erfullung der militarischen Aufgabenstellung traf, da am 19.03.1987 eine Kontrolle der MOB-Reserven [...] durchgefuhrt wurde«[50], hielt die Staatssicherheit nicht davon ab, seinen familiaren Hintergrund nochmals genau zu durchleuchten. Da er bereits im Jahr 1976 operativ hinsichtlich seiner Westkontakte „bearbeitet“ wurde, war dem MfS »bekannt, dass die Angehorigen des [Obersts, d. Autor] intensive Kontakte mit Verwandten in der BRD« hielten[51] und die Ehefrau diese »trotz der abgegebenen Erklarung« aufrecht erhielt.[52] Diese Beziehungen wurden trotz des 1979 erfolgten Vorbeugungsgesprachs durch die Staatssicherheit auch nach dem Tod der Ehefrau durch den Oberst nicht abgebrochen,[53] woraufhin gegen den Oberst ein Beforderungsstopp verhangt wurde.[54] Zwar kann auch in diesem Fall mangels konkreter Aussagen der Betroffenen uber die genauen Grunde fur den Verstofi gegen das Kontaktverbot nur spekuliert werden. Bei genauerer Betrachtung der OPK Sch 8/77[55] lassen sich jedoch Hinweise darauf finden, dass die Aufrechterhaltung der familiaren Bande in den privaten Entscheidungen des Betroffenen der ausschlaggebende Grund war.[56] Da der Berufssoldat seine dienstlichen Pflichten ansonsten scheinbar ohne Beanstandungen erfullte, sind die beiden genannten Verstofie als Formen eines nonkonformen Verhaltens einzustufen.
Die Aufrechterhaltung der familiaren Bande war dem Anschein nach fur viele Soldaten wichtiger als die Dienstvorschriften der NYA. Es ist daher anzunehmen, dass in diesen Fallen seitens der Armeeangehorigen in der Tat nach dem Prinzip ,,Blut ist dicker als Wasser“ verfahren wurde. Um die familiaren Beziehungen nicht aufgeben zu mussen, waren viele Soldaten bereit, dienstliche Nachteile in Kauf zu nehmen. Dies zeigt auch das folgende Fallbeispiel.
In den 70er Jahren traf ein Major am Sterbebett seines Yaters mit seiner im Jahre 1953 in die Bundesrepublik gefluchteten Schwester zusammen. Dieses Zusammentreffen wurde von ihm an seinen Yorgesetzten gemeldet. »Da es der Wunsch des Yaters gewesen war, die Familienbande nicht wieder auseinanderreifien zu lassen, entwickelte sich in den folgenden Jahren jedoch ein Briefwechsel zwischen den Geschwistern von jahrlich zwei bis drei Briefen und Geschenksendungen, die uber Dritte abgewickelt wurden«.[57] Dies entging der Staatssicherheit nicht und so wurden der Major und seine Frau im Sommer 1982 verhaftet.
»Meine Frau und ich -wurden dabei hart unter Druck gesetzt. Man schrie mich an und versuchte mir „klar“ zu machen, dass ich auf dem Boden des Klassenfeindes stehe. Es wurde versucht, mir nachzuweisen, wie weit ich politisch gesunken bin, die Parteiinteressen verraten habe und als Offizier nicht mehr tragbar bin.« [58]
Da sich laut Wenzke der Betroffene innerhalb seiner 31-jahrigen Dienstzeit ansonsten nichts hatte zu Schulden kommen lassen,[59] ist nicht davon auszugehen, dass er mit der Aufrechterhaltung des Westkontaktes das Ziel verfolgte, dem SED-Regime zu schaden. Auch eine Protest- oder Yerweigerungshandlung im Peukert'schen Sinne war dies freilich nicht. Der Yerstofi gegen das Kontaktverbot ist eher als nonkonforme Handlung mit familiarem Charakter zu werten, die zweifelsohne fur den Major schwerwiegende Konsequenzen hatte. So wurde er zum Leutnant degradiert und aus disziplinarischen Grunden aus der NYA entlassen.[60]
Die Yielzahl der Normabweichungen, welche als nonkonforme Yerhaltensweisen gelten konnen, ist erheblich. Nicht immer waren Westkontakte der Grund fur eine intensive Beobachtung. Oftmals handelte es sich nicht um einen einzelnen Yerstofi, sondern es wurde eine ganze Reihe von tatsachlichen oder nachtraglich konstruierten Abweichungen herausgearbeitet. So erregte ein Gefreiter der Grenztruppen die Aufmerksamkeit der Staatssicherheit, weil er im Grenzdienst sowie in der Kaserne verbotener Weise fotografierte. Des Weiteren wurde angefuhrt, dass er im Grenzdienst Westsender hore, Essen in Konservendosen koche und sich zudem angeblich negativ
