Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung ...1
2. Der Beginn des Genres ‚Kriminalgeschichte‘ ...3
2.1 Der Pitaval- Beginn einer Faszination ...3
2.2 Meißners Skizzen zwischen Wahrheit und Fiktion- Die aufgeklärte Fallgeschichte
...6
3. Friedrich Schiller. Verbrecher aus verlorener Ehre ...10
3.1 Schlüsselszenen und Erzähltechnik
...12
3.2 Schillers Rechtskritik ...14
3.3 Der Sonnenwirth als Quelle der Menschenkenntnis
...15
4. Kriminalliteratur zu Beginn des 19. Jahrhunderts ...16
5. Fazit ...18
1. Einleitung
Geschichten über Kriminalfälle erfreuen sich seit der Spätaufklärung besonderer Beliebtheit. Begonnen hatte diese Tradition in Frankreich des 18. Jahrhunderts, mit der Veröffentlichung von François Gayot de Pitavals Sammlung von Rechtsfällen im Jahre 1734. Das besondere hieran war die Darstellungsform der einzelnen Fälle. Pitaval versuchte, sowohl für den Juristen, als auch für den interessierten Laien zu schreiben. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war das insgesamt 60 Bände fassende Werk ein richtiger Bestseller. Doch besonders die doppelte Zielsetzung des Pitavals führte vermehrt zur Kritik. Bei Joachim Lindert heißt es dazu, dass die Fälle für Laien zu schwer zu verstehen seinen, zudem wäre die Verwendung der vielen Fachtermini für den Lesefluss hinderlich und wenig fesselnd. [1]
Als Prototyp der Gattung zählt heute Schillers Verbrecher aus Verlorener Ehre. In diesem Text geht es um das Leben des Sonnenwirths Christian Wolf, der durch seine körperlichen und finanziellen Unzulänglichkeiten und aus Liebe zu einer Frau in die Kriminalität abrutscht. Durch Ausgrenzung und Ächtung seiner Bemühungen durch die Gesellschaft, sowie die harte Bestrafung seiner Taten, entgleitet ihm sein rechtschaffendes Leben immer mehr, bis er schließlich zum Mörder wird.
Die besondere Struktur und der Inhalt des Werks prägten eine ganze Reihe von späteren Schriftstellern wie Heinrich von Kleist oder E.T.A. Hoffmann. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte sich das Genre der Kriminalitätsgeschichte in der Gesellschaft verfestigt. Die Schritte, die dazu nötig waren, sollen in dieser Arbeit dargestellt werden. Leitfrage soll sein, wie sich der Wandel von der Fallgeschichte zur anthropologischen Literatur vollzog, und schließlich auch warum es zu diesem Funktionswandel kam. Dazu soll zunächst die Pitavaltradition, die aufgeklärte Fallgeschichte bei Meißner, Schillers anthropologische Novelle und E.T.A. Hoffmanns Werk Das Fräulein von Scuderi in den Entwicklungskontext eingebunden und dieser schließlich erklärt werden. Dabei soll besonderes Augenmerk auf die Entwicklung von Fallgeschichte zur anthropologischen Literatur durch Friedrich Schiller gelegt werden. Der Hauptteil ist chronologisch geordnet und befasst sich in den einzelnen Kapiteln jeweils mit einem Entwicklungsschritt. Leider kann in der Kürze dieser Arbeit nicht auf weitere Entwicklungsschritte eingegangen werden, schließlich erfreut sich die Kriminalliteratur auch heute noch großer Beliebtheit. Ausgeklammert sind weitere wichtige Autoren der Spätaufklärung wie zum Beispiel Feuerbach, da ein Fokus auf das Werk Meißners gelegt wurde. Sicherlich könnte man hierzu noch weitere Themenstränge finden, die diese Arbeit nicht enthält, wie zum Beispiel der Beginn der Trivialliteratur, der sich neben den Pitavalgeschichten entwickelte. Auch vom Detektivroman, wie er sich sicher heute noch großer Beliebtheit erfreut, wird nicht die Rede sein. All dies sind sicher weitere, interessante Entwicklungstendenzen der Literatur, für die Kernfrage, wie und warum sich die Fallgeschichte zur literarischen Anthropologie entwickelte, spielen sie jedoch keine zentrale Rolle.
