Erschwernisse hinsichtlich der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen. Natürlicher gegen autonomer Wille und das Problem der Identität


Essay, 2016

5 Seiten


Leseprobe

Natürlicher gegen autonomer Wille und das Problem der Identität –

Erschwernisse hinsichtlich der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen

Es gehört zu den medizinischen Standards, Patienten aufzuklären und erst nach ihrer Ein­willigung eine Behandlung durchzuführen, um ihre Autonomie zu festigen und vor ärzt­licher Bevormundung zu schützen.[1] Auch Patientenverfügungen werden nach diesen Maß­stäben ausgefüllt und sollen den Verfasser insoweit schützen, als dass später nicht gegen seinen Willen gehandelt wird. Doch auch unter solchen Umständen kann man ihre Bin­dungswirkung in Frage stellen. Grundlage der folgenden Ausführungen ist der Text „Zur Frage der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen“[2] von Reinhard Merkel. Grundlegend ist der Wille, der in einer Patientenverfügung formuliert wird, ein autonomer Wille. Den aktuell-gegenwärtigen Willen eines Patienten bezeichnet man hingegen als einen natürlichen Willen.

In Diskussionen stehen sich vorherrschend zwei Positionen gegenüber. Während sich die eine für eine unbedingte Bindungswirkung einsetzt, lehnt die andere eine solche ab. Erstere Auffassung sieht in der Verbindlichkeit die Achtung vor der Autonomie des Patienten, welcher sich sicher sein können muss, dass sein vorformulierter und autonomer Wille auch dann geltend ist, wenn eine künftige Situation der Willensunfähigkeit eintritt, für genau die er sich abgesichert hat. Die konträre Position betrachtet die Patienten­verfügung nicht als unbedingten Gegenstand, sondern vielmehr als ein Indiz, welches her­angezogen wird, um zu sehen, ob es gegen­wärtigen Indizien – die dann dem natürlichen Willen entsprechen – widerspricht oder bei­pflichtet, wobei im Falle eines Widerspruchs die Verfügung ihre Gültigkeit verliert.

Doch welcher Wille sollte nun wirklich Priorität haben? Gewährt man dem natürlichen Wil­len Vorrang, sobald er dem autonomen Willen widerspricht, würde das Verfassen einer Patientenverfügung keinen Zweck erfüllen. Schließlich dient sie als schriftliche Formu­lierung für das eventuelle Unterlassen oder Ergreifen medizinischer Maßnahmen für den Fall, in dem es einem nicht mehr möglich ist, Entscheidungen dieser Art zu treffen.[3] Sofern sie dann aber bei mutmaßlichen Hinweisen auf einen entgegengesetzten Willen außer Kraft gesetzt wird, hätte man sie auch gar nicht erst schreiben müssen. Zudem wäre dann auch eine Informierung des Verfassers dahingehend nötig, dass der von ihm niedergeschriebene Wille für ihn als künftigen Patienten unter entsprechenden Umständen nichtig wäre.

Weil in einer Patientenverfügung konkrete Handlungsmaßnahmen artikuliert worden sind, erscheinen im Gegensatz dazu die Merkmale des natürlichen Willens unzureichend, um solche Maßnahmen bestimmen zu können, geschweige denn den natürlichen Willen als eine Rücknahme des autonomen Willens zu deuten. Geht man bei­spielsweise von einer Person (Patient A) aus, die sich in ihrer Patientenverfügung gegen lebenserhaltende Maßnahmen ausgesprochen hat, sich nun in dem betreffenden Zustand befindet und unfähig zur Äußerung eines Willens ist, sich aber an vielen alltäglichen Kleinigkeiten erfreut. Man kann hier nicht mit Bestimmtheit sagen, dass ihre Freude für einen Lebenswillen spricht und sie damit die angeordnete Vorgehens­weise revidieren möchte. Es kann genauso gut sein, dass sie mit den Umständen unglücklich ist und darauf wartet zu sterben, ihrer Umwelt zuliebe oder ihretwegen aber das Beste aus der Situation machen und als fröhlicher Mensch in Erinnerung bleiben möchte, anstatt sich hängen zu lassen und Unfrieden zu verbreiten.