uber die DDR aufiere.[61] Zwar wurde festgestellt, dass der Gefreite mit den Fotografien »ausschliefilich personliche Interessen im Sinne von Erinnerungsfotos«,[62] verfolgte und auch sonst wurde »keine feindliche Zielstellung fur die Handlungen festgestellt«.[63] Dennoch wurde der Soldat aus den grenzsichernden Einheiten abgezogen.[64] Wenn man der Quelle glauben darf, wurden diese Fotos auch anderen Soldaten gezeigt. Es ist daher anzunehmen, dass es sich tatsachlich um Bilder fur den Privatgebrauch handelte, die wahrscheinlich nicht zum Zweck der Schadigung des Staates gemacht wurden.[65]
Ein weiteres Beispiel fur nonkonformes Verhalten findet sich 1989 im Pionierbaubataillon 12 in Person des Kompaniechefs der 1. Baukompanie. Diesem wurde vorgeworfen, dass es in seiner Einheit gehauft zu Verstofien gegen die militarische Ordnung gekommen sei und er eine mangelhafte personliche Einstellung zur Arbeit mit den Bausoldaten habe.[66] Dies druckte sich laut der Verwaltung 2000, wie die HA I Armee-intern genannt wurde, dadurch aus, dass durch den Kompaniechef keine Kontrolle der Erfullung der im Rahmen der Vorbereitung einer Komplexkontrolle[67] gestellten ,,konkreten Aufgabenstellungen“[68] durchgefuhrt wurden. So wurden zum Beispiel Bilder aus BRD-Zeitschriften angeblich trotz mehrfacher Anordnung nicht aus dem Klub der Kompanie entfernt.[69] Des Weiteren soll er einen hartnackigen Antragssteller auf Ubersiedlung in die BRD zum Verantwortlichen fur den Klub befohlen haben, was er damit begrundet haben soll, dass er »irgend einen Clown [...] verantwortlich machen«[70] musse. Es sei auch am 04.06.1989 dazu gekommen, dass Bausoldaten die Kaserne unerlaubt verliefien. Dies sei ebenfalls auf die mangelnde bzw. oberflachliche Kontrolle der Kompanie durch den Hauptmann zuruckzufuhren.[71] Gleiches gilt fur das gemeinschaftliche Anschauen eines Pornoheftes wahrend einer Besprechung durch die Unterfuhrer der Kompanie.[72]
Weiterhin soll ein Bausoldat dem Kompaniechef Ersatzteile besorgt haben,[73] wodurch dieser in ein Abhangigkeitsverhaltnis zu dem Bausoldaten geraten sei.[74] Auch spiele die politische Arbeit in der
Fuhrungstatigkeit des Hauptmanns keine Rolle.[75]
Aus heutiger Sicht ist es nicht uberprufbar, welcher der Vorwurfe tatsachlich zutraf und welcher vom MfS konstruiert wurde. Es ist wohl kaum davon auszugehen, dass Pornohefte und Fotos aus westlichen Zeitschriften geeignete Mittel fur einen Kampf gegen das DDR-Regime waren. Da es sich bei der Kompanie um eine Bausoldateneinheit handelte und ein Grofiteil der Bausoldaten per se zu den Regimegegnern zahlte, ist es auch nicht verwunderlich, dass ein „hartnackiger Antragssteller“ den Klub leitete. Denn moglicherweise gab es schlichtweg kein anderes Personal fur diese Aufgabe. Ebenso durfte auch dem Hauptmann die Entwicklung der allgemeinen politischen Lage nach der Offnung der Ungarisch-Osterreichischen Grenze im Februar 1989 wohl kaum entgangen sein. Auch wenn nicht davon ausgegangen werden kann, dass der Offizier die spatere Entwicklung vorausgesehen hat, so mag ihm moglicherweise dennoch klar gewesen sein, dass eine ,,politische Arbeit“ mit den in seiner Einheit dienenden ,,feindlich-negativen Kraften“ wohl kaum noch moglich war. Daher steht hier die Frage im Raum, dass seitens des Kompaniechefs das DDR- Regime an sich keineswegs in Frage gestellt wurde,[76] sondern dass er bei der Begehung dieser Disziplinverstofie[77] lediglich den Weg des geringsten Widerstands gehen wollte und demnach moglicherweise aus personlichen Motiven handelte, was einen Akt der Nonkonformitat darstellt.