In der aktuellen Forschung ist die Kriminalliteratur zwar noch relativ unerforscht, jedoch lassen sich besonders drei Namen hervorheben, die auf diesem Feld bereits zahlreiche Publikationen herausgebracht haben. Zum einen sei da Jörg Schönert genannt, der in seinen beiden Sammelbänden Erzählte Kriminalität und Literatur und Kriminalität einen wichtigen Beitrag zur Forschung auf diesem Gebiet geleistet hat. Als nächstes sei Holger Dainat genannt, dessen Aufsätze in zahlreichen Zeitschriften und Sammelbänden erschienen, Besonders der Artikel Der unglückliche Mörder. Zu Kriminalgeschichte der Spätaufklärung ist hier hervorzuheben. Das Manko an beiden genannten Forschern ist sicher, dass sie ihre großen Werke in den 1980er Jahren veröffentlicht haben. Wesentlich aktueller ist da Alexander Košenina, der nicht nur in zahlreichen Neuauflagen der alten Werke ein Vor- oder Nachwort beisteuert, sondern auch 2008 das erste Studienbuch zum Thema literarische Anthropologie vorlegte. [2]
2. Der Beginn des Genres ‚Kriminalgeschichte‘
In diesem Rahmen kann nicht die gesamte historische Entwicklung der Kriminalliteratur aufgeführt werden. Dennoch lässt sich sagen, dass es bereits im Mittelalter Notizen, sogenannte Rechtskommentare zum römischen Corpus Iruris Civilis gab, die sich laut Alexander Košenina dann zu eigenständigen Fallgeschichten entwickelten. [3] Doch dies kann noch lange nicht als Beginn der literarischen Ausgestaltung von Verbrechen gesehen werden, sondern eher als juristische Notwendigkeit. Neben den Rechtskommentaren lassen sich natürlich noch die Prozessakten der Justiz aufzählen, aus denen schließlich auch François Gayot de Pitaval seine Causes célèbres et intéressantes4 seine Informationen bezieht. Dennoch ändert sich erst durch Pitavals Werk die Bedeutung der Kriminalitätserzählung, wie im Folgenden zu zeigen ist. Dabei soll zu einen die Funktion des Pitavals in seiner Entstehungszeit erläutert werden, und welche Bedeutung das Werk im Kontext der Kriminalerzählung einnimmt. Die Gründe für seine Wichtigkeit seien genannt, ebenso wie die Kritik, die an ihm verübt wurde.
2.1 Der Pitaval- Beginn einer Faszination
Zu Fug und Recht ließe sich behaupten, dass der Pitaval, dessen erster Band 1734 erschien, heute als ‚Bestseller‘ bezeichnet werden müsste. Auf insgesamt 20 Bänden trug der Autor französische Rechtsfälle, vorwiegend aus der Zeit des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, zusammen. Seine Causes célèbres et intéressantes waren so einflussreich, dass sein Name noch heute als Gattungsbegriff für Sammlungen von Rechtsfällen genutzt wird. Die unglaublich hohen Leserzahlen lassen sich recht einfach erklären. Pitavals Anspruch war es, dass Juristen die von ihm zusammengetragenen wahren Fälle zu Studienzwecken nutzen konnten, und zudem auch Laien die juristischen Texte verstehen konnten.
Diese Bipolarität des Pitavals barg aber zugleich die größte Schwachstelle des einflussreichen Werkes. Einige Juristen kritisierten, dass das Juristische zu Gunsten der Unterhaltung der gebildeten Massen zu kurz käme. So entstanden auch Gegenströmungen, auf die hier nicht genauer eingegangen werden kann. Jedoch ist festzuhalten, dass sich diese Kritik nicht an dem Inhalt des Pitavals orientierte, sondern schlicht an der von Pitaval gewählten Präsentation. Von Zeitgenossen hieß es, Pitaval habe nur die Sensationslust der Massen, nicht aber die sachliche Aufklärung von Juristen im Sinn. Weiter ging beispielsweise Sabatier, denn dieser merkte an, dass es sich beim Pitaval lediglich um „[..] eine zu verworrene Anhäufung rein zufällig hingeworfener Stoffe […]“ handelt. [5] Die Balance zwischen Wahrheit und Fiktion, und die dabei einhergehende Gefahr, in die Sparte der Trivialliteratur abzurutschen, ist eine Problemstellung, mit der sich alle Autoren der Kriminalliteratur früher und später konfrontiert sahen.
