Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
A: Einleitung
B: Seele und Selbsterkenntnis in Platons Dialog Charmides
1.1 Die Frage nach der Besonnenheit
1.2 Besonnenheit als selbstbezüglichen Wissens der Seele und das gute Leben
Bibliografie
A: Einleitung:
Absicht vorliegender Arbeit ist es, die Bedeutung der Selbsterkenntnis für Platons Dialog Charmides herauszuarbeiten. Die Selbsterkenntnis ist das zentrale Thema dieses Dialoges und die Frage, was unter derselben zu verstehen sei, stellt sich als die leitende für Sokrates dar. Dabei wird auf die These des Kritias einzugehen sein, der die Besonnenheit und die Selbsterkenntnis gleichsetzt. Über die Frage, was Besonnenheit ist, kommt es damit zur Frage nach der Selbsterkenntnis selbst. Es soll des Weiteren die Beziehung der Selbsterkenntnis zur Seele thematisch werden, da der Dialog Charmides auch als ein „Seelen-Dialog“(Martens) gilt. Dass die Selbsterkenntnis eine bestimmte Form des Wissens ist, ist ein weiterer Aspekt, der genauerer Untersuchung bedarf. Die Selbsterkenntnis als eine Form des Wissens ist ebenfalls in ihrem Bezug zum Guten zu betrachten. Das ist insofern wichtig, weil die Frage nach dem Guten auch schon in diesem Frühdialog thematisiert wird. Wie weit die Tugend der Besonnenheit und das Wissen des Guten für Platon zusammenhängen, gilt es in diesem Dialog zu zeigen. Das gute Leben ist von der Frage des Wissens nicht zu trennen. Es soll in dieser Arbeit versucht werden den „bewusstseinstheoretischen“ Ansatz zu behandeln, wie er in der Forschung durch Riedel (1989), Gloy (1986, 1998) , Oehler (1997) u.a. bekannt geworden ist. Dieser Ansatz ist dadurch charakterisiert, dass er den platonischen Text mit modernen Begriffen wie „Subjekt“, „Objekt“, „Reflexion“, „Bewusstsein“ usw. analysiert.. Auf Barbara Zehnpfennigs Ansatz (1986) soll hierbei ebenso eingegangen werden, da sie ebenfalls auf moderne Termini zur Analyse zurückgreift. Die Frage ob und wie weit eine moderne Begrifflichkeit für die Analyse des platonischen Texts fruchtbar ist oder nicht, ist als eigene Frage entsprechend in der Arbeit zu erörtern. Soweit dieser Ansatz ein Hauptaugenmerk für die Auseinandersetzung mit der Forschung in dieser Arbeit ist, sollen andere Aspekte des Dialogs und die dazugehörige Sekundärliteratur dennoch nicht unberücksichtigt bleiben. Die Rolle des Sokrates im Gespräch und sein Verhältnis zu seinen Gesprächspartnern wird ebenso nachgegangen. Anderseits ist auch das Verhalten seiner Gesprächspartner –Kritias und Charmides-, zu beachten. Insgesamt gilt es damit die Denkbewegung des Dialogs in seinen wesentlichen Momenten nachzuzeichnen und das Gesprächsverhalten der einzelnen Teilnehmer dabei zu analysieren. Kurze Bezüge zu anderen Dialogen Platons, in denen auch das Motiv der Selbsterkenntnis vorkommt, können sich als Ergänzung zum Haupttext ergeben.
