"Leitkultur" und die Struktur der sozialen Ordnung

Utilitaristisches Internalisieren des "Leitkultur"-Wertesystems


Essay, 2005

12 Seiten, Note: keine Benotung


Leseprobe


Hintergrund

Friedrich Merz´ Begriff der ’deutschen Leitkultur’ - das Reizwort ’Leitkultur’ gehörte bis zum 10.10.2000 noch nicht zum allgemeinen deutschen Sprachschatz - hat eine lebhafte Debatte darüber ausgelöst, was die politische Kultur, Wertelandschaft und Identität in Deutschland ausmacht bzw. ausmachen sollte. Diese Diskussion beschränkte sich dabei weitgehend auf die Thematik Einwanderung und Integration. In diesem Essay soll gezeigt werden, dass die Diskussion um die ’Leitkultur in Deutschland’ nicht auf Immigration und Zuwanderung reduziert werden kann, sondern breiter gefasst werden muss.

Dem Autor stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage nach den Regeln des Zusammenlebens in Deutschland. Sie möchten daher zum Nachdenken über die Werte und die politische Kultur in der heute kurzlebigen, von der Globalisierung berührten Gesellschaft anregen. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass es keinen öffentlichen Konsens und öffentliche Diskussion darüber gibt, was uns als Deutsche auszeichnet und was dieses gewisse Etwas sein könnte. In diesem Zusammenhang stellen sich folgende Fragen: Was ist der faktisch geltende normative Gehalt in der BRD und was das alltägliche soziale Handeln? Stimmt also die real bestehende ethisch-politische ’Alltagskultur’ in der Bundesrepublik wirklich mit dem überein, was uns Geschichte und Verfassung als ’Leitkultur’ vorgeben?

Es lässt sich zu Beginn konstatieren, dass auch hierzulande die Frage nach den Rechten und Pflichten des Einzelnen, der Gemeinschaft und dem Staat gegenüber weiterhin aktuell ist. Schon seit längerem prägen Begriffe wie ’Bürger-’ oder ’Zivilgesellschaft’ die Diskussion. Die Frage nach der politischen Moral, Ethik und den heutigen Werten steht aktueller denn je auf der Tagesordnung. Durchaus moralisierbare Wertfragen werden gegenwärtig leidenschaftlich diskutiert: Werte sozialer Verantwortung der Unternehmen in der Kapitalismuskritik, Moralethische Fragen in den Diskussionen um den Werteunterricht, die Gentechnik, Sterbehilfe, Kriegsdienstproblematik und die Abtreibungsfrage, das soziale Zusammenleben zwischen Jung und Alt in der Debatte um den ’Generationenvertrag’ und schließlich das kulturelle Miteinander in der EU-Türkei Debatte.

Eine Sehnsucht nach festen Wertfundamenten - damit verbunden eine Renaissance deutscher Sekundärtugenden wie z.B. Pünktlichkeit, Ordnung, Pflichterfüllung, Fleiß, Zuverlässigkeit - und eine Sorge um die Zukunft demokratischer Gesellschaften, kann heutzutage festgestellt werden. Ein Wunsch nach Orientierung und Halt ist im Wachsen begriffen. Und dies nicht nur, weil ebenso eine zunehmende Individualisierung, pluralisierte Wertehaltung, Ökonomisierung und Tendenz der Beliebigkeit - das Prinzip des ‚anything goes’ - sich wesentlich auf gesellschaftliche Werte auswirken. Auch verlieren gesellschaftliche Vorgaben ihre Verbindlichkeit für die individuelle Lebensgestaltung. Damit stellt sich die zentrale Frage: Was hält uns als Gesellschaft zusammen und was zeichnet Deutschland und seine Bürger aus?

Der nachfolgende kurze Problemaufriss kann keineswegs eine erschöpfende Gesamtuntersuchung der deutschen Gesellschaft und Wertelandschaft liefern oder tiefgreifende Lösungen zur Erreichung einer ’guten sozialen Ordnung’ vorschlagen und entwickeln. Es soll sich eher um eine normativ-ontologische Kurzanalyse handeln, die mit Verzicht auf naiven Idealismus ein eigenes ’Leitkulturkonzept’ auf der Grundlage eines Wertesystems beschreibt und allgemein zum Diskurs anregen möchte.