Der Pitaval kann jedoch in seiner Form noch nicht als anthropologische Kriminalliteratur angesehen werden. Der Autor trug zwar interessante Rechtsfälle zusammen, die Beschreibungen der Täter entsprechen jedoch nicht dem anthropologischen Menschenbild der späteren Werke, wie zum Beispiel des Sonnenwirths bei Schiller oder wie sie in den Geschichten Meißners dargestellt werden. Im Pitaval wird der Mensch nicht psychologisch analysiert, sondern auf seine ständischen Merkmale reduziert. [6} Zudem steht das Verfahren im Mittelpunkt, woran man erneut den juristischen Hintergrund des Pitavals erkennt, und nicht das Verbrechen. Markant auf den Punkt gebracht hat dies Holger Dainat, als er in dem Aufsatz Kriminalgeschichten in der deutschen Spätaufklärung zwecks der Unterscheidung zwischen Pitavalgeschichte und moralisch- anthropologischer Kriminalliteratur schrieb:
„Während die Pitavaltradition den verwickelten und deshalb interessanten Rechtsfall bevorzugt, der seine Spannung aus der juristischen Argumentation und dem entsprechenden Verfahren bezieht, wendet sich die Kriminalgeschichte dem Täter, der Tat und ihrer Umstände zu.“ [7]
Über den Wert des Pitavals zu dessen Entstehungszeit ist, wie bereits aufgeführt, viel diskutiert worden. Alexander Košenina nennt in seinem Nachwort zu August Gottlieb Meißners Werk Ausgewählte Kriminalgeschichten drei Gründe für die enorme Bedeutung des Pitavals.
1. Der Pitaval wurde in Form von Fachprosa verfasst, und nimmt somit literarische Züge an. Damit sondert er sich ab von den vorherigen Formen der Verbrechensdarstellung, die nur in Aktenform vorlagen und keine literarischen Züge enthielten.
2. Ist er eine Quelle für Autoren, die ihrer Verbrechergeschichte die Authentizität eines wahren Falles hinzufügen wollen. Er dient somit als Vorlage für spätere Generationen.
3. Pitaval beschränkt sich nicht nur auf rechtsrelevante Inhalte, sondern er rekonstruiert das Verbrechen und bringt in seine Geschichten erstmals auch eine moralische Komponente ins Spiel. Durch die Einbeziehung der Vorgeschichte und der Tatmotive zeigt er eine bisher unbekannte Möglichkeit auf, Verbrechen von ihrer Wurzel an zu analysieren. In diesem Ansatz vollzieht sich auch ein erster Schritt zur kritischen Auseinandersetzung mit Justiz, Gesellschaft und Politik. [8]
[...]
[1] Vgl. dazu: Linder, Joachim: Deutsche Pitavalgeschichte in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Konkurrierende Formen der Wissensvermittlung und der Verbrechensdeutung bei W. Härtig und W. L. Demme. In: Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. Vorträge zu einem interdisziplinären Kolloquium, Hamburg, 10.-12. April 1985. Hg. von: Jörg Schönert. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1991, S. 315.
[2] Die hier aufgeführten Werken finden sich im Literaturverzeichnis dieser Arbeit. Zudem werden in den Fußnoten einzelne Verweise zu den Arbeiten gegeben
[3] Vgl. dazu: Košenina, Alexander: Schiller und die Tradition der (kriminal)psychologischen Fallgeschichte bei Goethe, Meißner, Moritz und Spieß. In: Friedrich Schiller und Europa. Asthetik, Politik, Geschichte. Hg. von Alice Stašková. Heidelberg: Winter 2007 (=Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 23), S. 120.
[4] Zu Deutsch: Interessante und bekannte Rechtsfälle :
[5] Vgl. Aus dem Alten Pitaval. Französische Rechts- und Culturbilder aus den Tagen Ludwigs des XIII; XIV und XV. Ausgewählt und erläutert von Hans Blum. Erster Band, Leipzig 1885, Vorworst, S. XXI. Zitiert nach: Marsch, Edgar: Die Kriminalerzählung. Theorie- Geschichte- Analyse. 2. Auflage Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1972, S. 118.
[6] Vgl. dazu: Linder, Joachim: Kriminalanthropologie. Repräsentation von Kriminalität und Strafverfolgung in der Literatur. Studienbrief der FernUniversität Hagen, Hagen 2009, S. 99
[7] Dainat, Holger: »Wie wenig irgend ein Mensch für die Unsträflichkeit seiner nächsten Stunde sichere Bürgschaft leisten könne!«. Kriminalgeschichten in der deutschen Spätaufklärung. In: Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. Vorträge zu einem interdisziplinären Kolloquium, Hamburg, 10.-12. April 1985. Hg. von: Jörg Schönert. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1991, S. 195.
[8] Vgl. dazu: Košenina; Alexander: Nachwort. In: Meißner, August Gottlieb: Ausgewählte Kriminalgeschichten. St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2003 (= Kleines Archiv des achtzehnten Jahrhunderts 42), S. 96.