Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre". Das Symbol "Stein" als Indikator für die Form des Bildungsromans


Hausarbeit, 2014

28 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Begriffe
2.1 Symbol
2.2 Bildungsroman

3 Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre - Das Symbol Stein als Indikator für die Form des Bildungsromans
3.1 Stein des Anstoßes als Vermittler zwischen Innen und Außen
3.2 Steine für den Stein: Plural mit Verweis auf Singular
3.3 Flut und Fels als Metamorphose und Typus
3.4 Steine als Hüter und Marmor als Verwandler des Todes
3.5 Stolper- und Meilensteine einer teleologischen Ausrichtung
3.5.1 Status Nascendi: Ankunft der Steine in der Wirklichkeit
3.5.2 Adoleszenz: Steinerne Gebilde als Raumentfalter- und gestalter
3.5.3 Aetas Constans: Maximalexpansion in Turm und Hof

4 Fazit und Ausblick

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Hausarbeit soll die Fragestellung sein, inwieweit in Goethes 1795/1796 veröffentlichtem Prosawerk1 von einem Symbol Stein die Rede sein kann, das die Form des Bildungsromans beeinflusst oder umgekehrt durch diese als Teil der künstlerischen Gestaltung installiert wird. Um die damit entfaltenden Zusammenhänge möglichst konkret und umfassend herzustellen, ist eine Vorgehensweise im Sinn von eng gefassten Grundbestimmungen der Begriffe Symbol und Bildungsroman unabdingbar.

Die Motivation zu diesem Thema resultiert zunächst aus der Feststellung, dass im Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre große Veränderungen durch bildhafte Ausdrücke aus dem Begriffsfeld Stein angekündigt oder begleitet, jedenfalls in diesen veranschaulicht werden. Als Beispiele möchte ich Wilhelms mit der Anlehnung an einen Eckstein verknüpfte Unruhe angesichts einer bevorstehenden Lebensänderung am Ende des ersten Buchs2 sowie den im letzten Buch seltsam anmutenden Brückenschlag einer Steigerung innerhalb des Organischen zum Anorganischen („Für gewisse Pflanzen und Tiere, für gewisse Menschen und Gegenden, ja sogar zu einigen Steinarten hatte er [der Oheim, FT3 ] eine entschiedene Neigung, die selten erklärlich war.“4 ) anführen. Die durch den ganzen Roman hindurch präsente Koinzidenz von Veränderung und Stein scheint darauf aufmerksam machen zu wollen, dass sich erst mit einer Aneinanderreihung gleichartiger Bilder eine Verdichtung ergeben soll, die im Einzelnen der Reihe nicht zu finden ist. So soll es in dieser Arbeit weniger darum gehen, was der eine oder andere Stein im Roman bedeutet, sondern vielmehr um ein Sichtbarmachen dessen, wie und worin sich die Steine summieren. Mit anderen Worten stehen Steine als Symbol im Sinn des noch näher zu erläuternden Goetheschen Verständnisses im Vordergrund.

Eine intensive Verbindung zwischen dem so verstandenen Stein und dem Bildungsroman zu vermuten, scheint mir zutreffend, da einerseits für die Bildhaftigkeit des Steins als eines Teils des Ganzen und andererseits für die Bildung einer Eigenheit als der ständig begleitenden Aufgabe, das eigene Selbst innerhalb eines Kollektivs zu bewahrheiten, Raum einnehmende parallele Verläufe im Roman beobachtet werden können. So ist der Vergleich der Formulierung „Nur alle Menschen machen die Menschheit aus, nur alle Kräfte zusammengenommen die Welt“5 mit dem sich aufdrängenden Bild des Turms als eine harmonische, durch Arbeit entstandene Einheit von Steinen augenfällig, während die Anstrengungen mit der Aussage „Es ist die beste Art, die Menschen aus sich heraus- und durch einen Umweg wieder in sich hineinzuführen“6 das Pflastern eines verschlungenen Weges vor das geistige Auge stellen wollen.

