Leseprobe
Gliederung
1. Das dialektische Verhältnis von Geschichte und Gegenwart
2. Das "Theater des wissenschaftlichen Zeitalters"
2.1. Kritik des aristotelischen Einfühlungstheaters
2.2. Konzeption des epischen Theaters
3. "Leben des Galilei": Zur Struktur des Stückes
3.1. Strukturelemente des traditionellen Dramas
3.2. Strukturmerkmale des epischen Verfremdungstheaters
4. "Leben des Galilei" als Drama des episch-dialektischen Theaters
4.1. Zum Begriff "dialektisches Theater"
4.2. Dialektik als Strukturprinzip
4.3. Galilei als dialektische Figur
4.4. Dialektik der Sprach- und Stilebenen
4.5. Dialektik des sozialen "Gestus"
4.6. Dialektik der Motive
Das Motiv der Milch
Das Motiv der Maskierung
Das Motiv des Sehens
5. Zusammenfassende Schlussbemerkung
1. Das dialektische Verhältnis von Geschichte und Gegenwart
"Leben des Galilei" gehört zu den am meisten inszenierten und aufgeführten Dramen Bertolt Brechts. Ein wesentlicher Grund dafür dürfte in der anhaltenden Aktualität der im Stück behandelten Probleme zu finden sein, insbesondere die Verantwortung des Wissenschaftlers gegenüber der menschlichen Gesellschaft. Angesichts der ständig wachsenden Bedrohung durch moderne Massenvernichtungswaffen stellt sich die Frage nach den Grenzen des wissenschaftlichen Fortschritts und der hemmungslosen Weiterverbreitung zerstörerischer Waffensysteme. Aus diesem Blickwinkel heraus könnte man Brechts Drama als Beispieltext einer verhängnisvollen historischen Entwicklung lesen, die im 17. Jahrhundert ihren Anfang nahm und bis heute nichts von ihrer Brisanz verloren hat. Mit einer solchen verengenden Betrachtungsweise würde man jedoch der Bedeutungsvielfalt des Stückes in keiner Weise gerecht werden. Es erscheint sinnvoll, sich zunächst Brechts Auseinandersetzung mit dem Galilei-Stoff zuzuwenden, um auf diesem Hintergrund die Frage aufzuwerfen, wie er die komplexe Thematik des Stückes auf die Bühne bringt.
Nachdem er sich schon Anfang der Dreißiger Jahre für den Stoff interessiert hatte, begann Brecht 1938 im dänischen Exil an seinem Galilei-Projekt zu arbeiten. Damals beschäftigte ihn die Frage, wie er sich angesichts der politischen Verhältnisse im nationalsozialistischen
Deutschland als Dramenautor für den gesellschaftlichen Fortschritt einsetzen könne. Mit dieser Frage hatte er sich schon 1934 in seinem Essay "Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit" auseinandergesetzt. Diese aufschlussreiche Schrift kann als Programm und Leitfaden seiner literarischen Arbeit angesehen werden. Sie erörtert Möglichkeiten, wie die Wahrheit unter den Bedingungen eines faschistischen Staates vor den Machthabern versteckt und weiterverbreitet werden kann:
Wer heute die Lüge und Unwissenheit bekämpfen und die Wahrheit schreiben will, hat zumindest fünf Schwierigkeiten zu überwinden. Er muß den Mut haben, die Wahrheit zu schreiben, obwohl sie allenthalben unterdrückt wird; die Klugheit, sie zu erkennen, obwohl sie allenthalben verhüllt wird; die Kunst, sie handhabbar zu machen als eine Waffe; das Urteil, jene auszuwählen, in deren Händen sie wirksam wird; die List, sie unter diesen zu verbreiten. (GBA 22, 74)
Für die erste Fassung des Galilei-Dramas , die sogenannte "dänische Fassung", mit dem Titel "Die Erde bewegt sich" (1938/39) spielt die Bedrohung durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt keine entscheidende Rolle. Hier geht es vor allem um das Problem, wie in einer Gesellschaft, deren Verhältnisse vom Machtanspruch staatlicher und kirchlicher Obrigkeiten bestimmt werden, der Wahrheit zum Durchbruch verholfen werden kann. Erst als ihm die Gefahren der Kernspaltung durch die Arbeiten des Physikers Otto Hahn zu Bewusstsein gekommen waren (d. h. nach der Fertigstellung der "dänischen Fassung"), und vor allem nach dem amerikanischen Atombombenabwurf auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki am 6. bzw. 9. August 1945, gewannen die Folgeprobleme unbegrenzten wissenschaftlichen Fortschritts für Bertolt Brecht zunehmend an Bedeutung. Dadurch nahm er zum Stoff eine völlig veränderte Einstellung ein:
Von heute auf morgen las sich die Biographie des Begründers der neuen Physik anders. Der infernalische Effekt der Großen Bombe stellte den Konflikt des Galilei mit der Obrigkeit seiner Zeit in ein neues, schärferes Licht. (GBA 24, 241)
Die verheerenden Auswirkungen der "Großen Bombe" beeinflussten Brecht stark bei der in Zusammenarbeit mit Charles Laughton in Santa Monica 1944 bis 1947 entstandenen sogenannten "amerikanischen Fassung", die die Grundlage der endgültigen "Berliner Fassung" (1955/1956) bildet, auf die sich dieser Aufsatz bezieht. [1] Diese veränderte Sichtweise schlägt sich deutlich in der 14. Szene des Dramas nieder, wo der Autor seinen Protagonisten resignierend voraussagen lässt, dass die zukünftigen Naturwissenschaftler zu einem "Geschlecht erfinderischer Zwerge" degenerieren würden, "die für alles gemietet werden können." (GBA 5, 284) Und damit nicht genug: Durch seinen Widerruf wird Galilei zum Verräter, ja sogar zum sozialen "Verbrecher"abgestempelt, der das Volk seinem Schicksal überlässt und es seiner Möglichkeiten zur Weiterentwicklung beraubt, während er sich als sozialer Versager in ein privates Gelehrtendasein zurückzieht:
Galilei gab den eigentlichen Fortschritt preis, als er widerrief, er ließ das Volk im Stich, die Astronomie
wurde wieder ein Fach, Domäne der Gelehrten, unpolitisch, isoliert. (AJ, in: GBA 27, 183)
[1] Ausführliche Darstellungen der drei Fassungen sind in folgenden Werken nachzulesen: Kommentarteil zu "Leben des Galilei", in. GBA 5, 329 -382; Langemeyer (Hrsg.), 142 - 157; Wöhrle (Hrsg.), 141 - 152 und Knopf: Brecht-Handbuch, 157 - 179. Alle in dieser Arbeit zitierten Stellen des Stückes sind der "Berliner Fassung" in GBA, Band 5, entnommen. Die Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe.
In seiner 1947 geschriebenen Betrachtung mit dem Titel "Preis oder Verdammung des Galilei?" gelangt Brecht zu folgender Einschätzung dieser Problematik: "Galileis Verbrechen kann als die >Erbsünde< der modernen Naturwissenschaften betrachtet werden." (GW 17, 1109) Und daher gilt für ihn zu diesem Zeitpunkt: "Die Atombombe ist sowohl als technisches als auch soziales Phänomen das klassische Endprodukt seiner [Galileis] wissenschaftlichen Leistung und seines sozialen Versagens." (Ebd.) Offensichtlich schwankte Brecht aber bei der Frage, wen die Hauptverantwortung für dieses Dilemma trifft: Ist es der seinem "Forschungstrieb" folgende Naturwissenschaftler oder ist es nicht vielmehr die Gesellschaft, die "von ihren Individuen erpreßt, was sie von ihnen braucht" (ebd.) und sich der Erkenntnisse und Erfindungen ihrer Forscher bemächtigt, um sie für ihre Zwecke zu vereinnahmen? Es ist daher nicht verwunderlich, dass Brecht selbst in dieser Frage sich zu keiner eindeutigen Antwort durchringt. Viele seiner Äußerungen zu dieser komplizierten und vielschichtigen Thematik sind uneindeutig oder sie werfen Fragen auf, die nicht endgültig beantwortet werden. Es kristallisiert sich aber eindeutig heraus, dass nach Brechts Auffassung Galilei ein ambivalenter bzw. widersprüchlicher Charakter war, der zu sich selbst und zu den Repräsentanten seines Zeitalters in einem dialektischen Verhältnis stand. (Vgl. hierzu beispielsweise die "Anmerkungen zu 'Leben des Galilei'", in. GW 17, 1101 - 1133) In der soeben zitierten Betrachtung sieht Brecht sich daher außerstande, "Galilei entweder nur zu loben oder nur zu verdammen" (GW 17, 1109)). Diese Äußerung kann als eine Art Zusammenfassung seiner Auseinandersetzung mit dem Galilei-Stoff angesehen werden.
