Leseprobe
Inhalt
Einleitung
Die Wiener Gesellschaft zur Zwischenkriegszeit
Fräulein Else – gesellschaftskritische Aspekte
Die Oberschicht
Das Fräulein aus gutem Hause als weibliches Objekt
Aspekte von Antisemitismus
Fazit
Literaturverzeichnis
Einleitung
Die vorliegende Arbeit untersucht die Aspekte der Gesellschaftskritik in Arthur Schnitzlers Novelle Fräulein Else aus dem Jahr 1924.
Else ist als Spross einer Aristokratenfamilie, die vor der Verarmung und dem Verlust des sozialen Status steht, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach Individualität und Abspaltung der Familie und dem Verantwortungsgefühl, dieser zu helfen. Durch ihre hervorstechend schöne äußere Erscheinung ist sie die einzige Hoffnung, um den Vater wegen veruntreuter Mündelgelder vor dem Gefängnis zu bewahren. Ihre Schönheit soll sie dazu nutze, dem Lüstling Dorsday die erforderliche Summe zu entlocken.
Trotz der Form der Novelle als innerer Monolog lässt sich eine Übersicht über einen kleinen Ausschnitt der Wiener Gesellschaft zur Zwischenkriegszeit, zumindest in den oberen Schichten, in denen sich Else bewegt, zeichnen.
Im Zuge dessen wird zuerst ein kurzer Überblick über die temporären Zustände in Wien gegeben, um die gesonderte Stellung der Aristokratie besser zu verstehen. Die Spaltung zwischen dem, was sich an der ‚gebügelten‘ Oberfläche der höheren Schichten der Gesellschaft zeigt und den unausgesprochenen Wirrungen, die der Künstlichkeit dieses Scheins zugrunde liegen sind ein signifikanter Punkt dieser Arbeit, der weiter untersucht wird.
Außerdem wird die Rolle des schönen Fräuleins in einer Zeit, in der Status über Moral geht und Geldnot den Ruin bedeuten kann, betrachtet.
Zuletzt wird noch kurz die Bedeutung des jüdischen Aspekts der Novelle eingegangen, welchen ich im Anbetracht sowohl der Zeit als auch des jüdischen Hintergrunds des Autors nicht komplett außer Acht lassen möchte.
Die Wiener Gesellschaft zur Zwischenkriegszeit
Wien weint hin im Ruin.
Wien, du alte, kalte Hure,
Ich kauerte an deines Grabes Mauer,
Da du noch locktest
Ein mürbes Goderl dieser Welt.
Du hurtest hurtig mit Hurradämonen,
Kriegsüber siegerischen Drohnen;
Nun hungernd unkst du unter deiner Laster Last:
Du hast ein Reich verprasst,
Das nie den Armen nährte,
Der nie sich gegen der Gewalt Galgen empörte!
Stumpf stiehlt er Holz vom Friedhof,
Zu heizen mit den Grabkreuzen.
[…][1]
In diesem Gedicht wird ein Eindruck der Situation Wiens in der Zwischenkriegszeit vermittelt. Es herrschte großes Elend, Hungersnöte plagten aber vor allem diejenigen, die arm waren. Die Verzweiflung trieb viele in die Prostitution, welche zu dieser Zeit florierte. Die Reichen zogen sich zurück, um vor der Not zu fliehen. Die berühmte Kaffeekultur erlebte einen harten Rückschlag. Die Rolle der Frau wurde neu definiert, denn einerseits sollte die Gesellschaft nicht aussterben und weiterhin Kinder geboren werden, andererseits musste die Frau nun gleichzeitig die Familie wirtschaftlich versorgen, da viele Männer im Krieg gefallen waren. Dies führte zu Frauenrechtsbewegungen für Gleichberechtigung, unter anderem für gleichberechtigte Bildung, damit Frauen überhaupt die Möglichkeit hatten, wirtschaftlich nutzbare Fähigkeiten zu erlernen.
Liebe wurde funktionalisiert um Sicherheit zu erlangen und Nachfahren zu zeugen. Die „bürgerliche[…] Familie [steht für] die Subjektwerdung der Töchter“[2], welche auf den Heiratsmarkt bestmöglich ‚losgebracht‘ werden sollten.
Die allgemeine Grundstimmung aus der Not heraus war geprägt von Gleichgültigkeit, Eigenliebe und Egoismus.