Ein permanentes Problem innerhalb der NVA bildete der Verstofi gegen das Alkoholverbot, um genauer zu sein gegen den Ministerbefehl Nr. 30 aus dem Jahr 1974.[78] Dieser Erlass, der aufgrund der Tatsache, dass ihn maximal die Halfte der Soldaten befolgten, in der Soldatensprache ,,15/37“ genannt wurde,[79] regelte den Umgang mit Alkohol in der NVA. Gemafi dieses Befehls war es innerhalb der NVA-Liegenschaften verboten, alkoholische Getranke zu sich zu nehmen. Dennoch fanden die Armeeangehorigen immer wieder einen Weg, den ,,Stoff“ in die Kaserne zu schmuggeln und dort zu verstecken. So bediente man sich zum Beispiel speziell praparierter Reservekanister, Besenstiele oder nutzte Lucken in Fassaden und Fahrzeugen.[80] Auch soll es laut Aussagen von Zeitzeugen, die gegenuber dem Autor im Zuge der Recherche zu dieser Arbeit erfolgten, durchaus vorgekommen sein, dass Schnaps als ,,Fertigsuppe“ in Dosen getarnt hineingeschmuggelt wurde.
Auf der Intemetseite „DDR-Zeitzeugen.de“ finden sich zu diesem Thema beispielsweise folgende Eintrage:
»Clevere deponierten das Wasserchen in einige Lebensmittelbuchsen, wenn die Buchsenmaschine zu Hause in einer Fleischerei zuganglich war. Meine Methode und die Methode meiner Kameraden im Zug warprimitiv und erfolgreich. Da ich zufaul war, von zu Hause die Flaschen mitzuschleppen, bin ich in einen Lebensmittelladen am Ostbahnhof gegangen und habe mir 1 Flasche Schnaps in zweieinhalb Flaschen Brauselimonade umfullen lassen. Dort hatte man eine Zange, mit der man die Kronenkorken wieder festmachen konnte. Mit 2 Mark Dienstleistungsgebuhr war das Problem gelost.« [81]
»Zum Alk besorgen habe ich mich freiwillig zum Zahnarzt im nachsten Ort gemeldet. Ich durfte vom Spiefi aus auch Speiseeis aus dem Cafe mit bringen. zu diesem Zweck holte ich mir aus der Kuche eine grofie Thermoskanne (in der ublicherweise Suppe an den Kanten gebracht wurde), entfernte den Einsatz, ging zum Zahnarzt, dann ins Cafe. kaufte aber erst eine Flasche Fusel, stellte sie in die leere Kanne und liefi ein paar Kugeln Eis druber machen. die Cafetante hat das Spiel mitgespielt.
Nach dem Laufschritt (das Eis schmolz rasch ohne Einsatz) in die Kaserne und der Sichtkontrolle beim Spiefi wurde das Eis abgespult und der Schnaps verzehrt.« [82]
Zwar sind die Angaben dieser beiden unbekannten Autoren nicht uberprufbar und daher mit Vorsicht zu behandeln, dennoch zeigen sie, dass dem Erfindungsreichtum keine Grenzen gesetzt waren.
Bekanntlich ist fur junge Leute genau das besonders reizvoll, was verboten ist, gerade wenn das Gefuhl, eingesperrt zu sein, besonders stark ist. Bedenkt man, dass die Soldaten nicht sehr oft Ausgang hatten, so wird klar, dass sie, wenn ihnen dieser gewahrt wurde, einiges „nachholen“ wollten. Genau das fuhrte zu einer ganzen Reihe von Problemen. So kam es im Zuge von Alkoholexzessen immer wieder zu Schlagereien und gewaltsamen Ausschreitungen.[83] Laut einer Analyse des MfS vom 20. Dezember 1983 war bei Angriffen gegen Wachen und Vorgesetzte »ubermafiiger Alkoholgenuss der Tater und dadurch ein Verlust der Selbstkontrolle«[84] im Vorfeld der Begehung dieser Taten charakteristisch. Auch manch vermeintlich oder tatsachlich mundlich- negative Aufierung ist unter Alkoholeinfluss gefallen. So versetzte sich ein Soldat auf Zeit der Volksmarine einem mundlichen Bericht eines IM's vom 8. Oktober 1985 zufolge bewusst mittels Alkohol oder Tabletten in einen Rauschzustand, in dem er dann gewalttatig wurde[85] und aufgrund seiner den Faschismus verherrlichenden Aufierungen auffiel.[86] Im Grenzregiment 33 des Grenzkommandos Mitte ist ein Soldat dem IM „Erich“ aufgefallen, weil er am 28. August 1985 fur eine Storung der Nachtruhe gesorgt hatte, indem er »vollig hclrunkcn im Nebenzimmer auf dem Tisch [...] stand und dort Reden mit faschistischem Inhalt hielt«.