Leseprobe
Inhalt
1) Einleitung
2) Rohstoffe und Reichtum – Die Vorgeschichte zum Drama
3) Stagnationen innerhalb des Dramas
3.1) ‚Vor Sonnenaufgang‘ – Was der Titel offenbart
3.2) Die zwei Seiten der Beziehung von Helene und Loth
3.2.1) Die Charakteranalyse der weiblichen Hauptfigur
3.2.2.) Die Charakteranalyse der männlichen Hauptfigur
3.2.3.) Der Fremde als Verräter?
4) Das Werk als Umbruch
4.1) Arbeiter in Zeiten der Industrialisierung
4.2) Naturalistische Strömungen in ‚Vor Sonnenaufgang‘
4.3) Der Vergleich zum klassischen Drama
5) Ein Fazit
Literaturverzeichnis
1) Einleitung
Gerhart Hauptmann betitelt ‚Vor Sonnenaufgang‘ als ‚Soziales Drama‘ und prägt so die Gesellschaft seiner Zeit. Der Autor zeichnet ein präzises, der Wirklichkeit entsprechendes Bild im naturalistischen Sinne, welches auf zahlreiche Leben projiziert werden kann. Ausgewählte Themen wie Alkoholismus, Inzest und Industrialisierung spiegeln zeitgenössische Problematiken wider.
Im Folgenden wird erst das Drama an sich analysiert, um dann das Werk als Ganzes zu betrachten – Warum gilt dieses literarische Meisterwerk als naturalistischer Durchbruch in Deutschland? Zeigen nicht allein der Titel und die Figuren einen inhaltlichen Stillstand auf, wodurch Hauptmann als bloßer Wiedergeber fungiert? Schließlich zerstört Loths Weggang am Ende jegliche Hoffnungsschimmer auf Besserung für die Familie Krause, allen voran für Helene. Ist es demnach das Werk an sich, das besonders anhand der Regieanweisungen Hauptmanns neue Türen in der Literatur, im allgemeinen Denken und für künftige Epochen öffnet?
Im Zentrum steht also die Frage, ob es der Bruch mit dem Alten und eben dieses Aufzeigen von Stagnationen ist, was letztlich den Erfolg von ‚Vor Sonnenaufgang‘ ausmacht.
2) Rohstoffe und Reichtum – Die Vorgeschichte zum Drama
Im Folgenden werden speziell ausgewählte, epochentypische Merkmale kurz erläutert und in einen Zusammenhang mit Hauptmanns Figuren gebracht, um grundsätzliche Gegebenheiten des Naturalismus für diese Arbeit zu klären.
Der erste Akt beginnt sogleich mit dem unmittelbaren Eintreffen Alfred Loths1 2. Diese Figur markiert mit ihrem Erscheinen und dem plötzlichen Verschwinden den Rahmen des Werkes. Zudem enthüllt Loth – im Sinne eines analytischen Dramas3 - in seinem ersten Gespräch mit dem Ingenieur Hoffmann, wie die schlesische Bauernfamilie, besonders durch Hoffmanns krumme Machenschaften, an den Reichtum gelangte (vgl. 18). Dadurch wird die Vorgeschichte um den Kohlefund auf dem Grundstück der Krauses bekannt. Dieser unvorhergesehene Reichtum trägt deutlich zum Verfall der Figuren bei: Bauer Krause versinkt im Alkohol, genau wie Martha, die aufgrund dessen ihre beiden Kinder verliert; die zweite Frau des Bauern spart ebenfalls nicht am Alkohol, liebt teure Essensspezialitäten und pflegt eine Art Beziehung zu ihrem Neffen, den sie eigentlich für Helene vorgesehen hat4 5.
Zur Zeit der Industrialisierung6 zog es die meisten Menschen vom Land in die Städte. Hier versprachen sie sich sichere, gut bezahlte Arbeitsplätze. Aus dem Landgut konnte immer weniger Profit erzielt werden, „[. . .] soweit [eben] nicht unter der Ackerkrume Bodenschätze entdeckt wurden.“7.
Umso seltsamer ist es, dass diese Bauernfamilie das ‚Glück‘ hat, auf so einen Rohstofffund zu stoßen, wodurch sie ihr bisheriges Landleben nicht aufgeben müssen. Sicherlich muss diese Lebensart ebenfalls mit harter Arbeit in Verbindung gebracht werden, genauso jedoch mit Begriffen wie Ruhe, Idylle und innerem Frieden. Die Landluft, die ja nicht durch den Qualm aus den Fabrikschornsteinen der Städte verpestet wird, steht paradoxerweise für Gesundheit und Reinheit.
