Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Camara Layes L’enfant noir im inhaltlichen Überblick
3. Welches Afrikabild wird in L’enfant noir vermittelt? - Eine Annäherung anhand ausgewählter Textstellen
4. Welche Aufgabe hat der afrikanische Romancier im kolonialen Afrika? - Die Kontroverse um das in L’enfant noir gezeichnete Afrikabild
5. Schlussbetrachtung
6. Literatur
6.1 Internet
1. Einleitung
„In den 1950er Jahren ist in dem frankophonen Roman Afrikas in der Erwartung der Unabhängigkeit‚ eine goldene Ära‘ beschieden. Kontroversen entzünden sich gemäß an der Frage, welchen Aufgaben sich der Roman am Vorabend der Unabhängigkeit zuzuwenden habe. Muss er ein koloniales Universum nachzeichnen, dessen Willkür tief in die Existenz der Einheimischen eindringt? Oder darf er einem afrikanischen Lebensgefühl Ausdruck verleihen […]?“ (Karimi 2012: 131).
Dieses Zitat aus einem Aufsatz des Literatur- und Kulturwissenschaftlers Kian Harald Karimi verweist auf die Diskussionen rund um die Aufgaben des afrikanischen Roman[1]. Müsse demnach der afrikanische Roman einerseits die koloniale Realität Afrikas samt all ihren Unterdrückungsapparaturen- und mechanismen nachzeichnen oder kann sich der Romancier vollständig den Mysterien der traditionellen afrikanischen Kultur hingeben und diesen dem europäischen Leser offenlegen?
Diese Hausarbeit beschäftigt sich zunächst mit der Analyse des weit über die geografischen Grenzen Afrikas hinaus bekannten und vielfach rezipierten und interpretierten Roman L'Enfant noir des guineischen Schriftstellers Camara Laye aus dem Jahre 1953.
Zur Situation Afrikas zur Entstehungszeit des Romans lässt sich einleitend konstatieren, dass zu jener Zeit, am Anfang der 1950er Jahre ein Großteil des afrikanischen Territoriums unter europäischer Kolonialherrschaft stand und Staaten wie allen voran Großbritannien und Frankreich ihren politischen Einfluss nach Jahrzehnten der kolonialen Realitäten allmählich einzubüßen bangen mussten, da ab jener Zeit separatistische Tendenzen sowie Emanzipations- und Unabhängigkeitsbestrebungen in Teilen der afrikanischen Bevölkerung festzustellen sind:
"Seit den 50er Jahren kämpften die kolonisierten Völker Europas nicht mehr nur um die Anerkennung ihrer Würde, sondern auch politische Befreiung von den Kolonialherren. Manchen war zu Bewußtsein gekommen, daß wirtschaftlicher Wohlstand und soziale Sicherheit erst erreicht werden können, wenn diese Völker von der Vormundschaft der Kolonialmächte befreit wurden. Die Schriftsteller schrieben Werke, in denen sie Missstände denunzierten, die die Kolonialherren zu verantworten hatten. Damit wurde im kollektiven Bewußtsein die Rechtfertigung des Strebens nach Unabhängigkeit erreicht." (Ndeffo Tene 2010: 59).
Es soll, nach einem knappen inhaltlichen Überblick zum Roman L'Enfant noir, zunächst eine Analyse des im Roman skizzierten Bildes Afrikas und des Afrikaners anhand einiger ausgewählter, aussagekräftiger Textstellen erfolgen. Nach einer kurzen Zusammenfassung desselbigen folgt eine Zusammenstellung zahlreicher Reaktionen frankophoner, aber auch anglophoner afrikanischer Schriftsteller auf den Roman. Schwerpunkte werden hierbei einerseits auf die Reaktionen Mongo Betis, der Verfasser des Romans Ville Cruelle, der seiner Reaktion auf L'Enfant noir gleich mehrere Aufsätze widmete, und andererseits auf einen Beitrag Alain Mabanckous, welcher ein zeitgenössischer, afrikanischer Schriftsteller ist, gesetzt. Auf Basis der Kontrastierung dieser Meinungen sowie, in Bezug auf die vorher durchgeführte Analyse des Afrikasbildes in L'Enfant noir, soll eine Annäherung zur Frage der Legitimität der Darstellung Afrikas in Layes Roman und damit zu den "Aufgaben" des Romans und darüber hinaus zur Figur des Romanciers in einer abschließenden Stellungnahme getätigt werden.