[87] Zwar war der Inhalt dieser Reden dem IM nicht bekannt, der Sachverhalt wurde jedoch durch einen weiteren Inoffiziellen Mitarbeiter bestatigt. „Horst“ berichtete, dass durch die im Zimmer anwesenden Soldaten drei Flaschen Alkohol getrunken wurden und der betreffende Soldat Reden hoher Wehrmachtsoffiziere nachgeahmt habe.[88] Die Einordnung als einen unter Alkoholeinfluss begangenen Akt der Nonkonformitat kann in diesem Fall deshalb erfolgen, weil selbst die Staatssicherheit davon ausging, dass »der [Name geschwarzt, d. Autor] keine verfestigte negative politische Grundhaltung« besafi »und er sich uber die Tragweite und den damit verbundenen moglichen negativen Folgen nicht bewusst war«.[89]
Dem Militarhistoriker Matthias Rogg zufolge liefien viele militarische Fuhrer derartigen Alkoholexzessen meist ihren Lauf[90] oder verstiefien selbst gegen das Alkoholverbot, wodurch sie in einigen Fallen erpressbar wurden.[91]
In einer weiteren Einschatzung zum Erscheinungsbild von Storungen der sozialistischen Beziehungen[92] innerhalb der NVA vom August 1987[93] ist die Staatssicherheit zu dem Ergebnis gekommen, dass es unter Anderem zu »Alkoholkonsum im Ausmafi, das [sic!] die Einsatzbereitschaft ganzer Bereiche [beeintrachtigen konnte]«, kam.[94] Hierbei muss bedacht werden, dass die NVA aufgrund sowjetischer Vorgaben einer standig hohen Gefechtsbereitschaft unterlag, was bedeutete, dass 85 Prozent des Personalbestands permanent in der Kaserne anwesend sein musste. So geht der Historiker Christian Th. Muller zurecht davon aus, dass sowohl »die ubertriebene Anwesenheitspflicht in den Kasernen« als auch »die Willkur einer Reihe von Vorgesetzten« bei der Gewahrung von Urlaub und die damit verbundene Frustration wesentlich zum exzessiven Konsum alkoholischer Getranke beigetragen haben.[95] Die Motivation dafur musste demnach in den meisten Fallen in der Tristesse des Armeealltags zu suchen sein, dem die Soldaten entfliehen wollten. Dieses Phanomen durfte in ahnlicher Form in allen Armeen der Welt vorgekommen sein und ist nicht NVA-spezifisch. Vielmehr ist anzunehmen, dass der ausufernde
Alkoholkonsum deswegen zu einem Spezifikum wurde, weil die Fuhrung dieses Problem dazu gemacht hat. Dass Alkohol bewusst konsumiert wurde, um dem politischen System zu schaden oder um gegen Selbiges zu protestieren, lasst sich den Quellen nicht entnehmen. Aus diesem Grund wurden derartige Vorkommnisse im Rahmen dieser Untersuchung als nonkonformes Verhalten eingestuft. Dennoch hatte eine alkoholbedingt eingeschrankte Einsatzbereitschaft militarischer Einheiten im Verteidigungsfall, so unwahrscheinlich es auch war, dass dieser plotzlich eintrat, uberaus negative Folgen fur das SED-Regime haben konnen. Genau deshalb wurden diese Erscheinungen, die wahrscheinlich in allen Armeen der Welt zu finden sind, von der Staatssicherheit zum Politikum gemacht. Hierin liegt in Bezug auf die Fragen der Nonkonformitat das Spezifikum der NVA. Bezugnehmend auf das NS-Regime beschreibt Peukert dieses Phanomen folgendermafien:
»Viele dieser geschilderten alltaglichen Verhaltensformen sind [...] im landlaufigen Sinne unpolitisch. In den meisten anderen Gesellschaften sind sie erlaubt oder zumindest so lange geduldet, wie sie sich in der Privatsphare vollziehen. Erst der Zugrijf des NS-Regimes veranderte objektiv ihre Bedeutung. [...] Selbst wenn man subjektiv sein Verhalten als unpolitisch begriff und so vor etwaigen [...] Sanktionen [des Regimes, d. Autor] zu rechtfertigen suchte, so geriet es dennoch objektiv nicht selten in die Anspruchsbereiche des Regimes.« [96]
Wie bereits erwahnt wurde, ist davon auszugehen, dass sich die Funktionsweisen beider deutscher Diktaturen und damit die jeweiligen widerstandischen Verhaltensweisen ahnelten.[97] Daher ist Peukerts Annahme, dass bei alltaglichen unpolitischen Verhaltensformen erst der Zugriff des Regimes ihre Bedeutung veranderte, auf die DDR ubertragbar.
