Spazierengehen, Schreibengehen, Lesengehen. Dekonstruktive Lektüre(n) zu Thomas Bernhards "Gehen"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2007

20 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abstract

Eingang: Gedankengänge und Karteikarten

Schrift

Lektüre

Iteration I

Exzeß und Etikett(e)

Fazit: Iteration II

Zitierte Werke

Quellennachweise

Abstract

This paper—written in the spring of 2008—deals with a semiotic-deconstructive re-reading of Thomas Bernhard’s novel Gehen. It picks out five ‘effects’ of the text—scripture, lecture, iteration, excess, label—as important motives within a cultural semiosis that exceeds the proclaimed analogy between walking and thinking. Bernhard broaches the issue of the impossibility of a standstill as it can be found in the works of Charles S. Peirce, Jacques Derrida, and Roland Barthes.

Eingang: Gedankengänge und Karteikarten

Das Gehen als bipedales Gehen, als ein aufrechtes Gehen, unterscheidet den Menschen vom Tier. Es ist ein evolutionsgeschichtlich ebenso markanter Fort schritt wie die Ausbildung der Hand als kreatives Werkzeug. Vielleicht liegt darin der Grund, weshalb das Gehen auch als Konzept Eingang in die Sprache fand, ja sie regelrecht infiltriert und infiziert hat: »GEHEN, GEHN, ire, ein nach form und gehalt ü beraus reich entwickeltes wort, dessen ersch ö pfende behandlung ein werk f ü r sich w ä re « (Deutsches W ö rterbuch 5.2376). Auch Gehen weist eine Vielfalt unterschiedlicher Komposita1 auf: abgehen (G 9), weggehen, hingehen (10), zugrunde gehen (12), zu weit gehen (14), übergehen (20), vergehen (22), zurückgehen (31), vor die Hunde gehen (35), umgehen (36), begehen (38), verloren gehen (44), vorausgehen (52), aufgehen (63), eingehen (67), entgehen (78) et cetecera.2

Gehen ist ein natürlicher Vorgang: er ist Ortsveränderung und Bewegung, Verlassen und Erreichen. Gehen ist der Fingerabdruck eines Menschen; die Gangart ist individuell. In einem Interview mit Kurt Hofmann erklärte Thomas Bernhard in den 1980er Jahren: »Das Unglück der Menschen ist eben, daß sie den Weg, den eigenen, nicht gehen wollen, immer einen anderen gehen wollen« (Hofmann 71). Das Gehen in den Fußspuren des Anderen verleugnet das Individuum und die Differenz. Bernhard ist zeitlebens radikal seinen Weg gegangen, und dieses Gehen war ein aggressives Gehen, das heißt ein Herangehen (lat. aggredior) an das Leben, die Krankheit, die Konventionen. Diese Art der Konfrontation als Entziehung, die sich leitmotivisch durch das Werk Bernhards zieht, wird im Text »Der Keller« als »Kehrtwendung« (118) bezeichnet:

Ich wußte, warum ich die Beamtin im Arbeitsamt Dutzende von Karteikarten aus dem Karteikasten herausnehmen hatte lassen, ich wollte in die entgegengesetzte Richtung, diesen Begriff in die entgegengesetzte Richtung hatte ich mir auf dem Weg in das Arbeitsamt immer wieder vorgesagt, immer wieder in die entgegengesetzte Richtung, die Beamtin verstand nicht, wenn ich sagte, in die entgegengesetzte Richtung, denn ich hatte ihr einmal gesagt, ich will in die entgegengesetzte Richtung, sie betrachtete mich wahrscheinlich als verrückt, denn ich hatte tatsächlich mehrere Male zu ihr in die entgegengesetzte Richtung gesagt, wie, dachte ich, kann sie mich auch verstehen, wo sie doch überhaupt nichts und nicht das geringste von mir weiß. (120)