B: Seele und Selbsterkenntnis in Platons Dialog Charmides
1.1 Die Frage nach der Besonnenheit
Der Dialog Charmides, der die Tugend der Besonnenheit zum Thema hat, beginnt mit der Rückkehr des Sokrates aus Potidaia, die ihn nach schweren Kämpfen in eine Palaistra[1] nach Athen zurückführt. Dort begegnet er Bekannte wie Chairephon auf der einen Seite als auch Unbekannte auf der anderen Seite. Es kommt dabei nicht nur zu einem Gespräch über die Kriegserlebnisse des Sokrates, sondern es wird primär von diesem auch nach dem Zustand der „Weisheitsliebe[2] “ (153d[3] ) selbst gefragt bzw. ob sich jemand unter den jungen Männern in der Zwischenzeit philosophisch hervorgetan hat. Neben der Frage nach dem Zustand der Philosophie wird auch die nach der Schönheit von ihm gestellt. Sein Interesse drückt sich in der Frage aus, ob jemand durch „ausgezeichnetem Verstand“ und/oder Schönheit bekannt geworden ist. Der neben ihm sitzende Kritias stellt ihn darauf seinen Vetter Charmides vor, der „für den schönsten“ (154a) unter den Jünglingen gehalten wird und dessen „Vormund“ er zugleich ist. An dem jugendlichen Charmides interessiert Sokrates aber nicht nur dessen physische Erscheinung, die von Kritias besonders als physisches Ideal von Schönheit betont wird, sondern auch dessen Seele (psyche). Sokrates unterscheidet sich dabei von den anderen dadurch, dass er zudem wissen möchte, ob bei Charmides auch eine seelische Schönheit vorhanden ist. Um dies zu erfahren, möchte er dessen Seele „entkleiden“, um sich dadurch ein vollständigeres Bild von ihr machen zu können. Die Erkundung der Seele von Charmides wird im Dialog in einen medizinischen Kontext gestellt. Denn Kritias weist Sokrates daraufhin, dass sein Vetter Charmides an „Kopfschmerz“ leidet und daher eines Arztes bedarf, der ihm ein Mittel dagegen gibt. Sokrates erklärt sich Kritias gegenüber einverstanden als dieser Arzt zu fungieren, der ein Heilmittel (pharmakon) gegen Charmides‘ körperliche Beschwerden kennt. Hierbei wird das für den Dialog wichtige Arzt-Motiv[4] thematisch eingeführt, was auch im weiteren Verlauf desselben nicht unwesentlich sein wird. Auf die Frage des Charmides, was das für ein Mittel gegen sein Kopfleiden sei, bekennt Sokrates, dass es sich dabei um ein „Blatt“ (156a) handelt[5]. Dieses bedarf aber noch eines zusätzlichen Zauberspruches (epode), um als Heilmittel wirken zu können. Um die Wirkung seiner Heilkunst zu erläutern, beruft sich Sokrates auf die „Zalmoxischen Trakiern“ (156d), deren medizinisches Primat die Heilung des ganzen Leibes (soma) und auch die Behandlung der Seele mit einschließt. So heißt es dazu im Dialog (156e): „Denn alles, sagte er, entspränge aus der Seele, das Böse und das Gute dem Leibe und dem ganzen Menschen, und ströme ihm von dorther zu, wie aus dem Kopfe den Augen“. Die Vordringlichkeit der Seele für Sokrates als Arzt erklärt sich aus seiner medizinischen Sicht, die in ihrem krankhaften Zustand die Quelle der physischen Leiden eines Menschen sieht. Er ist mit dieser Ansicht Repräsentant einer medizinisch-philosophische Theorie. Die Seele gilt es daher durch „Besprechungen“ (157a) entsprechend zu behandeln, welche die „schönen Reden“ sind[6]. Denn durch diese „entstehe in der Seele Besonnenheit“ (ebd.)[7]. Die Tugend der Besonnenheit, welche nun erstmals im Dialog genannt wird, hat somit ihren Sitz in der Seele und führt zur Gesundheit derselben. Nachdem Kritias für Charmides den Anspruch auf diese Tugend erhoben hat, fragt Sokrates den Jüngling eindringlich, ob er wirklich schon besonnen ist oder ihm daran noch fehlt. Die Frage ist deshalb wichtig, da davon abhängt ob er noch weiterer Besprechungen nach Art der Thrakier bedarf, oder ob ihm sofort das „Mittel für den Kopfschmerz selbst“ (158c) gegeben werden kann. Charmides reagiert auf diese Frage des Sokrates eingeschüchtert, da er weder sagen kann, ob er die Besonnenheit besitzt, noch dass es ihm daran mangele (158d). Im ersten Fall würde dies darauf hinaus laufen sich selbst zu loben und damit verhasst bei den anderen zu machen. Im zweiten Fall würde er Kritias damit der „Unwahrheit“ (158d) bezichtigen, wenn er abstreitet besonnen zu sein. Sokrates schlägt deshalb Charmides und den anderen Gesprächspartnern vor, gemeinsam zu untersuchen, was Besonnenheit ist bzw. ob der Jüngling im Besitz derselben ist oder nicht. Diese Vorgehensweise ist auch deshalb für Sokrates von Bedeutung, damit er als Arzt nicht „unüberlegt“ (158e) an die „Heilung“ des Charmides geht. Die sokratische Untersuchung des Hauptgesprächs ist somit an den medizinischen Kontext geknüpft, wie er im Vorgespräch entwickelt wurde. Es kommt damit zu einem Übergang (155e) in das Hauptgespräch, das sich ausführlich der Frage nach dem Sein der Besonnenheit widmet wird. Im Vorgespräch sind die Rahmenbedingungen des Dialogs so exponiert worden, dass das eigentliche Hauptgespräch und der Schluss mit diesen zusammenhängen[8].