Ziel der Arbeit ist es, ausgehend von konkreten Vorstellungen zu den Begriffen Symbol und Bildungsroman in Wilhelm Meisters Lehrjahre zu eruieren, inwieweit der Stein die zugrunde liegende Vorstellung von Symbol einlöst und welche Bedeutung er im Allgemeinen im Unterschied zu einer bestimmten Steinart hat, wobei diese Fragen in besonderer Weise von der Suche nach Verbindungen zur Gattung Bildungsroman, wie sie eingangs definiert wird, begleitet sein sollen.

2 Begriffe

In diesem Kapitel werden die Begriffe Symbol und Bildungsroman erläutert, wie sie für die Hausarbeit verwendet werden. Beide Begriffe finden in der Forschung einen breiten Niederschlag,7 so dass konzise Darstellungen erforderlich sind.

2.1 Symbol

Zahlreiche Präzisierungsversuche von Symbol - basierend auf der Bedeutung Zusammengefügtes des griechischen Wortes sýmbolon8 - sind allein aufgrund ihres Anspruchs, verschiedene Epochen und Auffassungen in einer knappen Darstellung zu berücksichtigen, so weit gefasst, dass sie für eine konkrete literaturwissenschaftliche Untersuchung nicht geeignet sind. In der Einleitung skizzierte ich aber schon, dass weniger eine bestimmte Definition von Symbol zum Ausgangspunkt der Untersuchungen dieser Arbeit gemacht werden soll, als vielmehr umgekehrt die ins Blickfeld gerückten Steine des Romans das bilden mögen, was Goethe unter Symbol versteht. Daher soll im Folgenden sein dieser Arbeit zugrunde liegendes Symbolverständnis erläutert werden. Dies hat zudem den Vorteil, auch frühere Aussagen von Zeitgenossen in einer Epoche, in der das Symbol zu einer neuen zentralen Bedeutung ausgereift wurde, verarbeiten zu können.9 Danach geht das mittelalterliche Verständnis von Symbol als eine bloße Verbildlichung konventioneller Zuordnungen von Wesen, Dingen oder Verhaltensweisen in starker Ähnlichkeit zur Allegorie mit den Zwischenschritten einer Aufspaltung der Allegorie in einen konkreten und abstrakten Teil bei Winckelmann10 und Herder, der den abstrakten Teil bereits Natursymbol nennt,11 letztlich über in ein den Prozess des Erkennens und auch dessen Ergebnis transportierendes Mittel.12 In diesem Verständnis wird der Begriff Symbol bei Goethe verwendet, zunächst aber nicht explizit, sondern als Natur der Poesie veranschaulicht:

Es ist ein großer Unterschied, ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht oder im Besonderen das Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als Beispiel, als Exempel des Allgemeinen gilt; die letztere aber ist eigentlich die Natur der Poesie, sie spricht ein besonderes aus, ohne ans Allgemeine zu denken oder darauf hinzuweisen. Wer nun dieses besondere lebendig faßt, erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder erst spät.13

In einem 1797 an Schiller gerichteten Brief konkretisiert Goethe dieses Allgemeine, zu dessen Durchdringung die Natur der Poesie verhilft:

[E]s sind eminente Fälle, die, in einer charakteristischen Mannigfaltigkeit, als Repräsentanten von vielen anderen dastehen, eine gewisse Totalität in sich schließen, eine gewisse Reihe fordern, ähnliches und fremdes in meinem Geiste aufregen und so von außen wie von innen an eine gewisse Einheit und Allheit Anspruch machen.14

Das Symbol verschafft somit eine ordnende Einheit, eine Übersicht des Ganzen und ist nicht ohne eine Entwicklung dahin zu denken. Das deckt sich insofern mit Goethes naturwissenschaftlicher Vorgehensweise, als er „die Idee unmittelbar aus einer unendlichen Reihe individueller Lebensformen“15 erstehen lässt und „das Symbol eine Anschauung ist, die zwischen Idee und Wirklichkeit vermittelt“16. Mit diesen „Apostrophierungen von Empirie“17 steht das Symbol im Kontext der Leitbegriffe Metamorphose und Typus, die Goethe aus seinen naturwissenschaftlichen Betrachtungen auf die Dichtkunst übertrug. Während Ersteres in Goethes Prozessgedanken, „daß wir […] bis zu den letzten Verzweigungen der Erkenntnis organisch gelangen und […] die Gipfel eines jeden Wissens uns nach und nach aufbauen und befestigen können“18 zum Ausdruck kommt, resultiert der Typus aus einer „über dem Ganzen walten[den] und […] das allgemeine Bild abziehen[den]“19 Idee und bildet die Konstante im Prozess des Erkennens. Im Rückschluss auf das Goethesche Symbol ist somit auch festzuhalten, dass es a priori weniger eine fixe Bedeutung hat, als vielmehr eine dynamische produziert.