In den meisten hier beschriebenen Fallen ist vom subjektiven Standpunkt des jeweiligen Armeeangehorigen der NVA nicht von einer politischen Motivation auszugehen. Vielmehr wurden die von den Soldaten begangenen Normabweichungen erst durch den Zugriff des Staates zu einem Politikum. Peukert geht davon aus, dass das NS-Regime in vielen Fallen den Menschen keine andere Wahl liefi, als von der Nonkonformitat uber die Verweigerung bis hin zum Widerstand voranzuschreiten:[98] »Gerade die Erfahrung mit den Eingriffen des Regimes trieb also Personen, die oftmals nur vorsichtig abweichende Handlungen artikuliert hatten, im Laufe des Konfliktes in eine entschiedenere Gegnerschaft«.[99]
Es ist davon auszugehen, dass dieser Mechanismus selbst innerhalb der Streitkrafte funktionierte.
Wenn einem Menschen die Karriere genommen oder er in seinem Fortkommen durch den Staat und seine Organe massiv behindert wurde, weil er aus seiner Perspektive lediglich einen kleinen Regelverstofi ohne politische Intention begangen hatte, so ist es nicht verwunderlich, dass sich bei dem Betroffenen eine negative Einstellung bis hin zur aktiven Gegnerschaft entwickeln kann. Was Peukert in Bezug auf das NS-Regime formuliert hat, ist auch auf die zweite deutsche Diktatur ubertragbar.
2.2 Formen der Verweigerung
Folgt man der Argumentation Peukerts weiter, so wurden Akte blofier Nonkonformitat dann um einen Grad genereller und damit politisch gegen das Regime gerichtet, wenn sie nicht nur gegen festgelegte Normen verstiefien, sondern sich direkten Anordnungen widersetzen.[100] Im vorliegenden Fall waren dies beispielsweise Dienstvorschriften. Im Armeealltag handelte es sich bei direkten Anordnungen meist um mundliche oder schriftliche Befehle von Vorgesetzten, deren bewusste Nichtbefolgung in der Regel Sanktionen nach sich zogen. Je nach Schwere des Verstofies konnte ein Soldat unter anderem mit Arrest, Degradierung, unehrenhafter Entlassung bei Berufssoldaten oder Dienst in der Disziplinareinheit bestraft werden. Letzteres war die am meisten gefurchtete Sanktion. Die Drohung, dass man in die Militarstrafvollzugsanstalt Schwedt/Oder kommen konne, schwebte stets wie ein Damoklesschwert uber den Soldaten.
Selbstverstandlich kommt es auch in diesen Fallen auf den kontextuellen Bezug an. Nicht jede Befehls- oder Arbeitsverweigerung ist auch als Verweigerungshandlung im Peukert'schen Sinn einzustufen. Dies ware zum Beispiel dann der Fall, wenn die Ausfuhrung eines Befehls eine unmittelbare Gefahr fur Leib und Leben bedeutete. So finden sich in den Akten der BStU immer wieder Eintrage, wie beispielsweise Eingaben, die darauf hindeuten, dass Bausoldaten die Arbeit verweigerten, weil in eklatanter Weise gegen die Arbeitsschutzbestimmungen verstofien wurde, z.B. wenn die technischen Anlagen marode waren und trotzdem der Befehl zur Arbeit mit diesen Anlagen erteilt wurde.[101]
2.2.1 Arbeits-, Befehls- und Gelobnisverweigerungen bei den Bausoldaten
Befehlsverweigerungen waren unter Bausoldaten nicht unublich. Der Historiker Stefan Wolter geht davon aus, dass die meisten Waffendienstverweigerer sich bereits bei ihrer Einberufung schworen, ihren Widerwillen zu zeigen und Befehle nur auf aufiersten Druck hin zu befolgen.[102] Wenn man
[...]
[1] Siehe Gesetzblatt der DDR Teil I Nr. 11 vom 16. September 1964 (Ausgabetag), S. 129.
[2] Siehe Universitat Bielefeld, unbek. Autor: http://www.uni-bielefeld.de/Universitaet/Einrichtungen/Zentrale %20Institute/IWT/FWG/Frauenwiderstand/Widerstandsbegriff.html, Stand 27.01.2013.
[3] Vgl. Stover, Bernd: ,,Leben in Deutschen Diktaturen - Historiographische und methodologische Aspekte der Erforschung von Widerstand und Opposition im Dritten Reich und in der DDR“, in: Pollak, Detlef; Rink, Dieter: ,,Zwischen Verweigerung und Opposition - politischer Protest in der DDR 1970 - 1989“. Campus-Verlag. Frankfurt a.M./NewYork 1997, S. 35.
[4] Siehe dazu: Peukert, Detlev: ,,Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde - Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter demNationalsozialismus“, Bund-Verlag, Koln 1982, S. 94-99.
[5] Eine grafische Darstellung des Peukert'schen Modells ist im Anhang dieser Arbeit unter der Abbildung 1 zu finden.
[6] Siehe Peukert, Volksgenossen, S. 97f.
[7] Siehe Peukert, Volksgenossen, S. 98f.