Werte und Normen als Kollektivgutcharakter und Grundlage der ’Leitkultur’

Werte und Normen bilden die Basis einer ’Leitkultur’. Die gegebene ethische Normativität gibt eine Orientierung vor. Mit der steuernden und stabilisierenden Funktion für die Gesellschaft haben Werte ebenfalls eine durchaus wandelnde Beschaffenheit. Gerade der von Papst Benedikt XVI. eingebrachte Einwurf der „Diktatur des Relativismus“ zeigt den vorherrschenden Gegensatz von Relativismus und Konservativismus in der Wertediskussion. Doch ist ein Wandel der Werte nicht von der Hand zu weisen. Werte in verschiedenen Kulturen und verschiedenen Zeiten können voneinander abweichen und sich gar widersprechen. Da Gesellschaften heterogen sind und da sich durch fortwährende individuelle Erlebnisse und Erfahrungen allgemeine Einstellungen verändern, bildet die soziale Moral und damit auch die Werte kein starres System. Eine Veränderung von Standpunkten und Meinungen führt nun mal dazu, dass sich allgemein herrschende Anschauungen verändern. Ein Wertewandel kann somit nicht einfach verkannt oder geleugnet werden.

Die Werte und Normen in einer Gesellschaft bilden das Fundament einer jeweiligen politischen Kultur. Diese Werte bringen einen Nutzen für die Kultur einer Gesellschaft bzw. das System. Der Begriff der Kultur ist wiederum die Summe der im System vorherrschenden Befindlichkeiten, Lebensstile, Sitten und Bräuche, Werte und Einstellungen, Tugenden und Verhaltensregeln. Die soziale Wirklichkeit wird als eine Konstruktion betrachtet, bestehend aus einer Vielfalt dieser Kulturen, mit akzentuierten Bewertungen dieser Normen, mit unterschiedlich ausgeprägter Schwerpunktsetzung in Akzeptanzwerten, verschiedener Bemessung von Rollenkonzepten, Traditionen und sozialen Normen und differenzierter Gedanken über die Inhalte und die damit verbundenen ethischen Anforderungen der eigenen Kultur.

Die sogenannte ’Leitkultur’ ist den verschiedenen Kulturen einer Gesellschaft übergeordnet und leitend bzw. sollte leitend sein. Sie sollte den kleinsten gemeinsamen Nenner beinhalten, worauf sich die Mehrheit der Bevölkerung einigen kann und lässt sich folglich durch einen Kollektivgutcharakter beschreiben. Damit sind Leitbilder gemeint, die die Grundlage des Wertesystems der deutschen Gesellschaft bilden, ein gültiges Set an sittlichen Normen, moralisch-normativen Überzeugungen und ein Wertemix, die allesamt, verknüpft mit Geschichte und Verfassung, einen Ordnungs- und Sinngehalt des demokratischen Verfassungsstaates repräsentieren. Anhand eines verhaltenen „Verfassungspatriotismus“ (Dolf Sternberger) gründet das ’Leitkulturkonzept’ auf dem Fundamental- und Basiskonsens in zentralen Werten und Normen. Zu diesen gehört als höchster Wert, neben den nachfolgenden Wertvorgaben des Grundgesetzes, die unantastbare Würde des Menschen, die im Grundgesetzartikel 1 fest verankert ist. Alle Akteure bejahen in der ’Leitkultur’ des Weiteren die kodifizierten politischen Freiheits- und individuellen Bürger- und Menschenrechte und teilen den Wertekonsens bei Alltagstoleranz, Gewaltfreiheit, Frieden, Solidarität und Menschlichkeit. Schließlich sollten weitere Werte wie das Zusammenleben mit anderen Kulturen, die Ambiguitätstoleranz, christliche Werte, die Verantwortungsübernahme, der Pluralismus der Werte und Begriffe wie Gerechtigkeit und Gemeinschaft zu dem Wertekanon gehören, die von der Bevölkerung - und dabei ist die Funktion der ‚kulturtragenden’ sozialen Gruppen entscheidend - akzeptiert werden müsste. Nur dann kann diese ’Leitkultur’ zum Wohl der Gesellschaft eine Art „innere Hausordnung, eine unerlässliche Klammer zwischen den im Gemeinwesen lebenden Menschen“ (Bassam Tibi) werden, mit der ein Miteinander statt einem Nebeneinander der Menschen funktionieren kann. Nur dann kann diese ’Leitkultur’ das selbstgesteckte Ziel, nämlich die demokratische Zivil-/ Bürgergesellschaft, erreichen und den inneren sozialen Frieden in Form eines ’Gesellschaftsvertrages’ erhalten. Ohne sie wäre der soziale Zusammenhalt in einer ’Ellenbogengesellschaft’ gefährdet, da die Menschen in einer Art „Ghettos, die als Parallelgesellschaften nur Konfliktpotential bergen würden“ (Tibi), gefangen wären, ohne jemals in einer Gesellschaft der Toleranz, die das Zusammenleben von Menschen unterschiedlichster Kulturen möglich macht - geprägt durch soziale Kohäsion und Solidarität - anzukommen.