2.2 Bildungsroman

Das Reifen des Goetheschen Symbolverständnisses fällt mitunter in die lange Entstehungszeit des Romans Wilhelm Meisters Lehrjahre.20 Es verwundert daher nicht, dass Goethe mit dem später benannten Bildungsroman eine Gattung fand, die seiner Auffassung von Symbol Nährboden für ein natürliches Wachstum gibt. Umgekehrt könnte dieses Wachstum die Form des Bildungsromans ausmachen.

Erst Dilthey setzte 1870 den Begriff Bildungsroman im ersten Band seines Werkes Das Leben Schleiermachers durch,21 indem er den natürlichen Prozess der Bildung eines Protagonisten als entscheidend erachtet. Lucáks spricht in seiner 1916 erschienenen Theorie des Romans von der Suche des Individuums nach einem mit der Entfremdung von der Welt verloren gegangenen Sinn, weswegen die Form des Romans im Gegensatz zu der des Epos „ein Ausdruck der transzendentalen Obdachlosigkeit“22 ist. Goethes Vorstellung von Bildung hing am „Phänomen der Gestalt und am unablässigen Gestaltwandel von Leben“23 und hat damit wie sein Symbolverständnis die naturwissenschaftliche Grundlage, die sich aus den Prinzipien Metamorphose und Typus zusammensetzt. Sie integriert die Aspekte ‚Bildung als natürlicher Prozess‘ und ‚individueller unveränderlicher Charakter‘ in die Diltheys und Lucáks‘ Thesen auf einen Nenner bringende Definition des Bildungsromans als „[e]rzählerische Darstellung des Wegs einer zentralen Figur durch Irrtümer und Krisen zur Selbstfindung und tätigen Integration in die Gesellschaft“24. Der Zusammenhang wird nun konkretisiert, indem als Ziel die Selbstverwirklichung des Individuums als Funktionen ausübendes Teil der Gesellschaft genannt wird. Das Hinarbeiten auf dieses Ziel im Sinn eines Austarierens der Vor- und Nachteile für sich selbst und zugleich für ein Kollektiv ist somit nur im Zusammenwirken innerer Anlagen und äußerer Verhältnisse möglich. Demzufolge ist im Bildungsroman keine stringent lineare, wohl aber eine zu einem harmonischen Ausgleich führende Entwicklung zu erwarten.

3 Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre - Das Symbol Stein als Indikator für die Form des Bildungsromans

Der Übersetzung des Wortes sýmbolon wohnt schon eine Verbindung zum eben vorgestellten Bildungsroman inne. Das Zusammengefügte könnte die Schritte im Prozess der Bildung beinhalten, sobald diese zu einem Ergebnis gelangt ist, und würde damit auf die Form des Bildungsromans hindeuten. Könnte ich dabei Schritte durch Steine und das Ergebnis der Bildung durch ein Steingebilde ersetzen, so wäre Stein ein Symbol im Verständnis Goethes, da ein Stein für sich genommen zwar eine Metapher für das jeweilige Stadium des Bildungsgangs sein, die sich ergebende Reihe aus Steinen aber nicht mehr ohne größeren Kontext aufgelöst werden könnte. Anders ausgedrückt, die über Ähnlichkeitsbeziehung erfolgte Übertragung eines Gemeinten in eine Bezeichnung aus einem anderen Begriffsfeld25 wäre für das Ganze insofern nicht ausreichend, als ein Allgemeines sich erst aus dem Zusammenfügen besonderer gleichartiger Bilder destillieren ließe. Antworten auf die Frage, inwiefern Steine im Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre diesen Hypothesen gerecht werden, sind im Folgenden zu erarbeiten.