In dieser kurzen Passage vereinen sich die Aspekte, welche in der vorliegenden Studie unter Zuhilfenahme einer semiotisch-dekonstruktivistisch orientierten Lesepraxis des Prosatextes Gehen beleuchtet werden sollen: Schrift und Lektüre verbinden sich einerseits in den Karteikarten, andererseits - als Phänomene der Meta-Ebene - im oder besser: am Text selbst; die Iteration, die mit dem Exzeß einhergeht, ist durch das Wiederholen lexikalischer Elemente und Gruppen sowie das Nicht-Verstehen, das Verrücktsein, gegeben. Schließlich wird gegen die Etikette verstoßen, indem das Etikett (der richtige Weg, der im Karteikasten vorgeschrieben ist) ignoriert wird. Die Vehemenz, mit der das Ich auf der entgegengesetzten Richtung beharrt - also auf ein Gehen abseits der Norm -, läßt sich als das oben bereits erwähnte Herangehen lesen, als ein de(kon)struktives Verhalten gegenüber der gleichmachenden Gewalt eines Registers, in dem sich nur scheinbar eine Ordnung eingetragen (lat. regerere) hat: Durch das Herausnehmen Dutzender Karten wird die Sortierung gestört, zerstört, was die Beamtin verstört und sie somit auch ver-r ü ckt. Außerhalb der peniblen Kategorisierung herrschen Verständnislosigkeit und Chaos. Doch auch im Karteikasten (in der Schrift, in der Lektüre, in der Sprache) sind Verstehen und Orientierung eine Illusion. Die Unmöglichkeit der Differenzlosigkeit, die Unmöglichkeit der Vereinheitlichung eines Zeichensystems, letztlich die Unmöglichkeit einer einzigen Wahrheit - dies sind die Markierungen, auf denen im Folgenden der Fokus der Betrachtung liegen wird. Die Methodologie, die bei diesem Versuch Anwendung finden soll, ist hauptsächlich mit zwei Namen verknüpft: Charles Sanders Peirce und Jacques Derrida. Peirces triadische Determinationsrelation, die wesentlich den Aufschub und Rückbezug der Derridaschen Differenzphilosophie vorwegnimmt, stellt das semiotische Fundament dar, während von der Dekonstruktion etymologische Operationen sowie die Technik der »Verwendung von Ausdrücken aus dem Text, oft in Form des Wortspiels, um Momente der Erzählung mit Momenten der Lektüre oder des Schreibens zu verbinden« (Culler 271), angewendet werden sollen. Als leitende, übergeordnete These gilt: Thomas Bernhards Gehen verweist über die bereits im Text proklamierte Analogie zwischen Gehen und Denken3 hinaus, indem eine kulturelle Semiose beschrieben wird, welche durch die Unmöglichkeit des Stillstands, des Aufhörenkönnens, des Stehenbleibens motiviert ist. Diese Ansicht gilt es, zu entfalten, zu erweitern, in Frage zu stellen und zu durchgehen, um dem Phänomen einer Kehrtwendung gerecht zu werden, das heißt um einer geraden, einer einzigen, einer statischen Lesart zu entgehen.

Bernhards kurzer Text ist seit seiner Veröffentlichung im Jahre 1971 Gegenstand 4 unterschiedlichster wissenschaftlicher Arbeiten geworden. Der Versuch, die Forschungslage diesbezüglich befriedigend darzustellen, ist zum Scheitern verurteilt. Daher kann im Folgenden nur eine grobe Skizze wichtiger Studien gegeben werden. Eine frühe Veröffentlichung stellt Helmut Gross’ Abhandlung Strukturphilosophischer Versuch ü ber Thomas Bernhards › Gehen ‹ aus dem Jahre 1974 dar. Diese dem Strukturalismus verpflichtete Arbeit erscheint in der Retrospektive naiv bei ihrem Versuch, den Text vermittels diverser Strukturbögen inhaltlich aufzuschlüsseln (Gross 31). Zehn Jahre später setzt Bernhard Fischer Gehen ins Zentrum seiner Dissertation und verknüpft den Text formanalytisch-kritisch mit Aspekten der Moderne, indem er den Bogen von der Romantik über die Ästhetik Adornos bis hin zum Chock -Ereignis spannt. Schließlich erscheinen am Ende des 20. Jahrhunderts zwei weitere Dissertationen, die sich komparatistisch dem Motiv des Gehens im Allgemeinen widmen: Claudia Albes’ Der Spaziergang als Erz ä hlmodell und Elisabetta Niccolinis Der Spaziergang des Schriftstellers. Beide Studien fokussieren weniger eine inhaltsorientierte Betrachtungsweise als vielmehr eine sprachlich geformte, zeitkritisch gesteuerte Analogie des Gehens, welche die physische Fortbewegung in ein Schreib- und Lektüremodell transferiert und den Spaziergang als Reflexion über den »Akt des Schreibens« (Niccolini 15) erscheinen läßt.4

Bernhards Text ist rhythmischer Ausdruck physischer Fortbewegung, eine schriftgewordene Gangart ohne Absatz, ohne Pausen. Er ist ein typischer Bernhard, denn [a]m Rhythmus des Schreibmaschinenschreibens oder an der Führung der Feder, an der Art, wie Menschen einen Text deklamieren oder telegraphisch eine Nachricht übersenden, werden Menschen unabhängig von irgendwelchen Inhalten identifizierbar (Rieger 35).

