Seit der Inbetriebnahme der ersten Demonstrations-Kernkraftwerke in der Bundesrepublik zur Mitte der 1960er Jahre, stellte die Kernenergie für die Regierungspartei SPD stets ein vorrangiges technologie- und industriepolitisches Ziel dar. In den 1960er Jahren war die Kernenergie, von ihrer Kapazität her, jedoch noch weit davon entfernt, eine energiepolitische Rolle zu spielen. Die Regierungspartei SPD hatte auch bis dahin keinerlei energiepolitische Konzepte ausgearbeitet, die über die Rettung des krisengeschüttelten und des sozialpolitisch so bedeutsamen Energieträgers Kohle hinausgingen. Energiepolitik war in erster Linie Kohlepolitik. Der stetig wachsender Energieverbrauch der Bundesrepublik wurde als Indikator für Wachstum und Wohlstand interpretiert, und von daher bestand kein Handlungsbedarf, bezüglich des Energieverbrauchs politische Überlegungen anzustellen.
Nach der, durch massive Investitionen der öffentlichen Hand, rasch beendeten Rezession von 1966/67 und der Aufwertung der D-Mark im Jahr 1969 bestand plötzlich ein enormes Bedürfnis seitens der Industrie, das nun im Überfluss bereitstehende Kapital zu investieren. Die kapitalintensive Kerntechnik bot hier ein ideales Investitionsgebiet und so wurde ein Grossteil der Kernenergiekapazität der 1970er Jahre, von den Energieversorgungsunterneh-men im Alleingang und ohne die bisher üblichen staatlichen Subventionen errichtet. Eine energiepolitische Notwendigkeit hierfür, bestand angesichts des im Überfluss bereitstehenden Stein- und Braunkohlevorräte und des zunächst noch billigen Erdöls, nicht. Die Bundesregierung wurde in Hinblick des Kernenergieausbaus durch die Energiewirtschaft vor vollendete Tatsachen gestellt und so stand zu Beginn der 1970er Jahre die Kernenergie zur Energieer-zeugung zur Verfügung. Zur Mitte der 1970er Jahre war die Volkspartei SPD in eine tiefe Krise geraten, da die von ihr jahrelang propagierten Wachstumsvorstellungen nicht mehr mit der Erfahrungen aus der Energiekrise 1973/74 in Einklang gebracht werden konnten. Insbesondere die Vorstellung, ein Zuwachs an Energieverbrauch bedeute auch einen Zuwachs an Wohlstand bzw. an Beschäftigung wurde durch die, infolge des „Ölpreisschocks“ vom Herbst 1973 veränderten Rahmenbedingungen, revidiert.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Einführung und Fragestellung
- Der Untersuchungszeitraum 1966-1977
- Forschungstand
- Quellen
- I. Kapitel: Energiepolitische Weichenstellungen der Großen Koalition: Kohlehalden und Demonstrations-Kernkraftwerke
- Das Krisenmanagement der SPD für den Erhalt des Energieträgers Kohle
- Die staatliche Förderung der Kernenergie
- Der übereilte Einstieg in die Kernenergie und die verhinderte Konfrontation zwischen den Energieträgern Kohle und Kernenergie
- Kernenergie in Parlament und Öffentlichkeit der 1960er Jahre
- II. Kapitel: Die Schaffung von vollendeten Tatsachen. Kernenergie und das „moderne Deutschland“
- „Das moderne Deutschland“: Wachstum und Wohlstand für alle
- Ökonomische Gründe für die Expansion der Kernenergiekapazität in der Bundesrepublik Deutschland
- Kernforschung und die Bildungspolitik der sozialliberalen Koalition
- Das Erwachen der Öffentlichkeit
- III. Kapitel: Kernenergie und Energiepolitik im Zeichen der Energiekrise 1973/74
- Das erste Energieprogramm der Bundesregierung vom September 1973
- Das vierte Atomprogramm der Bundesregierung vom Oktober 1973: Kernenergie als Anti-Öl Strategie?
- Die erste Fortschreibung des Energieprogramms von Herbst 1974: Kernenergie als Bestandteil des „Krisenmanagements“
- Die zweite Fortschreibung des Energieprogramms vom Dezember 1977: Das Ende der Kernenergieexpansion
- IV. Kapitel: Die SPD im Atomkonflikt 1974-1977
- Der Beginn der innerparteilichen Problematisierung der Kernenergienutzung und die Auseinandersetzung um das „Restrisiko“
- Die Volkspartei in der Auseinandersetzung mit der Anti-AKW-Bewegung und die Auflösung des innerparteilichen nuklearen Konsenses
- Das Entsorgungsproblem und die Eskalation von Brokdorf
- Die Kernenergiefrage wird zur Zerreißprobe
- Der Hamburger Parteitag 1977: Die „Optionenlehre“ und der verhinderte Bruch der Partei
- Schluss
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit analysiert die Kernenergiepolitik der SPD in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1966 und 1977. Der Fokus liegt auf der Rolle der SPD bei der Einführung und dem Ausbau der Kernenergie, insbesondere im Kontext der Großen Koalition (1966-1969) und der sozialliberalen Koalition (1969-1982).
- Die Entwicklung der SPD-Position zur Kernenergie von der anfänglichen Atomophobie zu einer pro-nuklearen Haltung.
- Die Bedeutung der Kernenergie im Rahmen der energiepolitischen Strategien der SPD-geführten Regierungen.
- Der Einfluss der SPD auf den Ausbau der Kernenergiekapazität in der Bundesrepublik.
- Die Auswirkungen der ersten Ölkrise (1973) und der daraus resultierenden Anti-AKW-Bewegung auf die Kernenergiepolitik der SPD.
- Die Entstehung und Entwicklung innerparteilicher Konflikte in der SPD aufgrund der Kernenergiedebatte.
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel analysiert die energiepolitischen Entscheidungen der Großen Koalition, insbesondere die Förderung der Kohle und die Einführung der Kernenergie. Es wird die Rolle der SPD im Krisenmanagement für den Erhalt des Energieträgers Kohle und die staatliche Unterstützung der Kernenergie beleuchtet. Das zweite Kapitel behandelt die Expansion der Kernenergie in der Bundesrepublik und ihren Einfluss auf die “moderne Deutschland”-Ideologie von Wachstum und Wohlstand für alle. Es beleuchtet die ökonomischen Gründe für den Ausbau der Kernenergiekapazität und die Bedeutung der Kernforschung für die Bildungspolitik der sozialliberalen Koalition. Das dritte Kapitel betrachtet die Energiepolitik im Zeichen der Ölkrise von 1973/74 und die Rolle der Kernenergie als Anti-Öl Strategie. Es untersucht die Entwicklung der Energieprogramme der Bundesregierung und die Einbindung der Kernenergie in das “Krisenmanagement”.
Schlüsselwörter
Kernenergiepolitik, SPD, Große Koalition, sozialliberale Koalition, Kohle, Kernenergie, “modernes Deutschland”, Wachstum, Wohlstand, Anti-AKW-Bewegung, Ölkrise, Energieprogramme, Entsorgungsproblem, Brokdorf, Optionenlehre, innerparteilicher Konflikt.
- Arbeit zitieren
- Christian Schaaf (Autor:in), 2002, Die Kernenergiepolitik der SPD von 1966 bis 1977, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/3181