Die Uneindeutigkeit und Zwiespältigkeit von Brechts Einstellung gegenüber dieser Problematik offenbarte sich schon in seinem 1939 geschriebenen Vorwort zur "dänischen Fassung". Dort sprach er von Aufbruchstimmung und "Pioniergefühl", von der "Überzeugung, an der Schwelle einer neuen Zeit zu stehen", von ungeahnten Möglichkeiten der Menschen, angesichts kirchlicher und weltlicher Obrigkeit ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen und zu "herrschen" statt "beherrscht" zu werden. (GW 17, 1103) Dieses Gefühl gilt in besonderem Maße für den Forscher, der eine Entdeckung macht, die alles bisher Dagewesene in Zweifel zieht und verändert. Umso größer ist aber die Enttäuschung, wenn er erkennen muss, dass seine Zeit noch nicht gekommen ist. Es entspricht der im Stück immer wieder zu beobachtenden dialektischen Betrachtungsweise, wenn Brecht hier zwischen dem "Alten" und dem "Neuen" unterscheidet, das sich der Übermacht des "Alten" unterwerfen muss in einer Gesellschaft, wo die Pioniere des "Neuen" sich als "Schwindler und Scharlatane" diffamieren bzw. als "Anführer" behandeln lassen müssen und "besonderer Unterdrückung und Bestrafung unterzogen" werden. (Ebd., 1104) Damit verdeutlicht Brecht die Gültigkeit des vielzitierten Grundsatzes von der "Ironie der Geschichte", nach dem der Moment für eine grundlegende Erneuerung des Überholten noch nicht gekommen ist und das "Alte" sich aufgrund bestehender gesellschaftlicher Machtstrukturen dem "Neuen" gegenüber behaupten kann. Unter solchen Verhältnissen muss Neues daher - wider besseres Wissen - geleugnet oder widerrufen werden. So verkehren sich im Sinne eines dialektischen Geschichtsverständnisses Wahrheiten in ihr Gegenteil. Solche Überlegungen bezieht Brecht auf den selbst erlebten zeitgeschichtlichen Hintergrund und zitiert die Nationalsozialisten als Beispiel eines diktatorischen Unterdrückungssystems, das sich auch den Anbruch einer "neuen Zeit" auf seine Fahnen geschrieben hat, während es in Wirklichkeit jeden gesellschaftlichen Fortschritt mit brutalen Mitteln verhindert.
Auf diesem Hintergrund betrachtet, kann es nicht verwundern, dass Brecht den Galilei-Stoff einer wiederholten Be- und Umarbeitung unterzogen hat. Damit trägt er der Tatsache Rechnung, dass die von ihm selbst erlebte aktuelle Wirklichkeit den Blick auf ein bereits abgeschlossenes historisches Geschehen beeinflusst und der Sinn des geschriebenen Textes sich damit verändert bzw. neuen Gegebenheiten angepasst werden muss. Während manche Passagen an Bedeutung verlieren und daher weniger Gewichtung bekommen, erweisen sich Ereignisse der aktuellen Gegenwart - wie zum Beispiel der Abwurf der amerikanischen Atombomben im August 1945 - als so bedeutsam, dass sie den von Galilei in seiner Zeit erlebten Konflikt in ein - wie Brecht es nannte - "neues, schärferes Licht" stellen, als ob im Fokus eines Lichtkegels ein bisher noch nicht wahrgenommener Gegenstand ins Blickfeld gerät. Damit wird ein wesentlicher Aspekt der Brechtschen Dramentexte angesprochen. Sie werden durch ihre Offenheit und Unabgeschlossenheit charakterisiert und von ihm als Prozesse verstanden, die ständig in Veränderung begriffen sind. Er fordert vom Zuschauer, aber auch vom Darsteller, den "neuen Blick" ("Kleines Organon für das Theater", in: GW 16, 668) bzw. den "fremden Blick" (ebd. 681) des großen Galilei, mit dem dieser die Schwingungen eines pendelnden Kronleuchters betrachtet (vgl. ebd.) und der für den Autor zum Vorbild seiner Verfremdungstechnik wurde.
