Über die Nichtvorhersagbarkeit neuer Erscheinungen. Emergenz in der Cage/Cunningham-Collaboration "Points in Space" (1986)


Hausarbeit, 2014

18 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Themenspezifische Definition des Emergenzbegriffs

3. Ästhetische Voraussetzungen für Emergenz innerhalb der Cage/Cunningham-Collaboration
3.1 Independenz der Künste
3.2 Interdependenz der Künste

4. Emergenz am Beispiel von Points in Space

5. Fazit

6. Bibliographie

7. Filmographie

8. Anhang

1. Einleitung

Collaboration „meint als englisches Wort [die] Zusammenarbeit zwischen zwei Parteien, mit dem Zweck etwas Größeres oder wenigstens etwas anderes als die Summe der Einzelteile zu erzielen“.1 Bei den Einzelteilen der Cage/Cunningham- Collaboration, mit der ich mich im Folgenden beschäftigen möchte, handelt es sich um den Tänzer und Choreographen Merce Cunningham und den Komponisten John Cage, deren jeweilige Einflüsse noch immer in der zeitgenössischen Kunstlandschaft spürbar sind.

So war der am 05. September 1912 geborene John Cage nicht nur ein begeisterter Dichter, Maler, Architekt und Pilzwissenschaftler, sondern durch seine Untersuchung der Stille oder durch Erfindungen wie der des Prepared Pianos2 zudem einer der Protagonisten der Neuen Musik.3

Ferner gehörte der am 16. April 1919 geborene Merce Cunningham zu den Ersten, die sich gegen den expressionistischen Charakter des modernen Tanzes4 wandten. Indem er das Augenmerk auf die Bewegung an sich verlagerte, prägte er dessen gesamten Werdegang. Von innovativem Charakter war außerdem seine Entwicklung der Cunningham-Technik5 sowie sein Gebrauch des digitalen Choreographieprogramms Life Forms.6

Und doch erzielte die Zusammenarbeit der beiden Avantgardisten, die 1936 an der Cornish School of the Arts7 in Seattle, Washington, begann, etwas noch Größeres als die Summe dieser separaten Leistungen. Ein Beispiel hierfür ist die Entstehung völlig neuer Kunstformen, wie der des Happening oder der Minimal Art. Zwei vermutlich noch wichtigere Resultate sind die durch Cage und Cunningham etablierte Independenz und Interdependenz8 verschiedener Künste und der bewusste Einsatz des Zufalls während der Produktion ihrer Stücke.

Dieser bereits im Begriff der Collaboration präsenten Emergenz9 möchte ich mich nun widmen. Dabei soll der Fragestellung nachgegangen werden, wie genau sie sich durch die sehr vielschichtige Zusammenarbeit der beiden Avantgardisten zieht. Nach einer einführenden Klärung der Begrifflichkeiten, setze ich daher bei den ästhetischen Voraussetzungen für Emergenz innerhalb der Cage/Cunningham- Collaboration an. Die verschiedenen Ebenen des Begriffs werden anschließend auch an einem praktischen Beispiel untersucht, wobei der Gegenstand der dafür erforderlichen Analyse das Werk Points in Space sein soll.

Besondere Aufmerksamkeit richte ich außerdem auf die Möglichkeiten, die sich aus dem gezielten Einsatz von Emergenz in Bezug auf den Zuschauer ergeben, um abschließend meine These bestätigen zu können, dass in der Cage/Cunningham- Collaboration das Verhältnis von Akteuren und Rezipienten ein neues und einzigartiges war. Ich möchte beweisen, dass John Cage und Merce Cunningham Emergenz nutzten, um die Gleichrangigkeit, die das Verhältnis ihrer Künste bestimmte, auch auf Künstler und Zuschauer auszuweiten.