Zur Manifestierung des Vorrangs des natürlichen Willens als Entscheidungskriterium, müsste man ihm konsequent Folge leisten. Also auch dann, wenn er sich gegen das Leben aus­sprechen würde. Hierbei hätte Patient A sich zuvor für lebenserhaltende Maßnahmen ausgesprochen, erträgt später aber anscheinend nicht einmal mehr simple Alltagssituation und scheint durch jene belastet. Während im ersten Beispiel die klare Identifizierung des Lebenswillens an­hand von möglichen Deutungsalternativen nicht erfolgte, erscheint die Bestimmung eines Lebensunwillens eindeutiger. Aber ist Lebensunwille wirklich greifbarer als Lebens­wille? Kann es sich nicht doch nur um eine schlechte Phase handeln, die sich nach einiger Zeit wie­der legt? Und wenn ja, erträgt man es so lange einen Angehörigen leiden und unglücklich zu sehen? Sich mithilfe des natürlichen Willens und dessen Vorrang für das Leben einsetzen zu wollen, ist durchaus nachvollziehbar. Doch vermutlich niemand möchte sich für den Tod einsetzen. Allerdings nur dann für den natürlichen Willen zu argumentieren, wenn er sich zugunsten der Lebenserhaltung ausspricht, kennzeichnet kein gutes, geschweige denn ein rechtmäßig zu legitimierendes Entscheidungskriterium.

Es ist nicht selten der Fall, dass sich die Überzeugungen eines Menschen im Laufe seines Lebens verändern. Im Gegensatz zu einer Patientenverfügung hat man sich aber nicht auf etwas Konkretes festgelegt und kann sich in der betreffenden Situation selbst äußern und entscheiden. Daher ist es unabdingbar, dass der Verfasser sich über viele Szenarien Gedanken machen muss, die möglicherweise und höchstwahrscheinlich außerhalb seiner Vorstellungskraft liegen. Selbst wenn man sich intensiv mit der Thematik auseinandergesetzt oder sogar beobachtet haben sollte, wie ein Verwandter oder Bekannter an lebenserhaltende Maßnahmen gebunden und von seinem früheren Wesen wenig bis nichts mehr zu erkennen war, kann man so einen Zustand nicht vollständig für sich selbst imaginieren. Man muss also abwägen, ob die eigenen Wertevorstellungen und die Prioritätensetzung konstant bleiben oder sich verändern bzw. verschieben könnten. Macht sich ein Verfasser über die Möglichkeiten eines abweichenden, späteren Willens – also über den natürlichen Willen – Gedanken, gibt es nicht genügend Rechtfertigung, um die Patientenverfügung anzuzweifeln. Argumente, dass der Verfasser gar nicht wirklich berücksichtigen und bewerten konnte, ob und wie oder wie nicht seine Werte und Prioritäten variieren würden, kann man wiederrum mit demselben Argument entgegenwirken, da sich seine Befürworter genauso wenig in die Situation hineinversetzen können.

Wer den natürlichen Willen vorzieht, ist weitaus emotionaler und subjektiver als diejenigen, die den autonomen Willen priorisieren und rationaler ausgelegt sind. Man kann sich als Angehöriger noch so bewusst darüber sein, dass jemand lieber gehen gelassen werden möchte, als mit der Einschränkung oder dem Verlust seiner Fähigkeiten und Fertigkeiten zu leben, klammert sich in der konkreten Situation dann aber an die kleinsten Anzeichen, die man als einen Lebenswillen interpretieren könnte. Sicher dient eine Patientenverfügung auch dem Schutz der Angehörigen. Sie soll ihnen ein Dilemma ersparen, ein Hin und Her zwischen „Wollte er das wirklich so?“, „Will er jetzt etwas anderes?“ und „Was ist wohl das Beste für ihn?“, indem eine klare Regelung, die den Vorstellungen des Patienten entspricht, vorliegt und die Verwandten wissen lässt, dass alles so geschieht, wie er es wollte und das Loslassen einfacher macht. Eventuell stellt man sich solche Fragen trotzdem noch, aber man hat immer schwarz auf weiß etwas stehen, das einem eine Antwort gibt.

