Die EuGH-Urteile "Überseering" und "Inspire Art"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

31 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Das Recht der freien Niederlassung – eine europäische Grundfreiheit

3. Kollisionsrechtlicher Hintergrund – Sitztheorie
versus Gründungstheorie

3.1 Sitzheorie
3.2 Gründungstheorie
3. 3 Stand der Diskussion in Deutschland
3.3.1 Verlegung des Verwaltungssitzes bei in Deutschland gegründeten Gesellschaften
3.3.2 Verlegung des Satzungssitzes einer nach
deutschem Recht gegründeten Gesellschaft

4. Bisherige Rechtsprechung des EuGH
4.1 Daily Mail
4.2 Centros

5. Der Fall Überseering
5.1 Sachverhalt
5.2 Vorlagefragen
5.3 Urteil des EuGH
5.4 Umsetzung der Vorgaben durch den BGH
5.5 Würdigung des Urteils und Konsequenzen für die
deutsche Rechtsprechung

6. Inspire Art (Achtung “Inspire Art“: Fremdautor!!!)
6.1 Sachverhalt
6.2 Vorlagefragen
6.3 Urteil des EuGH
6.4 Würdigung des Urteils und Konsequenzen für die deutsche Rechtsprechung

7. Ausblick und Konsequenzen

1. Einleitung

Die EuGH-Urteile Inspire Art[1] und Überseering[2] bilden den bisherigen Schlusspunkt in einer Reihe von Entscheidungen, die der EuGH in den letzten knapp 20 Jahren zum europäischen Gesellschaftsrecht getroffen hat. Während die Entscheidung Daily Mail[3] mehrheitlich noch als Billigung des Vorranges der Sitztheorie gegenüber der durch die Art. 43, 48 EGV statuierten Niederlassungsfreiheit angesehen wurde, brachte die Rechtssache Centros[4] einen Paradigmenwechsel. Diese grundlegende Neuausrichtung des EuGH wurde jedoch von vielen zunächst verkannt. Unterschiede im Hinblick auf Sachverhalt und Rechtsfragen wurden entweder unzutreffend oder überhaupt nicht wahrgenommen, zahlreiche – z.T. ideologisch eingefärbte – Fehlinterpretationen waren die Folge. Die Verfechter der Sitztheorie taten sich anfangs sehr schwer und waren auch nicht Willens dem durch Centros verursachten Kurswechsel zu folgen. Selbst nach den eindeutig richtungweisenden Entscheidungen Überseering und Inspire Art wurde - teilweise von namhaften Stimmen – weiterhin der Versuch unternommen, die Sitztheorie oder besser das, was von ihr übrig war, aus der Schusslinie zu bringen[5]. Von beiden Seiten wird die Diskussion dabei mit einem Engagement geführt, als ginge es um (das eigene) Menschenleben. Derart kontrovers waren und sind die vertretenen Standpunkte, dass mitunter angezweifelt wurde, ob die Autoren „ein- und dasselbe Urteil besprachen“[6]. Auf den ersten Blick und für juristische Verhältnisse ein eher ungewöhnlicher Vorgang. Macht man sich den Hintergrund bewusst, wird vieles klarer. Neben der Richtigkeit der persönlichen Meinung geht es doch im Ergebnis um nicht weniger als den Fortbestand jahrzehntelang und gegen heftigen Widerstand erkämpfter Arbeitnehmerrechte (Stichwort: Mitbestimmung), die Zukunft des deutschen Gesellschaftsrechts an sich (Stichwort: Konkurrenz der europäischen Rechtssysteme) und um den Schutz von Gläubigern und Konsumenten vor rechtsmissbräuchlich agierenden Gesellschaften (Stichwort: „Briefkastenge-sellschaften“). Letztlich stehen also Grundpfeiler unserer gemeinsamen Wirtschafts- und Rechtsordnung in Frage.

Im Folgenden wird eine – nach Möglichkeit ideologisch unabhängige – Vorstellung und Analyse der EuGH-Urteile Überseering bzw. Inspire Art unternommen. Auch findet eine ausführliche Ausarbeitung der Hintergründe sowie der sich aus den Urteilen ergebenden Konsequenzen statt. Begonnen wird mit der Darstellung der zum Verständnis der Problematik erforderlichen europäischen gesetzlichen Grundlagen.

