Live-Rollenspiel - ein touristischer Freizeittrend?


Diplomarbeit, 2002

125 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Begriffsbestimmungen
2.1 Live-Rollenspiel
2.1.1 Beschreibung
2.1.1.1 Die Begriffe Live, Rolle und Spiel
2.1.1.2 Ablauf
2.1.2 Historische Entwicklung
2.1.2.1 Die Wiederentdeckung des Mittelalters
2.1.2.2 Das Fantasy-Genre
2.1.2.3 Das Fantasy-Rollenspiel (Pen & Paper)
2.1.2.4 Geschichte des Larp
2.1.3 Abgrenzung und Ausprägungen
2.1.3.1 Verwandte Freizeitbeschäftigungen
2.1.3.2 Systematisierung von Larp
2.1.4 Live-Rollenspiel in der öffentlichen Wahrnehmung
2.2 Touristischer Freizeittrend
2.2.1 Der Begriff Freizeit
2.2.2 Der Begriff Trend
2.2.3 Der Begriff touristischer Freizeittrend

3 Empirische Untersuchung
3.1 Die Online-Umfrage
3.1.1 Vorüberlegungen
3.1.2 Ergebnisse
3.2 Die Veranstalter-Umfrage
3.2.1 Vorüberlegungen
3.2.2 Ergebnisse
3.3 Experteninterviews
3.3.1 Vorüberlegungen
3.3.2 Ergebnisse

4 Ausflug in die Trendforschung
4.1 Trendforschung
4.1.1 Definition
4.1.2 Methodik
4.2 Einzelne Aussagen der Trendforschung
4.2.1 Mein kleines Universum
4.2.2 Clanning
4.2.3 Aussteigen
4.2.4 Fantasy-Abenteuer-Trend
4.3 Larp – logische Konsequenz gesamtgesellschaftlicher Trends?

5 Ausflug in die Soziologie
5.1 Soziologische Einordnung von Live-Rollenspielern
5.1.1 Demographische Fakten
5.1.2 Die Milieubeschreibungen von Gerhard Schulze
5.1.2.1 Das Milieu der Larper?
5.1.2.2 Milieubeschreibung
5.2 Szeneforschung
5.2.1 Der Begriff der Szene
5.2.2 Eigenschaften von Szenen
5.3 Ergebnis

6 Kommerzialisierung einer Szene
6.1 Möglichkeiten derKommerzialisierung
6.1.1 Die Zielgruppe
6.1.2 Das Angebot
6.1.3 Ergebnis
6.2 Bestehende Geschäftsmodelle
6.2.1 (Online-) Händler und Hersteller
6.2.2 Großveranstalter
6.2.3 Mysterials
6.3 Vor- und Nachteile einer Kommerzialisierung aus Sicht der Szene
6.3.1 Vorteile
6.3.2 Nachteile

7 Ergebnis
7.1 Momentane Situation
7.2 Zukunftsprognose
7.3 Zur Fragestellung

8 Anhang
8.1 Anhang 1: Online-Umfrage
8.2 Anhang 2: Die Veranstalter-Umfrage
8.3 Anhang 3: Expertengespräche

9 Literaturverzeichnis
9.1 Verwendete Fachliteratur und Nachschlagewerke
9.2 Verwendete Diplomarbeiten
9.3 Verwendetet Homepages

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1 - Foto: Clemens Dabelstein

Abbildung 2 - Durchschnittliche Personenzahl auf Cons (eigene Darstellung)

Abbildung 3 - Anteil der Larper, die Zeit investieren (eigene Darstellung)

Abbildung 4 - Anzahl investierter Tage bei Larpern, die investieren (eigene Darstellung)

Abbildung 5 - Ursprünge des Larp (eigene Darstellung)

Abbildung 6 - Bespielte Genres 2001 (eigene Darstellung)

Abbildung 7 - Anteil Larper, die bereits früher P&P gespielt haben (eigene Darstellung)