3.1 Stein des Anstoßes als Vermittler zwischen Innen und Außen

Im ersten Buch ist expressis verbis lange kein Stein zu finden. Über die intertextuelle Ausdeutung der Bibelgeschichte David und Goliath (1 Sam 17: 1-54) macht sich dagegen ein versteckter Stein bemerkbar. Zunächst erinnert sich Wilhelms Mutter, wie sehr sich das Kind für die beiden Figuren interessiert:

„[…]. Ich weiß, wie du mir das Büchlein entwendetest und das ganze Stück auswendig lerntest; ich wurde es erst gewahr, als du eines Abends dir einen Goliath und David von Wachs machtest, sie beide gegeneinander perorieren ließest, […].“26

Dieses Interesse löste in jenem eine Theaterbegeisterung aus, die der Stein, den David in der biblischen Geschichte in die Schleuder setzt und der Goliath tödlich trifft, metaphorisiert und Wilhelm auf die Seite Davids zieht. Das ist an Textstellen zu belegen. Nach der Erinnerung der Mutter ist von Wilhelm selbst zu erfahren, welchen Zauber David und Goliath auf ihn ausüben:

[…], nur ein geschriebenes Büchelchen, worin die Komödie von David und Goliath aufgezeichnet war, […]. / Von der Zeit an wandte ich alle verstohlenen einsamen Stunden darauf, mein Schauspiel wiederholt zu lesen, […] und mir […] vorzustellen, wie herrlich es sein müßte, wenn ich auch die Gestalten dazu mit meinen Fingern beleben könnte. Ich ward darüber in meinen Gedanken selbst zum David und Goliath. […]. So lagen mir die großmütigen Reden Davids, […], Tag und Nacht im Sinne; ich murmelte sie oft vor mich hin, […].27

Wilhelm behauptet zwar, beide Figuren verinnerlicht zu haben, favorisiert aber tatsächlich die Reden Davids. Später sind auch Possesivpronomina immer auf der Seite Davids angegeben.28 Wilhelms verstärkte Hinwendung zum Theater fördert dessen Mutter, indem sie in einigen Zimmern des Hauses ein Marionettentheater errichten lässt, in dem der Sohn die Geschichte aufführen darf.29 Dieser ist mit der ersten Darbietung zufrieden und wähnt sich in der Gunst der Zuschauer, während dem Leser die Wahrnehmung von Kritik nicht verborgen bleibt:

[…], daß ich, […], trefflich gespielt habe. Dazu kam der Beifall der Zuschauer, welche durchaus behaupteten: obgleich der Lieutenant in Absicht der groben und feinen Stimme sehr viel getan habe, so peroriere er doch meist zu affektiert und steif; dagegen spreche der neue Anfänger seinen David und Jonathan vortrefflich; […].30

In der Ironie stellt sich zur Theaterbegeisterung Wilhelms, die nun als dessen einseitige Identifikation mit David erscheint, eine Gegenposition und damit eine Art Anfangszustand von einem Allgemeinen ein, das zunächst im Besonderen einer sich noch weiter entwickelnden Theaterbegeisterung geschaut wird und einer prozesshaften Vermittlung bedarf. Die Bewegung des Steins ist im Begriff, Wilhelms Innen mit einem noch wenig einflussreichen Außen in Berührung zu bringen. Ein Prozess des Erkennens steht vor seinem Beginn.