2. Camara Layes L’enfant noir im inhaltlichen Überblick
Der autobiografische Roman L’enfant noir entstand im Jahre 1953 während des Frankreichaufenthaltes des guineischen Schriftstellers Laye Camara und basiert auf dessen Leben. Der Roman thematisiert in insgesamt zwölf Kapiteln seine frühe Kindheit und sein Aufwachsen in einem afrikanischen Dorf und den späteren Besuch der Schule sowie die ersten Kontakte mit der europäischen Kultur. Die Erzählung beginnt in früher Kindheit und endet zum Zeitpunkt seiner Migration nach Frankreich am Ende der 1940er Jahre, wo Camara Laye schließlich eine Ausbildung zum KFZ-Mechatroniker sowie später ein Studium absolviert, bevor er schließlich 1956 nach Afrika zurückkehrt und die Erlangung der Unabhängigkeit seines Heimatlandes 1958 praktisch vor Ort miterlebt.
Der junge Camara Laye ist der Sohn eines Goldschmiedes und wächst zusammen mit seinen Eltern und zahlreichen Geschwistern in Dorf Kouroussa im damaligen Französisch-Guinea auf. Seine Eltern sind sehr fürsorglich und das Stammleben im Dorf erscheint für den Leser gar magisch und voller Geheimnisse, was primär der Tatsache geschuldet ist, dass aus der Perspektive des jungen Camara erzählt wird. Den Vater umgeben diverse Mysterien, so lässt er sich zum Beispiel bei seinen Schmiedearbeiten vom Totemsymbol des Stammes, der Schlange, inspirieren. Durch seinen angesehenen Status genießt der Protagonist das Privileg, die Schule besuchen zu dürfen. An der Koranschule im Ort herrschen allerdings raue Sitten, da die Lehrer die Schüler körperlich züchtigen und die älteren ihre jüngeren Mitschüler unterdrücken. Weitere Privilegien für Camara sind regelmäßige Reisen, einerseits zum Besuchen der Großmutter im Nachbarort Tindican, wo er durch sein anderes Aussehen und Auftreten, was mit seinem Schulbesuch zusammenhängt, auffällt und andererseits Reisen mit seinem Onkel durch die Region. Das Familien- und Stammesleben erscheint insgesamt bunt und heiter, die Mutter ist Versorgerin und zugleich von einer Art „magischen Aura“ umgeben, da sie scheinbar ohne die Gefahr von einem Krokodil attackiert zu werden, Wasser aus dem Fluss schöpfen zu können scheint.
Ein einschneidendes Ereignis in Camaras Leben ist der Übergangsritus vom Kindes- zum Erwachsenenalter, also die Abnabelung der Jungen von der „Welt der Frauen und Kinder“, die Beschneidung (Kondèn Diara). Diese wird in der Dorfgemeinschaft alljährlich groß zelebriert. Angekommen in der „Welt der Männer“, dürfen in den vier Wochen nach der Beschneidung keine weiblichen Stammesmitglieder Kontakt zum Jungen aufnehmen, nur der Heiler des Stammes oder der Vater pflegen den Jungen. Nach Ablauf der vier Wochen erhält der nun „erwachsene“, wenn auch erst zwölf- oder dreizehnjährige Camara eine eigene Hütte in direkter Nähe zum Elternhaus.
Einige Zeit später verlässt der nun jugendliche Camara sein Heimatdorf, um in der Hauptstadt Französisch-Guineas, Conakry, ein französischsprachiges Collège besuchen zu dürfen, wozu er sich nur schweren Herzens entscheidet, da er seine Familie und Freunde im Dorf zurücklassen muss. In Conakry wohnt er bei seinem Onkel und dessem beiden Ehefrauen und lernt nach und nach das europäisch geprägte Stadtleben als Gegensatz zu seinem traditionellen Dorfleben kennen. Der Protagonist ist ein hervorragender Schüler und erhält in der Schule zahlreiche Auszeichnungen für seine schulischen Leistungen und lernt gleichzeitig seine Mitschülerin Marie kennen, mit der er viel Zeit bei typisch „westlichen“ Freizeitaktivitäten verbringt (Musik hören, Tanz, Radfahren…) und später „tiefere Gefühle zu ihr entwickelt“.
Während der Schulferien reist Camara regelmäßig in sein Heimatdorf zum Besuchen seiner Freunde und Familie und verkehrt oft mit jungen Frauen, sehr zum Missfallen seiner Mutter, die sich um ihn sorgt. Genervt vom „Kontrollwahn“ seiner Mutter muss er bei einem Besuch den Tod eines seiner Kindheitsfreunde miterleben, der an einer Krankheit verstirbt.