Gerade deswegen muss aber darauf geachtet werden, Brechts Galilei-Drama nicht nur unter dem Aspekt seiner aktuellen Bezüge zu deuten. Ein kritisches Verständnis des Textes muss sich auf der Grundlage des historischen Textsinns vollziehen, um diejenigen Passagen besser würdigen zu können, die über die Zeit des Galilei hinausweisen und für die Gegenwart bedeutsam sind. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die aktualisierte zweite (amerikanische) und die daraus entstandene dritte (Berliner) Textfassung nur auf Kosten der Geschichtstreue zu realisieren waren, weil der geschichtlich vorgegebene Stoff nunmehr mit der für Brecht wichtigen Problematik der sozialen Verantwortung des modernen Wissenschaftlers verbunden wurde. Es erhebt sich damit die Frage, inwieweit das Stück die Kriterien eines "Geschichtsdramas" erfüllt, in dem historische Themen und Stoffe behandelt werden, oder mehr einem Stück entspricht, das über die historische Zeit hinausweist und mit dem im Sinne eines Lehrstücks an einem historischen Modell gesellschaftliche Missstände aufgezeigt werden. Denn man kann davon ausgehen, dass es Brecht weniger um die korrekte Abbildung geschichtlicher Vorgänge, sondern vielmehr um die im Drama verfremdeten aktuellen Probleme seines eigenen Zeitalters ging. Daraus ergibt sich, dass der dramatische Galilei des Autors Bertolt Brecht in mancher Hinsicht ein völlig anderer ist als der historische Galilei. Erst die "Enthistorisierung des von der Geschichte vorgezeichneten Stoffes" ermöglicht es, "die Züge des Brechtschen Zeitalters immer deutlicher hervortreten" zu lassen. (Hallet 1991, 26) Auf diese Weise wird - im Sinne des von Brecht vertretenen dialektischen Geschichtsverständnisses - auch die eigene Gegenwart als Geschichte erkennbar, denn auch diese ist "zeitgebunden, historisch, vergänglich". ("Über eine nichtaristotelische Dramatik", in: GW 15, 302) Die historische Grundsubstanz des Stoffes bleibt jedoch trotz der Umarbeitungen unangetastet und bildet das übergreifende und verbindende Element der Fabel: "der Galilei aller drei Fassungen widerruft, jedesmal setzt er seine Arbeit fort und sorgt für ihre Verbreitung." (Hallet, 26)
In diesem Zusammenhang erscheint es sinnvoll , einen Blick auf die von Karl Marx beeinflusste materialistische Geschichtsauffassung Bertolt Brechts zu werfen. Nach
Brechts Überzeugung unterliegen gesellschaftliche Vorgänge ähnlichen Gesetzmäßigkeiten wie natürliche Vorgänge. Hinsichtlich ihrer Forschungsergebnisse befinden sich die Gesellschaftswissenschaften im Vergleich zu den Naturwissenschaften jedoch erheblich im Rückstand. In seinen theaterkritischen Schriften lässt Brecht keinen Zweifel daran aufkommen, dass für ihn der Marxismus "eine Wissenschaft über das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen" und eine "große Lehre über Ursache und Wirkung auf diesem Gebiet" ist. ("Der Messingkauf", in: GW 16, 530) Mit dieser Lehre lässt sich nach seiner Auffassung der immer noch weit verbreitete Glaube an die Schicksalhaftigkeit gesellschaftlicher Entwicklungen und die Überzeugung, ihnen hilflos ausgeliefert zu sein, klar widerlegen. Stattdessen rückt er die Prozesshaftigkeit und Veränderbarkeit in den Mittelpunkt und übernimmt eine Sichtweise, die dem von Galilei in seinem Stück praktizierten "fremden Blick" entspricht und auf dessen Grundlage er seine Verfremdungstechnik entwickelt. Nach diesem Verständnis kann auch die eigene Gegenwart als ein Stück Geschichte betrachtet werden, denn auch sie ist kein gottgegebenes Schicksal, sondern entwickelt sich und ist veränderbar. Durch einen Vergleich mit vergangenen Epochen wird der Blick auf die erlebte Gegenwart geschärft, eine Verfahrensweise, die von Brecht "Historisierung" genannt wird. Aus einer solchen Denkweise heraus erklärt sich Brechts ausgeprägtes Interesse für das Zeitalter Galileis, weil gerade diese Epoche durch dessen forschendes und entdeckendes Wirken ein großes Potenzial für einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel in sich barg.