2. Das Recht der freien Niederlassung – eine europäische Grundfreiheit

Der EG-Vertrag gewährt natürlichen Personen und Gesellschaften, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaates sind, gem. Artikel 43 i.V.m. Artikel 48 das Recht, sich in dem Gebiet eines anderen Mitgliedstaates niederzulassen und dort einer selbständigen Tätigkeit nachzugehen. Erfasst ist dabei jede Form der gewerblichen Betätigung. Zu unterscheiden ist die so genannte primäre Niederlassungsfreiheit, nämlich das Recht, den Schwerpunkt der unternehmerischen Tätigkeit durch eine Hauptniederlassung auszuüben (Artikel 43 Abs. 1 S. 1, 48 EGV), von der sekundären Niederlassungsfreiheit, die zur Gründung von Tochtergesellschaften, Zweigniederlassungen und Agenturen berechtigt (Artikel 43 Abs. 1 S. 2, 48 EGV). Während die primäre Niederlassungsfreiheit vom Grundgedanken her in erster Linie die Errichtung oder Verlegung des Hauptverwaltungssitzes sichern möchte, schafft die sekundäre Niederlassungsfreiheit Raum für Expansion und Erweiterung. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit in anderen Mitgliedstaaten, nach Maßgabe der dafür geltenden Vorschriften, Teilhaber an bereits bestehenden Unternehmen zu werden. Dies ist der Schnittpunkt zwischen Niederlassungsfreiheit und Kapitalverkehrsfreiheit gem. Art. 56, 58 EGV.

Einschränkungen der Niederlassungsfreiheit sind - genau wie Beschränkungen der Kapitalverkehrsfreiheit[7] - grundsätzlich unzulässig[8]. Ausnahmen von diesem Grundsatz sind nur dann möglich, wenn zwingende Gründe des Allgemeinwohls eine Beschränkung rechtfertigen[9]. Die von den Mitgliedstaaten vorgenommenen Einschränkungen selbst müssen wiederum strengen – vom EuGH in langjähriger Rechtsprechung entwickelten – Maßstäben genügen[10]. Konkret bedeutet dies, dass die Beschränkungen zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet sein müssen und auch den weiteren Anforderungen der vom EuGH in seinem Urteil „Gebhardt“[11] entwickelten Verhältnismäßigkeitsprüfung standhalten müssen[12].

Verstößt eine nationale Vorschrift gegen die Niederlassungsfreiheit führt dies zu ihrer Unanwendbarkeit.

3. Kollisionsrechtlicher Hintergrund - Sitztheorie versus Gründungstheorie

Hintergrund der in der Rechtssache Überseering zu entscheidenden Problematik war die Frage der richtigen Bestimmung des Gesellschaftsstatuts. Die Beantwortung dieser Frage entzweit das vereinte Europa noch immer in zwei Lager: Einige Länder bestimmen das auf eine Gesellschaft anwendbare Recht nach der so genannten Gründungstheorie. Andere, insbesondere Deutschland, Frankreich und Spanien, folgen – zumindest soweit dies noch möglich ist – der so genannten Sitztheorie. Während mit letztgenannter Ansicht vor allem Schutzinteressen verfolgt werden, stellt die Gründungstheorie den Gedanken der Rechtsklarheit[13] und der Beständigkeit in den Vordergrund.

3.1 Sitzheorie

Die in Kontinentaleuropa vorherrschende Sitztheorie[14] wurde im 19. Jahrhundert in Belgien und Frankreich entwickelt[15]. Auch in Deutschland findet sie Anwendung[16]. Hinter dem großen Namen verbirgt sich eigentlich nur ein Verfahren zur Bestimmung des Personalstatuts einer Gesellschaft[17]. Laut Sitztheorie bestimmt sich dieses nach dem Recht des Staates, in dem die Gesellschaft ihren effektiven Verwaltungssitz hat. Der Verwaltungssitz ist dabei der Ort, an dem das zuständige Verwaltungsorgan die Mehrzahl seiner Entscheidungen trifft bzw. die grundlegenden Entscheidungen in laufende Geschäftsführungsakte umgesetzt werden[18]. Das Gesellschaftsstatut knüpft somit an den tatsächlichen Sitz an. Der Sitztheorie liegt ein Schutzgedanke zu Grunde: Der Zuzug von ausländischen nach weniger strengen Vorschriften gegründeten Gesellschaften soll verhindert werden. Bei Grenzübertritt – gleich aus welcher Richtung - verliert die Gesellschaft ihre Rechtsfähigkeit, sprich ihre rechtliche Existenz. Bei einem Wegzug aus Deutschland muss sie aufgelöst und was schwerer wiegt, abgewickelt werden. Begründet wird diese Rechtsfolge von den Anhängern der Sitztheorie damit, dass der Staat, in dem die Gesellschaft ihren effektiven Verwaltungssitz hat, auch am stärksten von ihrer Tätigkeit betroffen ist. Deshalb sei es nur recht und billig, wenn dieser auch das anzuwendende Recht bestimme[19].