Abbildung 8 – Entwicklung Larp in Dt. (www.larpkalender.de)

Abbildung 9 - Die 3 Dimensionen des Larp (eigene Darstellung)

Abbildung 10 - Einordnung Larp

Abbildung 11 - Con-Besuche 2001 nach Dauer (eigene Darstellung)

Abbildung 12 - Con-Besuche 2001 nach Verpflegung (eigene Darstellung)

Abbildung 13 - verwendete Regelwerke 2001 (eigene Darstellung)

Abbildung 14 - Altersverteilung der Larper (eigene Darstellung)

Abbildung 15 - Bildungsgrad der Larper (eigene Darstellung)

Abbildung 16 - Familienstand der Larper (eigene Darstellung)

Abbildung 17 - Milieumodell

Abbildung 18 - Gruppen in Szenen

Abbildung 19 - Anteil Larper, die Geld ausgeben (eigene Darstellung)

Abbildung 20 - Euro-Ausgaben bei Larpern, die Geld ausgeben (eigene Darstellung)

Abbildung 21 - geographische Verteilung der Larp-Szene in Deutschland (eigene Darstellung)

Abbildung 22 - Wie werden Cons erlebt und bewertet? (eigene Darstellung)

Abbildung 23 - Erstkontakt mit Larp (eigene Darstellung)

Abbildung 24 - Haupt-Info-Quellen für Larper (eigene Darstellung)

Abbildung 25 - Geschlechterverteilung bei Larp (eigene Darstellung)

Abbildung 26 - Freizeitbeschäftigungen von Larpern (eigene Darstellung)

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1 - Systematisierung von Larp (eigene Darstellung)

Tabelle 2 - Alltagsästhetische Schemata im Überblick

Abkürzungsverzeichnis und Glossar

1 Einleitung

[Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] Entaros Al’Azreth stand breitbeinig auf dem Kiesboden und hielt sein etwas klobiges Langschwert mit erstaunlicher Leichtigkeit in der rechten, sein Schild in der linken Hand. Neben ihm standen etwa 30 Kampfgefährten und versuchten, wie er selbst möglichst grim-mig dem Feind ins Gesicht zu sehen. Und der Feind war eine Phalanx aus bestimmt 40 bis 50 schwer bewaffneten Kriegern, die unter lautem Gesang Schritt für Schritt auf sie zu-kam. Mit einem lauten Aufschrei stürzte Entaros mit seinen Kameraden los. Mit dem Schild wehrte er einen feigen Angriff des gegnerischen Pikenträgers ab und ver-fehlte den Kettenpanzer eines feindlichen Wikingers nur knapp. Neben ihm wurde einer seiner Mitstreiter am Kopf getroffen, doch was ist das? Kein Blut war zu sehen, statt dessen hörte er: „Stop! Meine Kon-taktlinsen!“ Plötzlich änderte sich die Sze-nerie schlagartig, Entaros war wieder ein in alberner Kleidung steckender Student mit einem Schaumstoffschwert in der Hand. Und als solcher half er kurz bei der Suche nach den Kontaktlinsen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1 - Foto: Clemens Dabelstein

Live-Rollenspiele, im folgenden auch Larp (Live Action Role Play, oder Live Adventure Role Play) genannt, erfreuen sich weltweit wachsender Beliebtheit. Von Kalifornien bis Tschechien, von Skandinavien bis Italien, überall in der westlichen Welt scheint diese Form der Freizeitbeschäftigung stark zuzunehmen. Herauszufinden, wie sich die Larp-Szene in Deutschland entwickelt, ob man von einem touristischen Freizeittrend sprechen kann, wie diese Szene organisiert ist, welche Marktmechanismen wirken, kurz welche For-men der Kommerzialisierung festzustellen und überhaupt denkbar sind, soll Aufgabe die-ser Arbeit sein.