Zum Ende des Romans erhält er auf Empfehlungen von Lehrern am Collège die Möglichkeit eines Stipendiums in Frankreich, was er trotz des Widerstands seiner Mutter, vom Vater jedoch bestärkt, wahrnimmt. Angekommen in Paris, endet der Roman mit dem Herauswühlen eines U-Bahn-Plans aus Camaras Jackentasche.
3. Welches Afrikabild wird in L’enfant noir vermittelt? - Eine Annäherung anhand ausgewählter Textstellen
Im Folgenden wird nun versucht, anhand ausgewählter Motive, das vom Roman antizipierte Bild des afrikanischen Kontinents darzulegen. Es werden exemplarisch Textstellen gewählt, anhand derer versucht wird, die genannten Thesen zu belegen. Am Ende dieses Kapitels soll dann zusammenfassend die Skizzierung eines Gesamtbildes, welches der Roman exemplarisch von Afrika zeichnet, erfolgen.
Bereits der Titel des Romans L'enfant noir scheint die Kindlichkeit und damit verbundene Naivität des dunkelhäutigen Afrikaners zu implizieren. Das vom Roman vermittelte, mütterliche Bild Afrikas, sozusagen die Mutter Afrika, die über Kinder, die Einwohner Afrikas, wacht, zeigt sich bereits vor Beginn der Handlung am Anfang in einem Gedicht, besser gesagt, einer Hymne A ma mère, die Camara Laye seiner Mutter widmet: "Femme noire, femme africaine, ô toi ma mère je pense à toi... " (Laye 1994: 1). Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass die Mutter Camaras' für das Idealbild der schwarzafrikanischen Frau gehalten wird. Es heißt weiter, sie sei diejenige, die ihm das Laufen beigebracht habe, aber auch die Augen geöffnet habe sowie stets an seiner Seite weilte und ihn unterstütze. Die Verse acht und neun ("Femme des champs, femme des rivières, femme du grand fleuve") erwecken den Eindruck, die Mutter sei ein beinahe mythisches Wesen mit einer schieren Omnipotenz. Sie erscheint beinahe göttlich, da sie in der Lage zu sein scheint, den "Gewalten der Natur" (le grand fleuve) zu trotzen beziehungsweise diese zu bezwingen. Gleichzeitig ist die Mutter die Versorgerin, die "gute Seele" der Familie und sorgt für die Bestellung der Felder, also den Anbau von Nahrungsmitteln sowie für die Versorgung der Familie mit Wasser aus dem nahegelegenen Fluss trotz der Gefahren wie Krokodile. Neben ihr und ihrer chaleur, was im Übrigen auch auf die Bedingungen des tropischen, afrikanischen Klimas bezogen werden kann, wolle das lyrische Ich wieder Kind ("Dâman, ma mère, comme j'aimerais encore être dans ta chaleur, être enfant près de toi") sein. Zum Abschluss des Gedichts dankt das lyrische Ich seiner Mutter mehrfach, für das, was sie für es getan hat und bezeichnet sie erneut als "femme noire" und "femme africaine ", stellvertretend und stereotypisch für das Ideal der afrikanischen Frau. Insgesamt erscheint die Mutter in diesem Gedicht mit den genannten Attributen stellvertretend und stereotypisch für die dunkelhäutige afrikanische Mutter vom Autor herausgestellt zu werden. Allerdings ließe sich dies gewiss auch auf den gesamten Kontinent Afrika beziehe, der eine gute Mutter für "seine Kinder", die enfants noirs, also die Afrikaner, ist. Insbesondere das Gedicht zu Ehren der Mutter lässt dabei schon eine ganze Menge Schlüsse zu dem von Laye gezeichneten Bild des Afrikaners und dessen Kontinent zu.
[...]
[1] Im Übrigen sollte aufgrund der Mannigfaltigkeit afrikanischer Ethnien nicht von "der afrikanischen Literatur" im Allgemeinen gesprochen werden, sondern differenziert werden, auch im Hinblick auf die afrikanischen Grenzen, die weit über den subsaharischen Raum hinaus gehen und zum Beispiel auch den arabisch geprägten Maghreb umfassen. Allerdings wird in fast allen Einschätzungen von einer afrikanischen Literatur sowie dem afrikanischen Romancier mit seinen bestimmten "Aufgaben" gesprochen, weshalb in dieser Arbeit ebenfalls repräsentativ und der Einfachheit halber von der afrikanischen Literatur im Allgemeinen gesprochen wird.