Dieses eigentliche ‚Glück‘ vernichtet die Familie Krause und stürzt sie ins Unglück, indem sie sich vom, in der Vorgeschichte gewonnenen, Reichtum kontrollieren lassen und somit fremdbestimmt werden/sind. Luxus und Bauernleben stehen einander gegenüber und symbolisieren „die sozialen Umbrüche der Moderne“8.
3) Stagnationen innerhalb des Dramas
Nun liegt der Fokus auf dem Werkinneren. Es wird überprüft, inwieweit hier von einem Stillstand gesprochen werden kann und woran dies festgemacht wird.
3.1) ‚Vor Sonnenaufgang‘ – Was der Titel offenbart
Der Sonnenaufgang bringt immer und immer wieder einen neuen Tag mit sich. Es ist ein Kreislauf, der wichtigste der Natur. Jeder Tag birgt die Chance auf einen Neuanfang und das Abschließen eines Kapitels. Somit kann der zum Nebentext gehörende Titel generell als Umbruch angesehen werden. Auf der anderen Seite verweist der Titel aber auf die Zeit zwischen Altem und Neuem, repräsentiert demnach die aufbauende Phase, die normalerweise von der Energie des Schlafs profitiert. Um vier Uhr morgens, bevor die Sonne aufgeht, verfällt der Bauer Krause jedoch regelmäßig zurück in die Dunkelheit, in welcher er auch jeden Abend zum Wirtshaus geht. Auftreten tut er nur bei der jeweiligen Rückkehr am Morgen, wenn die Hoffnung für ihn längst wieder erloschen ist. Somit steht der Titel für „den Wiederholungszwang in einem dumpfen, von Alkohol zerrütteten Leben“9. Auch die Bezeichnung ‚Soziales Drama‘ gibt an, dass die Familie von dem sozialen Milieu determiniert ist.
Die Verbindung von Helene und dem Werktitel ist eine etwas andere – Die jüngere Bauerstochter trägt noch Funken der Hoffnung in sich, wenn die Sonne erwacht und sehnt sich nach dem Entfachen dieser: „[N]ur ist es so öde hier. So . . . gar nichts für den Geist gibt es. Zum Sterben langweilig ist es.“ (23). Loth vermag es, ihr Kraft und Mut, aber ebenso etwas für den ‚Geist‘ zu geben, sodass Helene in ihm ihre Rettung, ihre Sonne erblickt (vgl. 96). Doch noch bevor diese erneut aufgeht, ist Loth als Sonne schon verglüht, Helenes Hoffnungen verwehen in der späten Nacht. Als ihr Vater am zweiten Morgen vor dem Sonnenaufgang betrunken nach Hause kehrt, nimmt Helene die in ihren Augen einzige verbleibende Möglichkeit in Anspruch, sich selbst zu befreien10 (vgl. 123). Nur auf diese Weise kann sie jetzt noch der Sonne entgegen kommen, sich also von ihrem Umfeld lösen. Gleichzeitig bestimmt ihr momentaner Schmerz ihre Handlung und nimmt ihr das Leben.
3.2) Die zwei Seiten der Beziehung von Helene und Loth
Wie bereits angedeutet, bietet dieses besondere, das Drama tragende Verhältnis facettenreiche Möglichkeiten der Beobachtung und Interpretation hinsichtlich der zentralen Frage dieser Hausarbeit.
3.2.1) Die Charakteranalyse der weiblichen Hauptfigur
Helene Krause ist „körperlich und moralisch gesund geblieben, denn auf Wunsch ihrer verstorbenen Mutter wurde sie bei den Herrnhutern erzogen, einer frommen evangelischen Erziehungsgemeinschaft“11. Die Tochter des Bauern, die „[i]m August einundzwanzig gewesen“ (76), kehrte vor vier Jahren zurück auf den Hof. Sie findet zu niemandem aus ihrer Familie Anschluss (vgl. 96). Helene spricht sich mehrmals gegen die Trinkerei aus und bevorzugt eher „Strick, Messer, Revolver! [. . .] [als] auch zum Branntwein [zu] greifen“ (63). Ihre Freizeit widmet Helene der Literatur, was für sie Ruhe und die geistige Förderung bedeutet (vgl. 90). Somit setzt sie sich von ihrer Familie ab, die sich nur mit Alkohol, Inzest und Rauchen die Zeit vertreibt. Ihr Sprachgebrauch spiegelt ihre Bildung und menschliche Reife wider (vgl. 59):
HELENE. Gut! dann will ich dem Vater erzählen, daß du mit Kahl Wilhelm die Nächte ebenso verbringst. FRAU KRAUSE schlägt ihr eine Maulschelle. Do hust an Denkzettel!