Auf dem Hintergrund dieser Überlegungen wird nun noch einmal der Bogen zu der eingangs aufgeworfenen Frage nach der sozialen Verantwortung des Wissenschaftlers geschlagen. Folgt man den Äußerungen des Autors zu dieser Frage, ist festzuhalten, dass Galilei zweifach versagt: "das erste Mal, wenn er der Lebensgefahr wegen die Wahrheit verschweigt oder widerruft." (AJ: Eintrag vom 06.04.1944, in: GBA 27, 183) Denn damit gibt er den Fortschritt preis und lässt das Volk im Stich, das auf die Verbesserung seiner Situation hofft. Sein zweites Versagen ist darin begründet, dass er seine wissenschaftliche Arbeit heimlich fortführt und für seine Verbreitung sorgt. Damit trägt er dazu bei, dass sich die Physik zu einer Spezialwissenschaft entwickelt, die sich zunehmend aus gesellschaftlichen Zusammenhängen löst und der gesellschaftlichen Kontrolle entzieht. (Vgl. ebd.) Auf diese Gefahr und die damit verbundenen verhängnisvollen Folgen weist Galilei im Gespräch mit Andrea in der 14. Szene nachdrücklich hin und übernimmt so die Funktion eines Mahners:
Wenn Wissenschaftler, eingeschüchtert durch selbstsüchtige Machthaber, sich damit begnügen, Wissen um des Wissens willen aufzuhäufen, kann die Wissenschaft zum Krüppel gemacht werden, und eure neuen Maschinen mögen nur neue Drangsale bedeuten. Ihr mögt mit der Zeit alles entdecken, was es zu entdecken gibt, und euer Fortschritt wird doch nur ein Fortschreiten von der Menschheit weg sein. Die Kluft zwischen euch und ihr kann eines Tages so groß werden, daß euer Jubelschrei über irgendeine neue Errungenschaft von einem universalen Entsetzensschrei beantwortet werden könnte. (GBA 5, 284)
Bei dieser düsteren Zukunftsvision lässt Galilei, der hier als Sprachrohr ganz im Sinne des Autors spricht, es jedoch nicht bewenden. Der bösen Vorahnung heraufdämmernden Unheils, eines außer Kontrolle geratenen, sich verselbstständigenden technisch-wissenschaftlichen Fortschritts mit katastrophalem Zerstörungspotenzial, wird die Figur des human denkenden und handelnden, verantwortungsvollen Wissenschaftlers gegenübergestellt, dessen einziges Bestreben darin besteht, "die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern." (Ebd.)
Diese Aufgabe - so der sich hier selbst anklagende und verurteilende Galilei - hätte er auch übernehmen können, wenn er standhafter gewesen wäre und sich dem Druck der Obrigkeit, das von ihm als wahr Erkannte zu widerrufen, nicht gebeugt hätte.
Im weiteren Verlauf dieser Untersuchung wird nunmehr der Blick stärker auf bisher ebenfalls schon angesprochene strukturelle Merkmale des Stückes gelenkt. Dabei geht es zunächst um die Frage, inwieweit der Autor sich an konventionellen Formen des Dramas orientiert bzw. Elemente des von ihm entwickelten episch-dialektischen Theaters verwendet. Schon nach Fertigstellung der ersten Fassung ließ er keinen Zweifel daran aufkommen, dass er sich hinsichtlich dieser Frage in einem Konflikt befand. Für ihn war das Stück "technisch ein großer Rückschritt". Er gelangte sogar zu dem Schluss, "man müßte das Stück vollständig neu schreiben", auf "Atmosphäre" und "Einfühlung" verzichten und im Sinne des epischen Theaters mehr Raum für "planetarische Demonstrationen" geben. (AJ: Eintrag vom 25.02.1939, in: GBA 26, 330) Auch während seiner Arbeit an der zweiten (amerikanischen) Fassung zeigte er sich unzufrieden mit der äußeren Struktur und stellte fest: "im Formalen verteidige ich dieses Stück nicht besonders." (AJ: Eintrag vom 30.07.1945, in: GBA 27, 227) Offensichtlich entsprach das Stück nicht den von ihm selbst entworfenen Vorgaben für ein "Theater des wissenschaftlichen Zeitalters" ("Kleines Organon für das Theater", in: GW 16, 662), in dem das Funktionieren einer Gesellschaft analog zu "planetarischen Demonstrationen" in der Astronomie gezeigt werden sollte. Als Dramaturg eines solchen wissenschaftlichen Theaters musste er sich gegen Begriffe wie "Atmosphäre" und "Einfühlung" abgrenzen, die zum Inventar der von ihm verschmähten aristotelischen Dramatik gehörten, der er seinen Verfremdungsbegriff entgegensetzte und mit der er sich in Schriften wie "Über eine nichtaristotelische Dramatik" (GW 15, 227 - 336), "Der Weg zum zeitgenössischen Theater" (GW 15, 123 - 225) und "Über den Untergang des alten Theaters" (GW 15, 71 - 121) kritisch auseinandersetzte.