Mariane wird indirekt in die Fortführung der Geschichte Davids einbezogen. Wie reagiert sie, als Wilhelm ihr die Marionettenfiguren aus seiner Kindheit zeigt? „David war ihr zu klein und Goliath zu groß“31. Sie entscheidet sich für Jonathan, der mit David einen Bund einging (1 Sam 18: 1-4), den es ohne Stein nicht gegeben hätte. In der Übertragung auf die Romanfiguren Wilhelm und Mariane kommt dem Stein ebenso zentrale Bedeutung zu: Ohne Wilhelms Begeisterung für das Theater hätte Wilhelm nicht Mariane, die als Schauspielerin doch eine berufliche Verbindung zum Theater hat, kennengelernt.32 Führt man die Parallelen weiter, so wird mit der Tatsache, dass David und Jonathan getrennte Wege gehen (1 Sam 20: 35-42) das zumindest faktische Ausscheiden Marianes vorweg genommen.33 Damit greift der Stein räumlich und zeitlich in das Romangeschehen ein. Seine Bewegung nimmt Gestalt an, die sich in der Figurenkonstellation zeigt, und das vom Anorganischen zum Organischen Verwandelte stellt eine Metamorphose dar, die den Stein als Hintergrundbild belässt. Ein Typus ist ihr Schatten. Der Stein ist schemenhaft in einer weiteren Bedeutung angekommen, die mit der konkreten Theaterbegeisterung nicht zu fassen ist. Den Stein als Metapher zu sehen, ist zu wenig, da doch die Theaterbegeisterung auch ohne den intertextuellen Bezug zu David und Goliath zur Sprache kommt.34 In struktureller Hinsicht beginnt aber nur auf diese Weise der nicht nur ins sprichwörtliche Rollen, sondern auch in den ebenso redensartlichen Anstoß gebrachte Stein, in seiner Verknüpfung von Roman und Bibelgeschichte Außen und Innen zu vereinigen, und ist daher allgemeiner Natur, der in seiner Konkretisierung ‚Theaterbegeisterung‘ eine Vielzahl von Personen um Wilhelm wie in der Bibelgeschichte um David kreisen lässt, die Wilhelm allerdings wie „Trabanten […] mitlaufen ließ“35. Das Außen kann nur herangetragen, noch nicht aufgenommen werden, aber Ersteres gelingt, weil ein Selbstbewusstsein, ein Innen wie ein Text im Text aufgekommen ist.

Mit dem geweiteten Blick fallen weitere in diese Richtung gehende Textstellen auf. Wilhelms Mutter stellt im Rückblick die damals aufkeimende Theaterbegeisterung ihres Kindes der daraufhin gewachsenen Existenz anderer schon angeklungener Standpunkte gegenüber und ermöglicht mit der zeitlichen Differenz auch einen Weg zwischen den Marken: „Ich dachte damals nicht, daß es mir so manche verdrießliche Stunde machen sollte“36. Eine ähnliche Verbindung der Dimensionen Zeit und Raum ist in einem enigmatischen Goliath zu bemerken. Wen trifft die Theaterbegeisterung? Erst gegen Ende des Romans weiß man, dass nur Wilhelm selbst auf einem Irrweg das Opfer sein kann. Dann aber ist eine Bewandtnis des in den Vordergrund gerückten Phänomens Stein darin zu entdecken, dass die Theaterbegeisterung ein Teil des prozesshaften Bildungsgang Wilhelms sein muss, der sich bis zum Romanende erstreckt, und im empirischen Sinn eine Ausprägung dessen ist, was Goethe unter Symbol versteht. Dafür spricht auch der erste Satz des Romans: „Das Schauspiel dauerte sehr lange“37. Dieses Schauspiel steht nicht nur für das zu diesem Zeitpunkt aufgeführte, sondern führt auch Wilhelms Heranwachsen auf.38 Dass der Stein im gleichen Verständnis aufzufassen ist, wird in der Parallelisierung deutlich, die Wilhelm selbst vornimmt, als er David und Goliath „Komödie“39 und „mein Schauspiel“40 nennt.

Der in diesem Kapitel ins Licht gerückte Stein kann sich aber nur dann zu einem Goetheschen Symbol verdichten, wenn weitere mit Steinen verbildlichte Schritte folgen werden. Dies will ich im weiteren Verlauf dieser Arbeit herausfinden.