2. Themenspezifische Definition des Emergenzbegriffs

Um bei den folgenden Untersuchungen zum Thema Emergenz und den aus ihr resultierenden Konsequenzen für den Betrachter Missverständnisse bezüglich der Bedeutung dieses je nach Themenfeld doch recht vieldeutigen Begriffs zu vermeiden, möchte ich zunächst eine Definition dessen vorlegen. Ausgangspunkt dieser bilden die Ausführungen Erika Fischer-Lichtes, die Emergenz als „Nichtvorhersagbarkeit neuer Erscheinungen“10 beschreibt. Dem fügt sie hinzu, dass „in Systemtheorien diejenigen Eigenschaften eines Systems als emergent bezeichnet [werden], die als irreduzibel gelten, d.h. nicht auf die Eigenschaften der Systemteile zurückgeführt werden können.“11 (Erika Fischer-Lichte 2013)

Für den Zuschauer einer Aufführung bedeutet dies, dass eine solche emergierende Erscheinung, nicht innerhalb einer Kausalkette der offensichtlichen Aufführungselemente verortet werden kann. Er vermag also nicht eben jene Erscheinung entweder als Ursache oder als Wirkung in einen vertrauten Kontext zu bringen. Daher richtet sich die Aufmerksamkeit des Zuschauers anstatt auf die Konstruktion (z.B. einer Narration) größtenteils auf das sich den Sinnen Darbietende, also auf die eigentliche Gegenwart der Erscheinung.

Somit ist auch die Ebene der Bedeutung eine andere. Das Wahrgenommene wird nicht als Zeichen wahrgenommen, d.h. es steht nicht für etwas anderes,12 sondern bedeutet „eben das, als was es im Akt der Wahrnehmung für den Wahrnehmenden in Erscheinung tritt“13 und ist somit selbstrefentiell. Infolgedessen können verschiedene Bewusstseins- und Gefühlszustände hervorgerufen werden. Sie variieren von Betrachter zu Betrachter, da auch sie nicht voraussagbar sind, sondern sich ohne dessen willentliches Zutun ereignen. Bedeutungen sind ebenfalls emergent.14

Zwar ist eine Aufführung durch ein vorher festgelegtes Konzept, d.h. durch eine Inszenierung, planbar, aber doch niemals vollkommen kontrollierbar, weshalb ein gewisses Maß an Emergenz immer gegeben und nicht zu vermeiden ist.

Die Cage/Cunningham-Collaboration machte sich jedoch einen sehr viel bewussteren sowie intensiveren Einsatz von Emergenz zu eigen, was ich nun zeigen möchte.

3. Ästhetische Voraussetzungen für Emergenz in der Cage/Cunningham-Collaboration

3.1 Independenz der Künste

Wie in der Einleitung bereits bemerkt, ist eine der größten Errungenschaften der Zusammenarbeit von John Cage und Merce Cunningham die Independenz verschiedener Kunstformen, insbesondere die von Tanz und Musik.

Sie lief der in den 1930er Jahren üblichen Vorstellung des sich gerade emanzipierenden modernen Tanzes entgegen, nach der erst die Choreographie bestehen sollte, bevor ihr die Musik hinzugefügt wurde. Diese Art der Zusammenarbeit bildete wiederrum einen Gegenentwurf zu dem Verhältnis, in dem der klassische Tanz mit der Musik stand.15 Beide Modelle überholten Cage und Cunningham, indem sie die Kreation von Choreographie und Komposition fast vollkommen voneinander trennten. Damit keines der beiden Medien das jeweils andere initiieren konnte, verbanden nur die zuvor festgelegte Dauer16 und das gemeinsame Verfahren17 die unabhängig voneinander und räumlich getrennt ablaufenden Produktionsprozesse.

Die auf diese Weise in den Vordergrund gestellte Autonomie der Künste galt es auch während der folgenden Aufführung, bei der die fertigen Werke oft erstmals aufeinander trafen, beizubehalten. So erfolgten die Darbietungen von Choreographie und Komposition zwar zur selben Zeit im selben Raum, aber ohne miteinander in Beziehung zu stehen.18 Dieser reinen Koexistenz von Tanz und Musik lag der Gedanke zugrunde, dass es sich bei beiden Künsten um „Künste der Zeit [handle, die] sich beide in der Zeit konstituieren und in dieser Eigenschaft also eine ähnliche Struktur haben, [was ihnen] eine ästhetische Zusammengehörigkeit [zureiche]."19 (Sabine Huschka 2000)

Bereits ein solches Vorgehen beinhaltet ein starkes Potential zur Emergenz. Da der Zuschauer die gleichzeitige Aufführung von Choreographie und Komposition als Einheit wahrnimmt, eröffnen sich ihm immer andere, unvorhersehbare Beziehungen zwischen Tanz und Musik, zwischen Sehen und Hören20. Dabei können sich sowohl Übereinstimmungen bzw. Harmonien ereignen als auch das genaue Gegenteil. Sie liegen für den Zuschauer und Zuhörer sowie für die hier besprochenen Künstler aber außerhalb des Planbaren; sie stellen sich von selbst ein21.