Wie beginnt aber nun das Hauptgespräch über die Besonnenheit? Sokrates fragt Charmides direkt nach dessen Vorstellung von Besonnenheit. Er begründet das damit, dass sofern jemand die Besonnenheit besitzt, er über diese inhaltlich Auskunft (159a) geben kann, was diese genau ist. Charmides stellt daraufhin nach einem gewissen Zögern die erste These auf, dass Besonnenheit Bedächtigkeit sei. Darunter versteht er ein „sittsames“ bzw. ruhiges Verhalten, welches sich beispielsweise in einem angemessenen Gehen auf der Straße und einem ruhigen Sprechen ausdrückt. Charmides beruft sich hierbei auch auf die allgemeine Meinung seiner Mitmenschen, deren Verständnis er damit mit ausdrückt[9],[10]. Sokrates widerlegt diese These, indem er anschauliche Beispiele aus dem Alltag nimmt, um die Fragwürdigkeit derselben schnell begreiflich zu machen. Nachdem eingestanden wurde, dass die Besonnenheit zum Schönen gehört (159c), zeigt Sokrates argumentativ auf, dass bei leiblichen Tätigkeiten beispielsweise wie lesen und schreiben, es schöner ist diese schnell auszuführen. Bezüglich des Leibes sind daher die schnelleren Handlungen als besonnen und schön zu nennen. In gleicher Hinsicht argumentiert Sokrates auch in Hinblick auf die Seele, denn die „Geistesgegenwart“ derselben im Sinne einer schnellen Auffassungsgabe beim Lernen zeigt sich als das Schönere im Vergleich zum langsamen Lernen. Sokrates zeigt daher auf, dass für Seele und Leib sich das schnellere Agieren als das besonnenere erweist und nötigt Charmides dies einzugestehen. Die erste These ist deshalb nach kurzer Argumentation schnell widerlegt.
Zur zweiten These kommt Charmides nach einer kurzen Überlegung. Nach der Aufforderung des Sokrates zu einer Introspektion (160d), behauptet er nun Besonnenheit sei Scham. Beide Gesprächspartner versichern sich nun darüber, dass die Besonnenheit nicht nur etwas Schönes, sondern auch etwas Gutes (161a) ist, da sie den Menschen, denen sie beiwohnt, auch zu Guten macht. Sofern jedoch die Scham nicht gut sein sollte, kann sie auch nicht gut machen. In der Tat wird dies nun von Sokrates behauptet, der sich hierbei auf die Autorität des Dichters Homers [11] beruft, wenn er den Vers zitiert: „Nicht gut ist Scham dem darbenden Manne“. Mit der Berufung auf die Autorität des Dichters und dessen Satz weist Sokrates damit die These des Charmides zurück, da die Scham sich als etwas Schlechtes deutlich erweist. Auch diese These des Charmides ist insofen nach kurzer Zeit widerlegt.
Die dritte These, die von Charmides selbst jedoch nicht stammt, lautet: Besonnenheit sei Tun des Seinigen (ta heautu prattein/ τά έαΰτού πράττειν). Er beruft sich hierbei auf die Meinungen anderer Menschen, von denen er dies aufgenommen hat. Sokrates vermutet daraufhin, dass der Urheber dieses Satzes Kritias oder ein anderer Weiser (sophon, 161c) ist. Es wird hiermit deutlich, dass sich Charmides der argumentativen Verantwortung entzieht, indem er auf eine These anderer Bezug nimmt. Zunächst ist aber für Sokrates nicht klar, was dieser Satz eigentlich bedeuten soll und spricht hierbei von einem „Rätsel“ (161c). Was heißt es daher das Seinige zu tun? Indem Sokrates wieder auf ein Beispiel aus dem Alltag greift, problematisiert er genau diesen Punkt. So liest und schreibt der „Sprachlehrer“ nicht nur seinen eigenen Namen, sondern lehrt auch andere Namen. Da Lesen und Schreiben als ein Tun begriffen werden, kann daher fremde Namen lesen und schreiben zu können nicht bedeuten, dass man nur das Seinige tut. Denn dies würde nur darauf hinauslaufen, dass man nur seinen eigenen Namen lesen und schreiben kann. Dieses einleuchtende Beispiel wird noch durch ein weiteres unterstützt. So macht es die normale Erfahrung des Bürgers in der „Stadt“ aus, dass nicht jeder sein eigenes „Kleid“ (161d) webt oder seine eigenen „Schuhe“ fertigt. Es wird damit – modern gesprochen- von Platon auf den