Der Titel der vorliegenden Arbeit vermittelt die Vorstellung einer Dynamik des Schreibens und Lesens, eines Zeichen ganges, eines semiotischen Gehens sowohl in der Produktion als auch in der Dechiffrierung. Doch was genau ist ein Zeichen und inwiefern entzieht es sich selbst (s)einer Identität und Fixierung?

Peirce hat im Jahre 1902 für das Baldwin Dictionary den Zeichenbegriff wie folgt definiert:

Ein Zeichen ist alles, was etwas anderes (seinen Interpretanten) dazu bringt, sich auf einen 5

Gegenstand zu beziehen, auf den es sich selbst auf dieselbe Weise bezieht (sein Objekt), wodurch der Interpretant seinerseits zu einem Zeichen wird - und so weiter ad inifitum. (Semiotische 1.14)

Hier ist nicht der Ort, um eingehend das Peircesche Zeichenverständnis oder gar die zeichentypologische Subklassifizierung der drei Trichotomien zu diskutieren. Entscheidend ist das Konzept eines unendlichen Verschiebens des Zeichens, das, »was ich [Peirce] Semiotik nenne, d. h. [die] Lehre von der wesentlichen Natur und den grundlegenden Arten der möglichen Semiose« (Semiotische 3.259). Semiotik definiert Peirce als Wissenschaft von den Zeichen prozessen oder den Semiosen, worunter er »eine Wirkung oder einen Einfluß [versteht], der im Zusammenwirken dreier Gegenstände, wie ein Zeichen, sein Objekt und sein Interpretant, besteht, wobei dieser trirelative Einfluß in keiner Weise in Wirkungen zwischen Teilen aufgelöst werden kann.« (255)

Die von Peirce beschriebene unendliche Semiose wird von Jacques Derrida als wichtige Referenz für seine Termini jeu, trace und diff é rance herangezogen:

Die Identität des Signifikats mit sich selbst verbirgt und verschiebt sich unaufhörlich. Das Eigentliche des representamen besteht darin, es selbst und ein Anderes zu sein, als eine Verweisstruktur zu entstehen und sich von sich selbst zu trennen (Grammatologie 86).

Die Spur ersetzt das Denken der Präsenz; sie »ist die Verräumlichung« (124). Mit diesem dynamischen Vokabular radikalisiert Derrida den de Saussureschen diff é rence -Begriff. Er begreift die Schrift als »raum-zeitliche Bewegung« (Roggenbuck 41), als »sinnaufschiebendes Prinzip« (92), das auch dem gesprochenen Wort immanent ist5. Schrift erscheint bei Derrida nicht mehr - wie bei de Saussure - als semiotisches System, als Repräsentation der Sprache, als Supplement, sondern als Spur, als Artikulation der »Differenz zwischen Raum und Zeit« (Grammatologie 114).

Auch das Gehen hinterläßt Spuren. Es schreibt sich als Index 6 ein, doch die Fußabdrücke - die Syntax jedes Gehens - sind flüchtig und bei jedem Spaziergang verschieden. So gäbe es ohne Schrift (ohne das Vergessen und Verschwinden) weder Gehen noch Gehen. Die Aufzeichnungen Hollensteiners, welche von dessen Schwester »sofort nach dem Selbstmord Hollensteiners vernichtet« (G 44) worden sind, gehen mit der Person zugrunde, verschwinden, werden verbrannt (43). Die Notizen eines »ungewöhnlich klaren und wichtigen Kopf[es]« (36) werden nicht erkannt (lat. noscere); die Schrift des Irren ist eine irritierende (43), verschobene. Durch ihre Vernichtung sind der Welt »ungeheuerliche Gedanken 6

[...]

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Spazierengehen, Schreibengehen, Lesengehen. Dekonstruktive Lektüre(n) zu Thomas Bernhards "Gehen"
Hochschule
Universität Münster  (Germanistisches Institut)
Veranstaltung
Thomas Bernhard. Ausgewählte Prosa
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
20
Katalognummer
V288243
ISBN (eBook)
9783656885870
ISBN (Buch)
9783656885887
Dateigröße
454 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Thomas Bernhard, Gehen, Denken, Schrift, Lektüre, Iteration, Wiederholung, Etikett, Dekonstruktion, Etymologie, Semiose, Semiotik
Arbeit zitieren
Nico Schulte-Ebbert (Autor:in), 2007, Spazierengehen, Schreibengehen, Lesengehen. Dekonstruktive Lektüre(n) zu Thomas Bernhards "Gehen", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/288243

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