3.2 Interdependenz der Künste

Ein weiteres, prägendes Merkmal der Cage/Cunningham-Collaboration ist die wechselseitige Abhängigkeit verschiedener Kunstformen. Sie basiert auf der einheitlichen Methodik, die trotz der unabhängigen Produktionsprozesse, sowohl den Choreographien Cunninghams als auch den Kompositionen Cages zugrunde liegt. Dabei handelt es sich um den Gebrauch von Zufallsoperationen, die die konventionellen Intentionen sowie die Subjektivität des Künstlers überwinden22 und auf diese Weise die Entstehung vollkommen neuer, unerwarteter Ereignisse ermöglichen sollten.

Die wohl bekannteste dafür angewandte Zufallsoperation ist die des I Ching,23 das auf eine gestellte Frage durch ein zufällig ermitteltes Zeichen, welchem jeweils ein Spruch des Orakels zugeordnet ist,24 antwortet. Die so konstituierten Handlungsanweisungen nutzten beide Avantgardisten - wenn auch in unterschiedlichem Maße.

Cunningham für seinen Teil legte auf diese Weise die Abfolge von Bewegungen25 und ganzen Bewegungsfolgen, aber auch die Anzahl und Anordnung der Tänzer innerhalb eines Tanzes fest.26 Zwar traten dadurch oftmals Probleme aufgrund physischer Einschränkungen auf, doch erzeugte ihre kreative Lösung wiederrum eine gewisse Unvorhersehbarkeit.

Cage war in seiner Anwendung um einiges radikaler, indem er das I Ching oftmals für komplette Kompositionen gebrauchte.27 Zudem überließ er die Ausführung eines durch den Einsatz von Zufallsoperationen z.B. nur eingeschränkt spielbaren Stück nicht selten den Interpreten, die somit selbst zu Komponisten avancierten.

Andere Zufallsoperationen, die Eingang in die Zusammenarbeit der Künstler fanden, waren das bloße Werfen von Würfeln und Münzen oder auch die „Papier- Unebenheiten-Methode“,28 bei der Cage etwaige Unebenheiten auf einem Papier in die Komposition integrierte.

Ähnlich dem Prozess der unabhängig voneinander produzierten Kunstwerke war auch der Zweck dieser Methodik das Entstehen von nicht vorsehbaren Ereignissen, wobei jedoch ein Unterschied zu den emergierende Beziehungen von Tanz und Musik besteht.

[...]


1 Siehe Julia H. Schröder, Cage/Cunningham-Collaboration. In- und Interdependenz von Tanz und Musik, Hofheim 2011, S. 13, Fußnote.

2 Bei dem Prepared Piano sind einige der Saiten des Klaviers oder Flügels mit verschiedenen Gegenständen versehen, was es eine größere Vielfalt an Klängen erzeugen lässt.

3 Der Begriff meint im Wesentlichen die zu Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzende äußerst heterogene Strömung, die sich mit der Erweiterung und Erneuerung der bis dahin bestehenden Vorstellungen von Harmonie, Melodie, Klang und Rhythmus beschäftigte.

4 Vgl.: „Dance is the hidden language of the soul.“ Martha Graham (Innovatorin des modernen Tanzes), Interview in: The New York Times 1985.

5 Seine Technik beinhaltet eine tiefgehende Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper und einem daraus resultierenden Verständnis für die ihm möglichen Prozesse.

6 Dieses Programm animiert Bewegungsfolgen anhand von Strichmännchen, die dadurch aus verschiedensten Perspektiven zu beobachten sind.

7 Bevor Cunningham nach New York zog, um dort der Martha Graham Dance Company beizutreten, studierte er an der Cornish School of the Arts Tanz bei Bonnie Bird. Cage hatte zur selben Zeit eine Stelle zur musikalischen Begleitung dieser Tanzklasse inne.

8 Vgl. Julia H. Schröder, Cage/Cunningham-Collaboration. In- und Interdependenz von Tanz und Musik, Hofheim 2011, Titel.

9 Siehe S. 4: Themenspezifische Definition des Emergenzbegriffs. 3

10 Siehe Erika Fischer-Lichte, Emergenz in: Dies. (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie. 2., aktualisierte und erw. Aufl. Stuttgart 2013, S. 89f.