Gedanken der Arbeitsteilung angespielt, die für das Funktionieren der Stadt (polis) im Sinne einer guten Verwaltung bedeutend ist. Aus Sokrates‘ Sicht würde das Tun des Seinigen, sofern dies wirklich praktiziert würde, darauf hinauslaufen, die Arbeitsteilung aufzuheben und damit die Stadt und ihre Verwaltung in einen desolaten Zustand zu bringen. Es kann daher auf Grund der negativen Konsequenzen nicht die Rede von Besonnenheit sein, wenn jeder nur das Seine tun würde. Anders formuliert: es wäre unvernünftig. Der Bürger ist somit auf die Hilfe anderer angewiesen und kann nicht alles selber aus eigener Kraft hervorbringen. Das Prinzip der Arbeitsteilung kann erst zu einer besonnenen Verwaltung der Stadt führen und kommt jedem Bürger derselben zu gute. Mit den beiden alltäglichen Beispielen führt damit Sokrates seinen Gesprächspartnern vor Augen, dass diese These nicht zutreffen kann. Das sie nicht stimmt, ist für Sokrates allerdings nur das eine. Das andere ist das „Rätsel“. was es denn heißt, das Seinige zu tun, und dieses bleibt nach wie vor ungelöst. Die Aufforderung an Charmides diese Frage zu beantworten, kommt dieser nicht nach und verweist stattdessen auf Kritias, der nun hinsichtlich dieser These dem Sokrates Rede und Antwort stehen soll. Ab diesem Wendepunkt des Dialogs findet nun das weitere Hauptgespräch zwischen Sokrates und Kritias statt. Kritias der nun die Gesprächsrolle seines Vetters übernimmt, versucht die sokratische Widerlegung entgegenzutreten, indem er selbst argumentativ Stellung nimmt (162e). Dabei betont Sokrates im Gespräch mit Kritias, dass für ihn wesentlich ist, ob die genannte These letztlich wahr ist oder nicht. Die Frage nach der Wahrheit (aletheia) bzw. das Finden derselben steht somit in der sokratischen Untersuchung im Vordergrund und damit nicht die Widerlegung an sich, was schon an diesem Punkt Sokrates seinen Gesprächspartnern versucht deutlich zu machen[12]. Wenn eine These widerlegt werden muss, dann nur deshalb, weil sie sich als falsch erwiesen hat. Kritias führt deshalb um die These gegenüber Sokrates doch noch aufrechtzuerhalten zu können die Unterscheidung zwischen dem Tun (prattein) und dem Machen (poiein) ein (163b) und beruft sich hierbei auf den Dichter Hesiod[13], um seine Argumentation abzusichern. Er zitiert hierbei den Satz aus dessen Werk: Keine Verrichtung ist Schande. Hierbei wird Verrichten und Tun auf der einen Seite gesehen, machen auf der anderen. Ersteres zeichnet sich dadurch aus, dass hierbei Werke (ergon) hervorgebracht werden, die schön und nützlich sind, während beim Machen das Schöne nicht unbedingt dabei ist. Am praktischen Beispiel des Machens von Schuhen, die selbst Werke sind, wird dies deutlich. Dieses Machen ist jedoch als Verrichtung anzusehen und deshalb nicht schädlich und ungehörig. Sokrates greift die feinsinnigen Wortunterscheidungen des Kritias auf und erinnert hier an den Sophisten Prodikos (163d), von dem er diese Art des Unterscheidens kennt. Er kommt damit gleichzeitig zur Besprechung der vierten These, die lautet: Besonnenheit sei Tun des Guten (163d). Anknüpfend an die kritiasche Unterscheidung spricht er vom Tun genauer als der Verrichtung des Guten, was im Sinne Hesiods nicht schändlich ist[14]. Was hat es aber damit genauer auf sich?
[...]
[1] Bei der Palaistra handelt es sich um einen Ringplatz. In diesem Fall um den Ringplatz des Taureas, welches in einem Gymnasion gelegen ist.
[2] Die „Weisheitsliebe“ meint nichts anderes als die Philosophie selbst. Es handelt sich hier um die wortwörtliche Übersetzung des griechischen Ausdrucks philosophia, den Platon eigens geprägt hat. Schleiermacher übersetzt philosophia mit „Weisheitsliebe“.
[3] Es wird nach der für Platons Dialoge bekannten Stephanuszählung zitiert.
[4] Vgl. zum Arzt-Motiv auch Barbara Zehnpfennig (1987, S.22).
[5] Martens (1977, S.12) übersetzt hier auch mit „Heilkraut“.