HELENE, todbleich, aber noch fester. Die Magd bleibt aber doch, [. . .] sonst bring‘ ich’s herum! Mit Kahl Wilhelm, du! [. . .] mein Bräutjam12 [. . .].
Sie beherrscht die hochdeutsche Sprache und kann sich gewählt ausdrücken. Nachdem Frau Krause sie schlägt, bleibt sie bestimmt und gerecht. Helene steht somit für einen Umbruch innerhalb ihrer Familie und wird dementsprechend ohne Nachname aufgeführt, um die Abgrenzung zu verdeutlichen.
Andererseits fehlt ihr der Mut, von selbst etwas zu ändern, obwohl sie die finanziellen Mittel hat (vgl. 93). Sie hält weiterhin zu ihrem Vater und sagt, er „[sei] noch gesund“ (98), obwohl er sich sogar an ihr vergriffen hat (vgl. 43).
Ihr Leben steht also in gewisser Weise still, denn „ ihre ganze Erscheinung überhaupt verleugne[t] das Bauernmädchen nicht ganz “ (9).
3.2.2.) Die Charakteranalyse der männlichen Hauptfigur
Alfred Loth kann als gewollter Umbruch verstanden werden. „Mit der von außen eintretenden Figur des sozialistischen Reformers“13 nimmt das Drama seinen Lauf. Loth ist ebenfalls kein Trinker und gibt vortragsartig die Dimensionen der schlimmen Folgen des Alkoholkonsums wieder (vgl. 35). Als „Akademiker“14 ist er sehr gebildet und spricht Hochdeutsch. Selbst das Gespräch mit Beibst, dem eigensinnigen und ungebildeten Arbeiter, bringt Loth nicht davon ab, sein Wissen zu teilen (vgl. 45). Gleichzeitig verwendet er Fremdwörter und Fachtermini, womit er seinen höheren Grad an Bildung und sozialer Stellung ausdrückt: „Ich weiß, bei den Ikariern hatte man auch solche Exstirpatoren, um das urbar gemachte Land vollends zu reinigen.“ (45). Loth ahnt von vornherein, dass Beibst ihn nicht verstehen kann und hat die Erklärung schon parat. Er berichtet ihm fast euphorisch, was es mit den Ikariern auf sich hat (vgl. 45-46). Zugegebenermaßen erinnert das stark an seine Vorstellungen vom Anfang des Dramas, einen Idealstaat oder „Musterstaat [zu] gründen“ (12). Vielleicht ist er gewillt, Beibst aufzumuntern, wenn er sagt, „[k]einer ist arm, es gibt keine Armen unter ihnen“ (46), doch es klingt vielmehr wie ein Versuch, ihn für seine utopischen Pläne zu begeistern.
[...]
1 Vgl. Hauptmann (2015), 7. Hier und im fortlaufenden Text zitiere ich aus dieser Primärquelle.
2 Alfred Loth wird in Punkt 3.2.2 noch genauer analysiert.
3 Vgl. Heinz (2007), 23.
4 Vgl. Rinsum/Rinsum (1994), 324.
5 Helene wird in Punkt 3.2.1 noch genauer analysiert.
6 Anstatt der eigenen Hände wurden Maschinen für die Herstellung verschiedenster Güter benutzt (zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts).
7 Rinsum/Rinsum (1994), 23.
8 Scherer/Bogdal (2012), 125.
9 Scherer/Bogdal (2012), 123.
10 Meines Erachtens nach nahm sie sich selbst das Leben, weil Loth sie ohne persönliche Erklärung verlassen hat und somit all seine Versprechen zunichte sind. Helene verliert ihren Vertrauten (vgl. 83) und ist in dem Wissen, dass sie eine reale Chance auf ein anderes Leben verpasst hat.
11 Rinsum/Rinsum (1994), 325.
12 Hier spricht sie kurz mit Dialekt, weil sie im Inneren aufgebracht ist. Zudem wird das Wort dadurch abgewertet, da Helene den Kahl Wilhelm nicht als Bräutigam will.
13 Scherer/Bogdal (2012), 124.
14 Rinsum/Rinsum (1994), 333.