[8] Zwar gab es das Verbot des Empfangs von Westsendern in den Dienstvorschriften der NVA auch in den 80er Jahren, die Tatsache, dass ein Grofiteil der Soldaten sich daranjedoch nicht hielt, wurde jedoch als gegeben angesehen.
[9] Vgl. Stover, Diktaturen, S. 36.
[10] Ebd.
[11] Eisenfeld, Bernd: ,,Formen widerstandigen Verhaltens in der Nationalen Volksarmee und bei den Grenztruppen“ In: Neubert, Erhard; Eisenfeld, Bernd: ,,Macht, Ohnmacht, Gegenmacht - Grundfragen zur politischen Gegnerschaft in der DDR“, Ed. Temmen, Bremen 2001, S. 231-266.
[12] Eisenfeld, Bernd: ,,Formen widerstandigen Verhaltens in der Nationalen Volksarmee und bei den Grenztruppen“ In: Neubert, Erhard; Eisenfeld, Bernd: ,,Macht, Ohnmacht, Gegenmacht - Grundfragen zur politischen Gegnerschaft in der DDR“, Ed. Temmen, Bremen 2001, S. 238.
[13] Ebd.
[14] Ebd.
[15] Vgl. Wenzke, Rudiger: ,,Widerstandiges Verhalten und Repression im DDR-Militar“ In: ders., ,,Staatsfeinde in Uniform? - Widerstandiges Verhalten und politische Verfolgung in der NVA“, Ch- Links-Verlag, Berlin 2005, S. 7f.
[16] Siehe dazu: Muller, Christian Th.: „Tausend Tage bei der »Asche«, Unteroffiziere in der NVA: Untersuchungen zu Alltag und Binnenstruktur einer "sozialistischen" Armee“, Ch. Links-Verlag, Berlin 2003, auch Ders. „ Die »EK-Bewegung« in den Kasernen der NVA“ In: Ehlert, Hans; Rogg, Matthias: „Militar, Staat und Gesellschaft in der DDR, Forschungsfelder, Ergebnisse, Perspektiven“ Ch. Links-Verlag, Berlin2004 S. 559-58.
[17] Gehler, Ralf: „EK, EK, EK - bald bist du nicht mehr da! Soldatenkultur in der Nationalen Volksarmee“, Schriftenreihe des Museums Hagenow, Heft 5, Hagenow 1998.
[18] EK steht dabei fur Entlassungskandidat, also Wehrpflichtige im dritten und UaZ im sechsten Diensthalbjahr.
[19] Laut Goffman handelt es sich bei der totalen Institution um eine Wohn- und Arbeitsstatte einer Vielzahl ahnlich gestellter Individuen, die fur langere Zeit von der ubrigen Gesellschaft abgeschnitten sind und miteinander ein abgeschlossenens, formal reglementiertes Leben fuhren. Siehe dazu: Goffman, Erving: „Asyle. Uber die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen“, edition Suhrkamp, 1. Aufl., Frankfurt a. M. 1973, S.11.
[20] Siehe Boberach, Heinz (HG): ,,Meldungen aus dem Reich 1938- 1945, Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS, Herausgegeben und eingeleitet von Heinz Boberach, Band 1: Einfuhrung chronologische Inhaltsubersicht und systematische Ubersicht der behandelten Themen“, Pawlak-Verlag, Hersching 1984, S. 24.
[21] Siehe Boberach: Meldungen, S. 33. Zwar bezog sich die Aussage aufBerichte aus der Wirtschaft,jedoch ist davon auszugehen, dass ahnliches auch in anderen Abteilungen des SD vorgekommen ist.
[22] Vgl. Engelmann, Roger: ,,Zum Quellenwert der Unterlagen des Ministeriums fur Staatssicherheit“, In: Henke, Klaus-Dietmar; Engelmann, Roger (Hrsg.): ,,Aktenlage, Die Bedeutung derUnterlagen des Staatssicherheitsdienstes fur die Zeitgeschichtsforschung“, Ch- Links-Verlag, Berlin 1995, S. 23-39, hier S. 23.
[23] Das MfS fuhrte eine eigene Quellenkritik durch, die methodisch den in der Geschichtsforschung angewandten Praktiken ahnelt.
[24] Vgl. Kneipp, Danuta: ,,Im Abseits, Berufliche Diskriminierung und politische Dissidenz in der Honecker-Ara“, Bohlau-Verlag, Koln, Weimar, Wien 2009, S. 29.
[25] Ott, Martin; ,,Unkontrollierte, verborgene Macht, Die unheilvolle Allianz aus Staatssicherheit (Militarabwehr), Politabteilung und Parteikontrollkommission in der 3. Raketenbrigade der Nationalen Volksarmee“, Projekte-Verlag Cornelius, Halle 2008.
[26] Siehe Ott: verborgene Macht, S. 106-180.