3.2 Steine für den Stein: Plural mit Verweis auf Singular

Bei der empirischen Überprüfung des Romans nach dem Begriffsfeld Stein fällt auf, dass das Wort selbst überwiegend im Plural verwendet wird,41 ein Gebilde als eine künstliche Zusammensetzung aus mehreren Steinen, z. B. „Turm“42 oder „Mauer“43, bzw. eine Stätte als natürliche Beinhaltung von Steinen, z. B. „Steinbruch“44, auf ein Kollektiv Stein aufmerksam macht, oder der Singular gleichzeitig den Plural erfordert, z. B. der in der Einleitung angeführte Eckstein. Im jeweiligen Kontext wird die Sinnhaftigkeit des einzelnen Steins in diesem Plural deutlich. So finden der sich vor einem Umbruch in seinem Leben befindliche Wilhelm und der Eckstein zusammen, weil Wilhelm in seiner besonderen Situation wie der besondere Stein in Größeres einzufügen ist, um das an sich Starre, Anorganische zu beleben, mit einem Sinn auszustatten. Die Übergabe eines Ringes der Gräfin an Wilhelm ist ein zweites Beispiel. Sie wählt nicht einen beliebigen, sondern bewusst einen mit Steinen besetzten Ring aus. Dieser soll die Gräfin und Wilhelm in dessen Erinnerung verbinden, genauso wie er Steine zusammenhält:

[…], und die Gräfin, […] und steckte noch einige Ringe an die Finger. Wir werden uns bald trennen, […]: nehmen Sie ein Andenken von einer guten Freundin, […]. Sie nahm darauf einen Ring heraus, der […] mit Steinen besetzt war. Sie überreichte ihn Wilhelmen, […].45

Eine weitere Stelle ist die Andeutung einer der Maximen der Turmgesellschaft:

[…], weil die Menschen zu nachlässig sind, ihre Zwecke recht kennenzulernen und, wenn sie solche kennen, ernsthaft darauf loszuarbeiten. Sie kommen mir vor wie Leute, die den Begriff haben, es könne und müsse ein Turm gebauet werden, und die doch an den Grund nicht mehr Steine und Arbeit verwenden, als man allenfalls einer Hütte unterschlüge.46

Damit das Steingebilde Turm nicht vor seiner Fertigstellung einstürzt, kommt es auf das ordnungsgemäße Zusammenfügen vieler Steine an. Durch den Prozess des systematischen Bauens wird das Einzelne mit dem Kollektiv, dem Ziel verbunden. Mit der Bewegung vom Einzelnen zum Ganzen gelange ich zu einem weiteren Indiz für die bisherigen Annahmen, dass die Steine im Roman in ihrem Aneinanderreihen das Allgemeine bilden könnten, durch die das jeweils Besondere der einzelnen Steine zum Vorschein kommt, und dieser Prozess möglicherweise Wilhelms Bildungsgang darstellt, konkretisiert in einer der Individualität Wilhelms entsprechenden Integration in die Gesellschaft, also in der Tatsache, dass mit dem pluralen Gebrauch des Begriffs Stein die Existenz eines gewissen Ziels des Zusammenfügens der Steine, einer harmonischen Einheit, für wahrscheinlich gehalten werden kann. Wie der einzelne Stein zur Bildung eines Kollektivs beitragen kann, ist damit nicht gesagt. Vom Ganzen aus gesehen kann ein Stein durchaus ein Irrtum gewesen sein, der aber für die Folgeschritte notwendig war.

3.3 Flut und Fels als Metamorphose und Typus

Wenn ich mögliche grundsätzliche Bedeutungen eines Steins aus dessen physischen Beschaffenheit ableite, dann stoße ich bei großen und schweren Steinen, bei Felsen etwa, auf Solidität. In Ergänzung zum Stand der letzten Kapitel könnte ein Fels ein Fundament sein, auf das Steine den Bildungsgang Wilhelms bauen. Der Fels müsste damit nicht zwingend Symbol sein, aber das Symbol Stein ermöglichen. Lassen sich diese Vermutungen verifizieren und konkretisieren?