Diese ’Leitkultur’ fußt - so die These dieses Aufsatzes - auf einer rationalistisch-utilitaristischen Argumentation. Die Bürger einer Gesellschaft sind selber an einem inneren Frieden und einer sozialen Ordnung interessiert. Menschliches Zusammenleben wird nur dadurch ermöglicht, dass der Einzelne mit gewisser Sicherheit voraussehen kann, wie sich die Mitmenschen in einer bestimmten Situation verhalten werden, dass er als Individuum durch Rechte und Pflichten in das politische System eingebunden ist und dadurch schließlich individuelles Handeln durch einen inneren Frieden möglich wird. Handeln erfolgt immer im sozialen Kontext, Gesellschaften sind das Ergebnis sozialer Interaktionen der in ihr lebenden Menschen.

Die Menschen wollen keine innerstaatlichen Konflikte, weil sie ihren eigenen Interessen schaden und ihre Existenz gefährden. Nach Talcott Parsons verfügt eine Gesellschaft über tendenzielle autonome Organismen mit bestimmten Mechanismen, die die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung regulieren. In diesem Organismus der ’Leitkultur’ erfüllen bestehende Strukturen wie Verfassung und Geschichte den Zweck der Erhaltung der nationalen Bindekraft und sind allesamt auf ein Ziel hin ausgerichtet: die soziale Ordnung zu sichern.

Erinnerungskultur, Geschichte und Lernprozesse

Kultur entsteht gerade aus diesem zielorientierten Handeln und Verhalten heraus. Die Entwicklung der demokratischen Kultur in Deutschland ist wesentlich geprägt vom Zweiten Weltkrieg als traumatisches historisches Schlüsselerlebnis und den Erfahrungen aus der Hitler-Diktatur (’collective memory'). Alte Wertvorstellungen sind nach 1945 zusammengebrochen, obgleich mehrere individuelle, trotz Entnazifizierung und Konstituierung der Bundesrepublik, noch fortlebten, eine „kollektive Ich-Entwertung“ (Peter Reichelt) begleitete die deutsche Bevölkerung, aber neue Werte wurden mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes 1949 geschaffen. Schlüsselbegriffe wie Re-education, Individualisierung, Demokratisierung, Abbau von Autoritäten und Zivilisierung waren das Ergebnis der politischen Neuordnung in einem postnationalen Verfassungs- und Sozialstaat und einer neu entstandenen Republik ohne republikanische Traditionen. Ein Gros der Bürger wurde nicht in eine demokratische Kultur sozialisiert: „27% der Gesamtbevölkerung wurde zwischen 1933 und 1950 sozialisiert und der Anteil der unter 15jährigen betrug zu Beginn der Bundesrepublik 23%. Rund ein Drittel der Bevölkerung hatte nur die Wertordnung der Naziherrschaft kennengelernt“ (Reichelt). Auch hier konnte der Wunsch der Bevölkerung nach neuer sozialer Ordnung festgestellt werden. Mit dieser der Situation zugrundeliegenden anthropologischen Konstante entstand eine neue Alltagskultur im Prozess des Einlebens in diese demokratische Ordnung. Durch die Akzeptanz der Neuordnung bei der Bevölkerung und der bis heute präsenten und allgegenwärtigen Erinnerungskultur und dem Vermächtnis bzw. der Mahnung der Geschichte, verknüpft mit neuen Verfassungsvorgaben und eingebunden in einen kaleidoskopischen Komplex aus deutscher historischer Identität und neuen kulturellen Erfahrungen und geschichtlichem Lernen, konnte sich ein neues Wertesystem begründen.

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Ende der Leseprobe aus 12 Seiten

Details

Titel
"Leitkultur" und die Struktur der sozialen Ordnung
Untertitel
Utilitaristisches Internalisieren des "Leitkultur"-Wertesystems
Hochschule
Universität Duisburg-Essen  (Institut für Politikwissenschaft)
Veranstaltung
Typische Grundansätze der Politischen Philosophie
Note
keine Benotung
Autor
Jahr
2005
Seiten
12
Katalognummer
V305356
ISBN (eBook)
9783668051379
ISBN (Buch)
9783668051386
Dateigröße
482 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Globalisierung, Leitkultur, politische kultur, soziale Ordnung, kulturkampf
Arbeit zitieren
Alexander Stock (Autor:in), 2005, "Leitkultur" und die Struktur der sozialen Ordnung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/305356

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