3.2 Gründungstheorie

Die vor allem im angloamerikanischen Rechtssystem verbreitete Gründungstheorie verfolgt einen anderen Ansatz. Nach ihr soll eine einmal nach dem Recht eines Staates gegründete Gesellschaft auch von anderen Staaten als wirksam entstanden anerkannt werden, selbst wenn sie ihre Geschäftstätigkeit verlagert bzw. von vornherein in einem Nicht-Gründungsstaat aufnimmt[20].

Somit knüpft die Gründungstheorie in ihrer reinen Form das Gesellschaftsstatut allein an das Recht des Staates an, in dem die Gesellschaft wirksam gegründet wurde[21]. Der Ort, von dem die Gesellschaft tatsächlich geleitet wird (effektiver Verwaltungssitz), ist insofern unerheblich. Folge hiervon ist, dass die Gesellschaft unabhängig von der Entwicklung ihrer geschäftlichen Aktivitäten und des Ortes an dem diese stattfinden, stets nach ein und demselben Recht zu beurteilen ist. Dies schafft Rechtsklarheit und Beständigkeit, eröffnet jedoch auch den Weg durch bewusste Wahl eines sehr liberalen Gründungsrechtes bestehende Gesetzeslücken- und Unterschiede auszunutzen.

Überwiegend wurde die Gründungstheorie deshalb in der Vergangenheit in modifizierter bzw. vermittelnder Form vertreten[22].

[...]


[1] EuGH, Urteil vom 30.09.2003, Rs. C-167/01 – Inspire Art.

[2] EuGH, Urteil vom 05.11.2002, Rs. C-208/00 – Überseering.

[3] EuGH, Urteil vom 27.09.1988, Rs. 81/87 – Daily Mail, Slg. 1988 I, S. 5483 = NJW 1989, S. 2186.

[4] EuGH, Urteil vom 09.03.1999, Rs. C-212/97 - Centros = NJW 1999, S. 2027.

[5] Beispielhaft sei hier nur Kindler genannt, der seine Kommentierung des obigen EuGH-Urteils mit dem Titel „Inspire Art – Aus Luxemburg nichts Neues zum internationalen Gesellschaftsrecht“ versieht, NZG 2003, S. 1086.

[6] So Zimmer, BB 2003, S. 1.

[7] Vgl. hierzu EuGH-Urteil vom 04.06.2002 – verb. Rs. C-483/99, C-367/98, C-503/99 – Goldene Aktien I, II und III = BB 2002, S. 1282 ff., NJW 2002, S. 2303 ff., ZIP 2002, S. 1085 ff. sowie jüngst EuGH, Urteil vom 13.05.2003 – verb. Rs. C-463/00, C-98/01 – Goldene Aktien IV, V = EuZW 2003, S. 529 ff..

[8] So ausdrücklich in EuGH, Urteil vom 27.09.1988, Rs. 81/87 – Daily Mail, Slg. 1988 I, S. 5483 = NJW 1989, S. 2186; EuGH, Urteil vom 31.03.1993, Rs. C-19/92 - Kraus, Slg. 1993 I, S. 1663; EuGH, Urteil vom 15.02.1996, Rs. C-53/95 – Inasti, Slg. 1996 I, S. 703; EuGH, Urteil vom 12.07.1984 – Klopp, Slg. 1984, S. 2971; auch in der Literatur wird Art. 43 EGV von der h.M. als allgemeines Beschränkungsverbot interpretiert, vgl. Trost, S. 53; Tersteegen, S. 76; Fritz, S. 36 f..