Im Roman ist einer dieser Felsen im zweiten Buch zu finden, als Wilhelm sich nach der Trennung von Mariane und damit auch vorübergehend von der Theaterwelt auf die Welt des Handels, die sein Vater und Werner repräsentieren, einlässt, und er auf geschäftlicher Reise ein Naturschauspiel wahrnimmt:

Überhangende Felsen, rauschende Wasserbäche, bewachsene Wände, tiefe Gründe sah er hier zum erstenmal, und doch hatten seine frühsten Jugendträume schon in solchen Gegenden geschwebt. Er fühlte sich bei diesem Anblicke wieder verjüngt; […].47

Die gezeichnete Idylle lässt tiefer blicken: Einerseits ist das Bild in sich stimmig, fest, während es andererseits einen Prozess, nämlich den des Sturzes der Felsen in Bäche, erahnen lässt. Auf einer anderen Ebene wird der gegenwärtigen Idylle das Bedrohliche eines zukünftigen Sturzes entgegengestellt. Wilhelm bleibt den Felsen und den Bächen fern und kann deshalb das harmonische Ganze aus anorganischer und organischer Natur betrachten. Weder das zukünftige Bild und damit ein zeitliches Fortschreiten noch etwaige unerfreuliche Umstände nimmt er wahr. Am Anfang des siebten Buches ist von Wilhelm zu hören: „[…], uns rührt das Anschauen jedes harmonischen Gegenstandes; […], wir wähnen einer Heimat näher zu sein, nach der unser Bestes, Innerstes ungeduldig hinstrebt“48. Zwischen dem zweitem und dem siebtem Buch ist offenbar die Erkenntnis ins Bewusstsein getreten, die Harmonie als Ziel zu sehen, zu dem ein auch beschwerlicher Weg führt. Felsen und die Flut des rauschenden Wassers gaben nicht nur das Bild vor, das sich in ihm aufbauen soll, sondern zeigten auch an, was sich in ihm vollziehen könnte. Das Bleibende vor seinem geistigen Auge zieht Veränderungen nach sich und diese führen zu Ergebnissen, die die Konstante beinhalten. Der metonymische Zusammenhang trägt eine konkrete Anwendung der Begriffe Metamorphose und Typus in sich und deckt eine wesentliche Grundlage des Goetheschen Symbolverständnisses auf, die zuvor nur in Konturen zu erkennen war. Ersteres ist das Prozesshafte, das Machen und das Gemachte einer Bewegung, das Letzteres, ein bei aller Veränderung Unveränderliches, mit sich führt. Darüber hinaus ist er ein erneuter Fingerzeig auf einen Höhen und Tiefen beinhaltenden Bildungsgang Wilhelms. Die Absicht einer Entwicklung und die Vorstellung einer Harmonie gehen Hand in Hand, sind in dieser Einheit Wilhelms ständige Begleiter. Bei seiner erstmaligen Betrachtung von Felsen ist Wilhelm von einer inneren Entwicklung noch wenig erfasst. Er ist aber schon Zuschauer geworden und das gegenwärtig Betrachtete, die Harmonie, beginnt sich in ihm zu einem allgemeinen, sein Leben begleitenden Fixpunkt zu verinnerlichen. Zuvor war er einziger Akteur in seinem eigenen Schauspiel. Er sah und hörte die übrigen Personen nur insoweit, als sie seiner Bestätigung dienten. ‚Wieder verjüngt‘ betritt er eine neue Entwicklungsstufe als Verbesserung der alten. Wilhelms inneres Heranreifen als Prozess mit einer bleibenden Leitvorstellung setzt sich schließlich fort, als Metamorphose und Typus in seinen Gedanken wie auf einer Bühne Raum einnehmen, nachdem er der ‚Amazone‘ Natalie erstmals begegnet ist: „Er sah noch den Rock […], die edelste Gestalt, […], vor sich stehen, und seine Seele eilte der Verschwundenen durch Felsen und Wälder auf dem Fuße nach.“49

[...]


1 Vgl. Erich Trunz: Nachwort. In: HA 7, S. 690-691.

2 Vgl. HA 7, S. 74.

3 Meine Anmerkungen werden mit dem Sigle FT angegeben.

4 HA 7, S. 539.

5 HA 7, S. 552.

6 HA 7, S. 119.

7 Beispielhaft sei verwiesen auf: Jürgen Jacobs, Markus Krause: Der deutsche Bildungsroman. Gattungsgeschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. München: Beck 1989. Bengt Algot Sørensen (Hg.): Allegorie und Symbol. Texte zur Theorie des dichterischen Bildes im 18. und 19. Jahrhundert. Athenäum: Frankfurt / M. 1972. Michael Titzmann: Strukturwandel der philosophischen Ästhetik 1800-1880. Der Symbolbegriff als Paradigma. München: Fink 1978.