Vor diesem Hintergrund finden wir unsere Protagonisten aus Schnitzlers „Fräulein Else“ einerseits darum bemüht, sich eine schöne heile Welt abseits der Not vorzuspielen, andererseits aber an der Divergenz zwischen Sein und Schein zerfallen. Else als eine zerrissene Gestalt, die „die Krise der österreich-ungarischen Welt [versinnbildlicht] und deren Wiedersprüche und labilen Fundamente“[3] spiegele.[4]
Fräulein Else – gesellschaftskritische Aspekte
Die Oberschicht
Die Stellung der bürgerlichen Oberschicht war in der Zwischenkriegszeit in ihrer Position gefährdet, doch drohende Verarmung[5] und allgemein bedrückende Probleme wurden verdrängt, um sie dann an die nächste Generation weiterzugeben.[6] Genauso scheint es in „Fräulein Else“ zu geschehen. Anstatt das Problem der Schulden, welches der Vater zu verantworten hat, selbst zu lösen, wird Else per Eilpost angeschrieben, um bei Herrn Dorsday die Summe zu erbitten.[7]
Je akuter die allgemeine Situation wird, desto wichtiger ist es, den Schein aufrecht zu erhalten. Dieser edle und exklusive Schein wird auch von Elses Umfeld prokuriert, so werden unnötigerweise französische Worte verwendet.[8] Man versucht, durch die richtige Repräsentation weiterhin zur Oberschicht gezählt zu werden, denn mit einem Statusverlust würde Elses Familie jegliche Zuwendung seitens der bürgerlichen Bekannten samt dem Vertrauen und der Kreditwürdigkeit verlieren. Letzteres scheint sogar teilweise schon eingetreten zu sein, da Dorsday erwähnt, das zuletzt verliehene Geld an Elses Vater nicht zurückbekommen zu haben.[9] ‚Sein und Schein‘: Um sich die Verarmung nicht anmerken zu lassen, zieht Else weiterhin ihre einst teuren Seidenstrümpfe an,[10] obwohl diese löchrig sind, was sie zu verbergen sucht. Es zählt nur das, was auch nach außen sichtbar ist. Elses Tante stellt in diesem Zusammenhang ein „Zerrbild mütterlicher Fürsorge“[11] dar. Eigentlich könnte sie die Mutterrolle für Else übernehmen, interessiert sich aber eigentlich nur für ihre äußerlich korrekte Erscheinung, sorgt sie sich doch um den guten Ruf der Familie. Sie identifiziert Else als eine Person, die nicht in das gesellschaftliche Bild hinein passt. So sagt sie über Else: „Sie ist überhaupt nicht normal. Sie muß natürlich in eine Anstalt!“[12] Schon in Elses Erziehung ging es nicht um ihre Gefühlswelt, sondern ausschließlich um ihre Erscheinung.
[…] Ihr wart es, könnt ich sagen, Ihr habt mich dazu gemacht, Ihr alle seid schuld, dass ich so geworden bin, nicht nur Papa und Mama. Auch der Rudi ist schuld und der Fred und alle, alle, weil sich ja niemand um einen kümmert. Ein bisschen Zärtlichkeit, wenn man hübsch aussieht, und ein bißl Besorgtheit, wenn man Fieber hat […]. Aber was in mir vorgeht und was in mir wühlt und Angst hat, habt ihr euch je darum gekümmert?[13]
[...]
[1] Albert Ehrenstein: Gedichte. , S. 206-208
[2] Brigitte Prutti: Weibliche Subjektivität und das Versagen des sanften Patriarchen in Schnitzlers „Fräulein Else“ , S. 1
[3] Claudio Magris: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur , S. 204
[4] Esther Saletta: Die Imagination des Weiblichen , S. 17
[5] ebd., S. 68
[6] Wendelin Schmidt-Dengler: Ohne Nostalgie , S. 59
[7] Arthur Schnitzler: Fräulein Else, S. 11-15
[8] siehe zum Beispiel „Toilette de circonstance“ (Arthur Schnitzler: Fräulein Else, S. 17)
[9] „Allerdings mit einer- noch lächerlicheren Summe diesmal, und schmeichelte wiedersehen zu dürfen, - und so wäre eigentlich kein Grund vorhanden, meine Hilfe diesmal zu verweigern.“ (ebd. S. 33)
[10] ebd., S. 19
[11] Brigitte Prutti: Weibliche Subjektivität und das Versagen des sanften Patriarchen in Schnitzlers „Fräulein Else“ S. 174
[12] Arthur Schnitzler: Fräulein Else , S. 73
[13] Arthur Schnitzler: Fräulein Else , S. 47