[6] Mit den „schönen Reden“ (kaloi logoi) ist die sokratische Dialektik gemeint, die in ihrem Bestreben auf Wahrheit ausgerichtet ist. Vgl. zu diesem Aspekt auch Ekkhard Martens (1986), Charmides, Griechisch-Deutsch, S.87.
[7] Innerhalb der französischen Platonforschung ist Derrida (1995, S.140) auf diesen Aspekt besonders in seiner Deutung eingegangen. Das pharmakon (Heilmittel), welches zunächst im griechischen Sinne als ein Gift zu verstehen ist, kann allerdings nach Umwandlung als ein Gegengift fungieren. Dieses Gegengift soll gegen Charmides‘ Kopfschmerz eingesetzt werden, um ihn von diesen zu befreien. Die „schönen Reden“ bzw. die sokratische Dialektik wird hierbei mit der Wirkung von Zaubersprüchen und pharmaka, d.h. Heilkräutern verglichen, die zu einem Reinigungsprozess führen sollen, indem sie betäuben. Derrida weist in seiner Interpretation daraufhin, dass der sokratische logos hier als pharmakon fungiert und spricht deshalb auch vom „pharmako-logos“ (1990, 141). Die schönen Reden sind nichts anderes als die logoi, die als pharmaka fungieren. Die Besonnenheit als das beste pharmakon hat daher die Gesundheit der Seele zur Folge. Es wird deutlich, dass Derrida in seiner Charmides-Deutung besonders den rednerischen Aspekt in Hinblick auf die Besonnenheit hervorhebt, während das schriftliche Zeugnis –das „Blatt“- ohne die mündliche Rede nicht wirksam ist (1995, S.140f.). Ohne den mündlichen Zauberspruch, der vom Blatt abgelesen werden muss, könnte daher das pharmakon allein nicht wirken. Innerhalb der Charmides-Deutungen ist dies meines Wissens ein Aspekt, der besonders von Derrida in seiner Interpretation betont worden ist. In der deutschen Platonforschung haben Szlezak (1985) und Mielke (2005) ebenso auf die Bedeutung des Pharmakon-Motivs für den Dialog in ihren Interpretationen hingewiesen. Es ist auffallend, dass einige Interpreten wie beispielweise Friedländer (1966) diesem Aspekt wenig Beachtung schenken in ihrer Deutung. Eine eingehendere Analyse der Pharmakon-Thematik innerhalb des Charmides kann hier natürlich nicht geleistet werden. Vgl. dazu ausführlicher Derrida, Szlezak und Mielke.
[8] Wie weit dieser Zusammenhang reicht, möchte ich im weiteren Verlauf anhand einzelner Aspekte dann zeigen.
[9] Hierbei klingt schon ein genuines Thema der sokratisch-platonischen Philosophie an: das Verhältnis zwischen bloßer Meinung (doxa) und wahrem Wissen (episteme). Man kann insofern von einer allgemeinen doxa hier sprechen, aus der sich heraus auch Charmides‘ erste These erklären lässt. Dass er sich auf eine Meinung bezieht, wird für Sokrates‘ Argumentation nicht unwesentlich sein.
[10] Vgl. zu diesem Aspekt auch Theodor Eibert, Meinung und Wissen in der Philosophie Platons (1973).
[11] Vgl. Homer, Odysee 17, 347.
[12] So heißt an dieser Stelle (162e): „ Wenn du also einräumst, das sei die Besonnenheit, was dieser sagt, und du den Satz übernehmen willst: so möchte ich noch weit lieber mit dir untersuchen, ob das Gesagte wahr ist oder nicht.“ Es ist das Primat der Wahrheit, was die sokratische Vorgehensweise leitet.
[13] Vgl. Hesiod, Werke und Tage 311.
[14] Die Unterscheidung zwischen Machen (Poiesis) und Tun (Praxis) wird ausführlicher von Kauffmann (1993) untersucht. Er rückt den Schwerpunkt auf die platonische Handlungstheorie und untersucht den Charmides unter handlungstheoretischen Aspekten. Sein Augenmerk gilt dabei auch der „sokratischen Praxis“ (1993, S.111), wie sie gerade im Dialog sich vollzieht. Die platonische Poesis-Praxis Definition ist deshalb für Kaufmann wichtig, da das Tun des Guten selbst als sittliche Praxis verstanden wird. Und nur ein sittliches Handeln kann als eigentliche Praxis im Sinne Platons verstanden werden, so Kaufmann. Ebenso weist er auf die Bedeutung von Theorie und Praxis im Dialog hin (125).