8 Vgl. Roger W. Müller Farguell: Art. Symbol. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. III. Hg. v. Jan Dirk Müller. Berlin, New York: De Gruyter 2007, S. 551.

9 Vgl. Michael Titzmann: Allegorie und Symbol im Denksystem der Goethezeit. In: Formen und Funktionen der Allegorie. Symposium Wolfenbüttel 1978. Hg. von Walter Haug. Stuttgart: Metzler 1979, S. 643.

10 Vgl. Sørensen [Anm. 7], S. 41-47.

11 Vgl. Sørensen [Anm. 7], S. 77-80. Vgl. Bengt Algot Sørensen: Symbol und Symbolismus in den ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts und der deutschen Romantik. Kopenhagen: Munksgaard 1963, S. 317.

12 Vgl. Müller Farguell [Anm. 8], S. 552.

13 HA 12, Nr. 751, S. 471.

14 Briefe 2, S. 297.

15 Grete Schaeder: Gott und die Welt. Drei Kapitel Goethescher Weltanschauung. Hameln: Verlag der Bücherstube Fritz Seifert 1947, S. 210.

16 Schaeder [Anm. 15], S. 212.

17 Gerhard Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol. 6. Aufl.. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1982, S. 78.

18 HA 12, Nr. 663, S. 458.

19 HA 13, S. 172.

20 Vgl. Trunz [Anm. 1], S. 689.

21 Vgl. hierzu und im gesamten Abschnitt Jacobs, Krause [Anm. 7], S. 22-25.

22 Georg Lucáks: Die Theorie des Romans. Berlin, Neuwied: Luchterhand 1963, S. 35.

23 Hans-Jochen Gamm: Bildung. In: Goethe Handbuch. Hg. von Bernd Witte, Theo Buck u. a.. Stuttgart, Weimar: Metzler. Bd. 4/1. 2004, S. 130.

24 Jürgen Jacobs: Art. Bildungsroman. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. I. Hg. v. Klaus Weimar. Berlin, New York: De Gruyter 2007, S. 230.

25 Vgl. Hendrik Birus: Art. Metapher. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. II. Hg. v. Harald Fricke. Berlin, New York: De Gruyter 2007, S. 571-572.

26 HA 7, S. 13.

27 HA 7, S. 21.

28 Vgl. HA 7, S. 23-24.

29 Vgl. HA 7, S. 21.

30 HA 7, S. 22-23.

31 HA 7, S. 16.

32 Vgl. HA 7, S. 35.

33 Vgl. HA 7, S. 74-76.

34 Vgl. z. B. HA 7, S. 12, S. 36-40.

35 HA 7, S. 21.

36 HA 7, S. 14.

37 HA 7, S. 9.

38 Vgl. Hellmut Ammerlahn: Imagination und Wahrheit. Goethes Künstler-Bildungsroman ‚Wilhelm Meisters Lehrjahre‘. Struktur, Symbolik, Poetologie. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 16-17.

39 HA 7, S. 21.

40 Ebd..

41 Vgl. HA 7, S. 69, 200, 539, 579, 595.

42 HA 7, S. 27, 406, 422, 463, 493, 504, 547, 548.

43 HA 7, S. 158, 160, 186, 296, 573.

44 HA 7, S. 405.

45 HA 7, S. 200.

46 HA 7, S. 405-406.

47 HA 7, S. 87.

48 HA 7, S. 421.

49 HA 7, S. 229.

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre". Das Symbol "Stein" als Indikator für die Form des Bildungsromans
Hochschule
FernUniversität Hagen
Note
1,3
Autor
Jahr
2014
Seiten
28
Katalognummer
V283921
ISBN (eBook)
9783656837619
ISBN (Buch)
9783656837626
Dateigröße
573 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
goethes, wilhelm, meisters, lehrjahre, symbol, stein, indikator, form, bildungsromans
Arbeit zitieren
Frank Tichy (Autor:in), 2014, Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre". Das Symbol "Stein" als Indikator für die Form des Bildungsromans, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/283921

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