Alles in allem ist es anscheinend besser auf den autonomen Willen und die Patientenverfügung zu vertrauen. Wer subjektiv und emotional auf den natürlich Willen vertraut, läuft letztlich doch einfach Gefahr, sich fehlleiten zu lassen und basierend auf eigener Empfindungen zu interpretieren, statt sich voll und ganz in die Lage des Patienten zu versetzen und möglichst in seinem Interesse zu argumentieren. Auch wenn der autonome Wille rationaler ausgelegt ist, bedeutet das nicht, dass er keine emotionale Komponente besitzt. Es zeugt durchaus von Empathie und emotionaler Größe, den Wunsch eines Menschen in einer bestimmten Lage sterben zu wollen, zu akzeptieren, anstatt ihn basierend auf eigenen Gefühle am Leben zu erhalten.

Nach Reinhard Merkel (Zur Frage der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen, 2004) trägt keine der beiden Positionen dem eigentlichen Grundsatzproblem Rechnung. Dieses bestehe nämlich nicht darin, ob entweder der autonome oder der natürliche Wille einen Vorrang haben sollten, sondern vielmehr darin, ob man die Patientenverfügung sowohl der Person, die sie verfasst hat als auch der Person, die von ihren Auswirkungen betroffen ist, zuordnen könne. Natürlich handelt es sich physisch gesehen um denselben Menschen, aber ist auch eine psychische Übereinstimmung zutreffend? Anders gesagt: Ist die Identität des Verfassers auch die des künftig zu Behandelnden?

Merkel zufolge sind bestimmte personale Dispositionen Voraussetzung für Patientenverfügungen. Die in ihr angeordneten Behandlungen beziehen sich auf den Umgang mit seiner physischen Komponente und werden unter bestimmten subjektiven Überzeugungen geschrieben, deren spätere Durchsetzung zugleich beabsichtigt wird. Hier kommt das Identitätsproblem zum Tragen: Demselben physischen Körper können nicht dieselben personalen Merkmale zugeschrieben werden, wenn zu ihnen kein subjektiver Bezug mehr besteht – es handelt sich nicht mehr um die Identität derselben Person, nur noch um denselben Körper. Deshalb sind weitere Maßnahmen ohne die Patientenverfügung und anhand aktueller Hinweise zu treffen, da man ansonsten das rechtliche Fundamentalprinzip, dass eine Person nicht wirksam über eine andere Person verfügen kann, verletzen würde. Aber woran kann man festhalten, ob man einer Person ihre ‚alte‘ Identität weiterhin zuschreiben bzw. aberkennen oder ihr eine ‚neue‘ zugestehen soll?

„[…] ein denkendes, verständiges Wesen, das Vernunft und Überlegung besitzt und sich selbst als sich selbst betrachten kann. Das heißt, es erfaßt sich als dasselbe Ding, das zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten denkt. Das geschieht lediglich durch das Bewußtsein […]“[4]

[...]


[1] Vollmann, J. (2000). Einwilligungsfähigkeit als relationales Modell Klinische Praxis und medizinethische Analyse. Der Nervenarzt, 71(9), 709

[2] Merkel, R. (2004). Zur Frage der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen. Ethik in der Medizin. 16(3), 298 – 307

[3] http://www.duden.de/rechtschreibung/Patientenverfuegung

[4] Locke, John. Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 1. Buch 1 & 2, Hamburg 2006, S. 419

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Details

Titel
Erschwernisse hinsichtlich der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen. Natürlicher gegen autonomer Wille und das Problem der Identität
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum  (Philosophie I)
Autor
Jahr
2016
Seiten
5
Katalognummer
V322190
ISBN (eBook)
9783668223769
ISBN (Buch)
9783668223776
Dateigröße
379 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Patientenverfügung, autonomer Wille, natürlicher Wille, Identität, Person, Mensch, John Locke
Arbeit zitieren
Kira Lewandowski (Autor:in), 2016, Erschwernisse hinsichtlich der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen. Natürlicher gegen autonomer Wille und das Problem der Identität, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/322190

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