[9] So zuletzt in EuGH, Urteil vom 30.09.2003, Rs. C-167/01 – Inspire Art, Rn. 107.

[10] Vgl. zuletzt EuGH, Urteil vom 30.09.2003, Rs. C-167/01 – Inspire Art, Tz. 107 ff..

[11] EuGH, Rs. 55/94 – Gebhard.

[12] Die Regelung des Mitgliedstaates darf weder offen noch versteckt diskriminieren, muss durch höherrangiges Allgemeininteresse begründet sein und das angestrebte Ziel darf nicht durch ein milderes, aber ebenso geeignetes Mittel erreicht werden können. Vgl. hierzu auch Bröhmer in Calliess/Ruffert, EGV, Art. 43, Rn. 22 ff..

[13] Diese wird durch die eindeutige und auch bei Sitzverlagerung nicht wechselnde Anknüpfung garantiert.

[14] Neben den oben bereits genannten Staaten wird die Sitztheorie innerhalb Europas noch von Belgien, Luxemburg, Portugal und Griechenland angewandt.

[15] Bayer, BB 2003, S. 2357, S. 2358.

[16] Ständige Rechtsprechung von BGH und Untergerichten, vgl. zuletzt noch BGHZ 151, S. 204, S. 206 = NJW 2002, S. 3539 = BB 2002, S. 2031 mit Anmerkung von Gronstedt; vgl. auch BGH, BB 2002, S. 1106 (Vorlagebeschluss an EuGH - Überseering); ferner BGHZ 53, S. 181 ff.; OLG München, NJW 1986, S. 2197 ff. (zur engl. Ltd.); Kindler, NZG 2003, S. 1086 ff.; Großfeld in Staudinger, IntGesR, Rn. 20 ff.; sowie Kindler, NJW 2003, S. 1073, m.w.N..

[17] Vgl. Triebel/v. Hase, BB 2003, S. 2409, S. 2411; Behrens, IPRax 2000, S. 384, S. 390; Behrens, Die Gesellschaft mit beschränkter Haftung, IPR; Rn. 62 f..

[18] Ausführlich hierzu Tersteegen, S. 20; vgl. auch Schwarz, S. 106; Habersack, S. 12; Großerichter, DStR 5/2003, S. 159.

[19] Vgl. zur Sitztheorie nur Kindler, MünchKomm, IntGesR, Rn. 312 ff. m.w.N..

[20] Schwarz, S. 106. Vgl. auch den Überblick bei Kindler, MünchKomm, IntGesR, Rn. 265 ff.; Großfeld in Staudinger, IntGesR, Rn. 22, 31 ff..

[21] Tersteegen, S. 41; Höher in Baudenbacher, S. 282; Schwarz, S. 106.

[22] So in Dänemark („Centros“) sowie in den Niederlanden („Inspire Art“). Vgl. hierzu auch das niederländische WFBV, welches ausländischen Gesellschaften trotz genereller Gründungsanknüpfung bestimmte Zusatzverpflichten auferlegt. Für Deutschland vgl. Sandrock, BB 1999, S. 1337 ff. (Überlagerungstheorie); Paefgen, DB 2003, S. 487 ff.; Zimmer, NJW 2003, S. 3585 ff. (Kombinationslehre); Behrens in Hachenburg, GmbHG, Einleitung, Rn. 108 ff., 128 sowie die Darstellung bei Kindler, MünchKomm, IntGesR, Rn. 288 (eingeschränkte Gründungstheorie).

Ende der Leseprobe aus 31 Seiten

Details

Titel
Die EuGH-Urteile "Überseering" und "Inspire Art"
Hochschule
Fachhochschule Trier - Hochschule für Wirtschaft, Technik und Gestaltung  (Institut für Handels- Gesellschafts- und Kartellrecht)
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
31
Katalognummer
V27804
ISBN (eBook)
9783638297516
Dateigröße
695 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
EuGH-Urteile, Inspire
Arbeit zitieren
LL.B. (Melb.); LL.M. (Melb.)/Dipl. Wirtschaftsjurist (FH) Florian Schwarz (Autor:in), 2004, Die EuGH-Urteile "Überseering" und "Inspire Art", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/27804

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