11 Ebd., S. 90.

12 Dieser Wahrnehmungsmodus wird als semiotisch bezeichnet. Obwohl die phänomenologische Art der Rezeption in den Aufführungen des hier behandelten Themas dominant ist, treten insgesamt immer beide Modi abwechselnd auf.

13 Ebd., S. 33.

14 Vgl. hierzu außerdem Gerhard Roth, Kognition. Die Entstehung von Bedeutung im Gehirn in: Wolfgang Krohn (Hg.): Emergenz: die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung, Frankfurt am Main 1992, S. 104ff.

15 Ein Ballett beispielsweise richtet sich zumeist nach einer bereits bestehenden Partitur.

16 Tatsächlich erfolgte diese Ablösung der Produktionsprozesse schrittweise. Zu Beginn ihrer Zusammenarbeit vereinbarten Cage und Cunningham noch verschiedene rhythmische Strukturen und andere kompositorische Gemeinsamkeiten.

17 Siehe S. 6: Zufallsoperationen.

18 Es gibt allerdings Ausnahmen, die eine gewisse Koordination zwischen Tanz und Musik bzw. zwischen Interpret und Tänzer beinhalten.

19 Vgl. Sabine Huschka, Merce Cunningham und der Moderne Tanz. Körperkonzepte, Choreographie und Tanzästhetik, Würzburg 2000, S. 366. Das beschriebene Vorgehen wurde trotzdem später auf andere Künste ausgeweitet, wie z.B. die des Bühnenbilds oder des Kostümdesigns. Ein erstes auf diese Weise entstandenes Bühnenbild steuerte der Künstler Robert Rauschenberg bei.

20 Siehe hierzu: „Bei multisensorischen Darbietungen ist die Summe des Wahrgenommenen größer oder kleiner als ihre Teile einzeln genommen͘“ Julia H. Schröder, Cage/Cunningham-Collaboration. In- und Interdependenz von Tanz und Musik, Hofheim 2011, S. 64.

21 Cage bezeichnet dieses Konzept als Durchdringung oder Interpenetration. Es entstammt dem ZenBuddhismus, mit der er und teilweise auch sein Partner Cunningham sich des Längeren beschäftigten. Für Cunningham jedoch basieren die sich ergebenden Beziehungen von Tanz und Musik nur auf ihrer Gleichzeitigkeit bzw. Kopräsenz.

22 Auch diese Idee der Nicht-Intentionalität entstammt dem Zen-Buddhismus. 6

23 Dieses auch I Ging genannte chinesische Buch der Wandlungen enthält eine Sammlung von Strichzeichen, die der Orakel-Praxis entstammen.

24 Dies ist eine stark zusammengefasste Beschreibung der Benutzung des I Ching.

25 ufgrund von Cunninghams Verständnis von Tanz als ein „movement in time and space“ (Merce Cunningham, Interview in: The New York Times 1980), d.h. als eine rein körperliche Aktion, die nichts mit Emotionen o.ä. zu tun hat, sondern nur durch die Physis und Imagination des Tänzers beschränkt wird, beinhalteten seine Choreographien oftmals Alltags- oder Tierbewegungen.

26 Sixteen Dances for Soloist and a Company of Three (1951) war die erste Choreographie, die unter dem Einfluss von Zufallsoperationen entstand.

27 Außerdem wandte er sie auf seine literarischen und graphischen Werke an.

28 Siehe Julia H. Schröder, Cage/Cunningham-Collaboration. In- und Interdependenz von Tanz und Musik, Hofheim 2011, S. 80.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Über die Nichtvorhersagbarkeit neuer Erscheinungen. Emergenz in der Cage/Cunningham-Collaboration "Points in Space" (1986)
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Institut für Theaterwissenschaft)
Veranstaltung
Aufführungsanalyse
Note
1,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
18
Katalognummer
V316836
ISBN (eBook)
9783668165656
ISBN (Buch)
9783668165663
Dateigröße
1232 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Theaterwissenschaft, Theater, Performance, Cage, Cunningham, Emergenz, Avantgarde, Collaboration
Arbeit zitieren
Sally Seifert (Autor:in), 2014, Über die Nichtvorhersagbarkeit neuer Erscheinungen. Emergenz in der Cage/Cunningham-Collaboration "Points in Space" (1986), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/316836

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