2. Das "Theater des wissenschaftlichen Zeitalters"
2.1. Kritik des aristotelischen Einfühlungstheaters
Zur Entstehungszeit der dänischen Version des "Galilei" befasste sich Brecht mit Texten wie "Über experimentelles Theater" (GW 15, 285 - 305), "Der Messingkauf" (GW 16, 499 - 657) und dem "Kleinen Organon für das Theater" (GW 16, 659 - 708) intensiv mit der von ihm postulierten neuen Form des Theaters, das er als "Theater des wissenschaftlichen Zeitalters" apostrophierte. In diesen Texten bezog er zu der von ihm als überholt betrachteten aristotelischen Dramatik kritisch Position. Darunter verstand er ein Theater in der Nachfolge des Aristoteles, in dem der Hauptzweck der Tragödie in der "Katharsis", der "Reinigung des Zuschauers von Furcht und Mitleid durch die Nachahmung von furcht- und mitleiderregenden Handlungen" ("Über eine nichtaristotelische Dramatik", in: GW 15, 240) besteht. Dieser Akt der Reinigung erfolgt nach Brechts Auffassung auf der Grundlage eines psychischen Vorgangs, den er mit "Einfühlung des Zuschauers in die handelnden Personen" (ebd.) bezeichnete. Der Vorgang des Sich-Einfühlens bildete für Brecht den Dreh- und Angelpunkt des aristotelischen Theaters. Durch ihn wird der Zuschauer an das Geschehen auf der Bühne gefesselt. Er identifiziert sich mit den Figuren und der kontinuierlich sich fortentwickelnden Handlung, anstatt in Distanz zum Geschehen zu treten, das Gesehene
kritisch zu reflektieren, zu hinterfragen, zu analysieren und zu beurteilen und mit der von ihm selbst erlebten Gegenwart zu vergleichen. Auch vom auf der Bühne agierenden Schauspieler wird im aristotelischen Theater erwartet, dass er sich in die darzustellende Figur verwandelt, anstatt sie vorzuzeigen bzw. zu demonstrieren, wie sie sich seiner Auffassung nach verhalten sollte.
Die Vertreter des klassischen Theaters in der Tradition der aristotelischen Dramenästhetik bzw. des von Brecht wiederholt so bezeichneten "bürgerlichen Theaters" erzeugen ferner die Illusion des "Ewig-Menschlichen" bzw. des "Menschlichen schlechthin" ("Der Messingkauf", in: GW 16, 628) und leisten damit der Vorstellung einer geschichtlichen Zeitlosigkeit Vorschub, womit in Wirklichkeit jede Geschichtlichkeit und die Veränderbarkeit gesellschaftlicher Vorgänge unterschlagen und der Eindruck ihrer vermeintlichen Geschichtslosigkeit verstärkt wird. Daher muss die "Realität des Theaters als Theater" wieder hergestellt werden, dessen Aufgabe es ist, "realistische Abbildungen des menschlichen Zusammenlebens" zu liefern. ("Über eine nichtaristotelische Dramatik", in: GW 15, 251) Damit wendet Brecht sich mit aller Entschiedenheit gegen die Vorstellung eines unentrinnbaren Schicksals und auch gegen die vom Drama des Naturalismus vertretene Auffassung von der Determiniertheit des Menschen durch einen pseudowissenschaftlichen Begriff des Milieus.
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