[27] Die Abkurzung GVS steht fur Geheime Verschlussache, also furjene Dokumente, die nur durch bestimmte, von der Staatssicherheit uberprufte und bevollmachtigte Offiziere eingesehen werden durften.
[28] Dem Verfasser dieser Arbeit liegen die Originalakten zur OPK „Griff ‘ leider nicht vor, es kann und soll daher auch nicht Bestandteil dieser Arbeit sein, die Aussagen Otts zu negieren oder zu verifizieren.
[29] Siehe Engelmann, Roger: ,,Zu Struktur, Charakter und Bedeutung der Unterlagen des Ministeriums fur Staatssicherheit“, Berlin 1994, S. 16.
[30] Vgl. ebd.
[31] Eisenfeld, Bernd; Schicketanz, Peter: ,,Bausoldaten in der DDR, Die" Zusammenfuhrung feindlich-negativer
Krafte"in der NVA“, Berlin, Ch. Links-Verlag 2011.
[32] Pausch, Andreas: ,,Waffendienstverweigerung in der DDR, das einzig mogliche und vor dem Volk vertretbare Zugestandnis“, Leipzig 2004.
[33] Wolter, Stefan (Hrsg.): ,,Geheime Aufzeichnungen eines Bausoldaten in Prora Courage in der Kaserne, der heutigen Jugendherberge“, Projekte-Verlag Cornelius, Halle 2011.
[34] Siehe Anhang, Abb. 1.
[35] Die Abkurzung VVS steht fur ,,Vertrauliche Verschlusssache“, also furjene Dokumente, die nur einem bestimmten Personenkreis zuganglich sein sollten. Einen VVS-Verstofi hat ein Offizier beispielsweise dann begangen, wenn er ein Dokument von einer nicht dazu berechtigten Sekretarin abtippen liefi.
[36] Siehe dazu: Wenzke, Staatsfeinde, S. 263
[37] Vgl. ebd.
[38] Vgl. Wenzke, Staatsfeinde, S. 263.
[39] Ebd.
[40] Siehe BStU, MfS, HA I, Nr. 40, Bl. 82+83, Ob die Strafe letztendlichvollstrecktwurde, erschliefit sich aus der Akte nicht. Sicher scheintjedoch zu sein, dass der Kontakt zur Oma nicht, wie in der Dienstvorschrift (DV) 010/0/09 vorgesehen, den Vorgesetzten gemeldet wurde; denn aus dem Fernschreiben geht hervor, dass dieses Zusammentreffen dem IM ,,Frank Lehmann“ erst im Februar 1987 bekannt wurde.
[41] Siehe Ott, verborgene Macht, S.56.
[42] Siehe Wenzke, Staatsfeinde, S. 264, Anm. 62.
[43] Siehe OPK „Mauritius“, BStU, MfS, HA I, 15102 Bl. 843-878.
[44] Ebd., Bl. 875.
[45] Ebd., Bl. 878.
[46] Ebd.
[47] Ott bezieht sich hier auf die OPK „Greifdie ihn selbst betraf. Dabei ging es um eine fehlerhafte Nachweisfuhrung fur die Vernichtung von Geheimen Verschlusssachen. Dieser konkrete Vorwurf sei hier nur als Beispiel genannt.
[48] Siehe Ott, Verborgene Macht, S. 112.
[49] Siehe BStU, MfS, HA I, Nr. 40 Bl. 94.
[50] Siehe BStU, MfS, HA I, Nr. 40 Bl. 95.
[51] Es war auch bekannt, dass sein Schwager nach der Flucht aus der DDR angeblich fur den CIA arbeitete. Siehe dazu BStU, MfS, HA I, Nr. 40 Bl. 140.
[52] Siehe BStU, MfS, HAI, Nr. 40 Bl. 157.
[53] Siehe BStU, MfS, HAI, Nr. 40 Bl. 158 + 159.
[54] Ebd.
[55] Siehe BStU, MfS, HAI, Nr. 40 Bl 97-145.
[56] So lehnte der Betroffene beispielsweise einen langeren Aufenthalt in der UDSSR ab, da er dann von seiner Frau getrennt leben musste, Siehe Bl. 139.
[57] Siehe Wenzke, Staatsfeinde, S. 265.
[58] Siehe Eingabe von Dieter B. an den Minister fur Justiz vom 30.01.1990, zitiert nach Wenzke, Staatsfeinde, S. 266.
[59] Ygl. Wenzke, Staatsfeinde, S. 266.
[60] Siehe ebd.
[61] Siehe BStU, MfS, HA I, Nr. 42, Bl. 686-701.
[62] Siehe BStU, MfS, HA I, Nr. 42, Bl. 701.
[63] Ebd.
[64] Siehe BStU, MfS, HA I, Nr. 42, Bl. 692+694.
[65] Diese Information ist zwar schwierig zu prufen, da es keine andere Quelle dazu gibt,jedoch ist davon auszugehen, dass solche Erinnerungsfotos von vielen Soldaten gemacht wurden.
[66] Siehe BStU, MfS, HA I, Nr. 14132 Bl. 917.
[67] Ebd, diese Kontrolle sollte durch die Verwaltung Pionierwesen durchgefuhrt werden.
[68] Ebd, Diese Aufgaben sind in den Unterlagen nicht klar benannt.
[69] Siehe BStU, MfS, HA I, Nr. 14132 Bl. 918, Angaben zu diesen Sachverhalten erfolgen unter Vorbehalt, da diese nicht uberprufbar sind.
[70] Ebd.
[71] Siehe BStU, MfS, HA I, Nr. 14132 Bl. 918 + 919.
[72] Ebd.
[73] Siehe BStU, MfS, HA I, Nr. 14132 Bl. 920.
[74] Siehe BStU, MfS, HA I, Nr. 14132 Bl. 921.
[75] Siehe BStU, MfS, HA I, Nr. 14132 Bl. 922.
[76] Auch scheint es sich in diesem Fall bezogen auf den Kompaniechef nicht um Protest- und Verweigerungshandlungen im Peukert'schen Sinne zu handeln.
[77] Sofern sie wirklich so begangen wurden, wie die Akte es beschreibt.
[78] Befehl des Ministers fur Nationale Verteidigung Nr. 30/74. Abgedruckt in: Rogg, Matthias: ,,Armee des Volkes? Militar und Gesellschaft in der DDR“. Ch. Links-Verlag, Berlin 2008, S. 354.
[79] Siehe dazu: Rogg, Matthias: ,,Armee des Volkes? Militar und Gesellschaft in der DDR“, Ch. Links-Verlag, Berlin 2008 S. 352.
[80] Vgl., Rogg, Armee des Volkes, S. 359.
[81] Siehehttp://www.ddr-zeitzeugen.de/html/alkohol.html, Autorunbekannt, Stand 19.03.2013.
[82] Siehe http://www.ddr-zeitzeugen.de/html/wie_ich_alkohol_besorgte.html, Stand 19.03.2013. Die Rechtschreibfehler entstammen dem Originaltext.
[83] Ebd.
[84] Analyse uber das Erscheinungsbild und Entwicklungstendenzen der Angriffe auf die sozialistischen Beziehungen in militarischen Kollektiven und ihre Folgen, BStU, MfS, HA I, Nr. 15415, Bl. 240-251, hier Bl. 245. Siehe dazu auch: Rogg; Armee des Volkes, S. 359f.
[85] Siehe BStU, MfS, HA I, Nr. 15801 Teil 2/2 Bl. 398.
[86] Siehe BStU, MfS, HA I, Nr. 15801 Teil 2/2, Bl. 399.
[87] Siehe BStU, MfS, HA I, Nr. 15801 Teil 2/2, Bl. 665.
[88] Vgl. BStU, MfS, HA I, Nr. 15801 Teil 2/2 Bl. 666.
[89] Siehe BStU, MfS, HA I, Nr. 15801 Teil 2/2 Bl. 671.
[90] Vgl. Rogg, Armee des Volkes, S. 360.
[91] Ebd.
[92] Unter dieser Bezeichnung verstand man meist die Umtriebe der so genannten „EK-Bewegung“, auf die in einem gesonderten Kapitel dieser Arbeit eingegangen wird.
[93] Einschatzung zum aktuellen Erscheinungsbild von Storungen der sozialistischen Beziehungen unter Soldaten und unter Unteroffizieren in der NVA und den GT/DDR vom 12. August 1987, BStU, MfS, HA I, Nr. 15415, Bl. 265272.
[94] Siehe BStU, MfS, HA I, Nr. 15415, Bl. 266.
[95] Siehe Muller, Tausend Tage bei der Asche, S. 307.
[96] Siehe Peukert, Volksgenossen, S. 98.
[97] Siehe dazu Stover, Diktaturen, S. 36.
[98] Ebd.
[99] Ebd.
[100] Vgl. Peukert, Volksgenossen, S. 97.
[101] Siehe z. B. BStU, MfS, HAXX/4, Nr. 91, Bl.4+5.
[102] Vgl. Wolter, Stefan (HG): ,,Geheime Aufzeichnungen eines Bausoldaten in Prora, Courage in der Kaserne, der heutigen Jugendherberge“, Projekte-Verlag, Halle 2011, S. 31.
- Arbeit zitieren
- Michael Breska (Autor:in), 2013, Das Verhalten Angehöriger der Nationalen Volksarmee (NVA) im Spiegel des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/268408