Ein Larper ist Tourist, da er für die Ausübung seines Hobbies touristischer Aktivitäten be-darf. Um dies verständlicher auszudrücken: er plant eine Reise, bucht eine Leistung, ent-scheidet sich für ein Transportmittel, fährt von A nach B, verbringt dort oft mehrere Über-nachtungen, nimmt ein Unterhaltungsangebot wahr, konsumiert Lebensmittel und fährt wieder nach A zurück. Dass sich kein Larper aus seinem Selbstverständnis heraus als Tou-rist fühlt, ist dabei zweitrangig und ein oft beschriebenes Phänomen., das uns häufig im Tourismus begegnet.

Dennoch ist die Larp-Szene in Deutschland mit den Methoden und Erkenntnissen der Tou-rismusforschung nur schwer zu beschreiben. In dieser Arbeit wurde deshalb versucht, die Szene auch mit den Ergebnissen der Trendforschung und der Soziologie zu untersuchen. Im Vordergrund stehen dabei zwei Fragen: Was für Menschen sind Larper und welche ge-samtgesellschaftlichen Zusammenhänge liegen unter der Oberfläche verborgen, die dazu führen, dass gerade jetzt gerade dieses Hobby entstand und mehr und mehr Anhänger ge-winnt? Dabei wurde immer versucht, den Blick des Wirtschaftswissenschaftlers zu be-halten, um die gewonnenen Erkenntnisse im nächsten Schritt für ökonomische Aussagen zu verwenden.

Die Larp-Szene als Ganzes ist bisher noch nie genau untersucht worden. Bisherige For-schungsansätze untersuchten stets den psychologischen Hintergrund, das Rollenverhältnis und pädagogische Zusammenhänge. Um also zu brauchbaren Ergebnissen zu kommen, war eine breiter angelegte empirische Untersuchung nötig. Nicht zuletzt der immense Rücklauf der hierzu durchgeführten Online-Umfrage zeigt, dass es sich bei Larpern um eine sehr en-gagierte, gut vernetzte Gruppe handelt, eben das, was wir im alltäglichen Sprachgebrauch als eine Szene bezeichnen. Was das bedeutet und welche Auswirkungen es hat, soll eben-falls Bestandteil dieser Arbeit sein.

Als Vergleich, und um zu Aussagen über die Organisationsformen der Veranstalter und über die Art, Größe, den Aufwand und die geographische Verteilung der Veranstaltungen selber zu kommen, wurde ferner eine Erhebung unter ca. 50 Veranstaltern vorgenommen.

Aktuelle Trends in der Szene, Veränderungen in den letzten Jahren und die Ursprünge des Larp lassen sich so kaum feststellen. In einer dritten Umfrage wurden deshalb mehrere In-formationseliten der Szene im Rahmen eines qualitativen telefonischen Interviews befragt.

Mit Hilfe dieser empirischen Grundlage und vor dem Hintergrund ausgewählter Ergebnisse der Soziologie und der Trendforschung wurde versucht, einen möglichst umfassenden Überblick über die Szene zu gewinnen und zu fundierten Erkenntnissen über Möglich-keiten und Grenzen der Kommerzialisierung zu kommen. Denn nichts anderes verbirgt sich hinter dem Titel der Arbeit: „Live-Rollenspiel – ein touristischer Freizeittrend?“.

2 Begriffsbestimmungen

2.1 Live-Rollenspiel

2.1.1 Beschreibung

2.1.1.1 Die Begriffe Live, Rolle und Spiel

Um den Begriff des Live-Rollenspiels semantisch klar definieren und abgrenzen zu kön-nen, bedarf es zunächst nicht viel. „Live“ ist offensichtlich eine Anlehnung an „Live“-Sen-dungen im TV, bedeutet also soviel wie unmittelbar (erlebt), nicht aufgezeichnet, oder spontan in Szene gesetzt. Rollenspiel besteht aus den beiden Wörtern Rolle und Spiel, was darauf hindeutet, dass von bestimmten Personen zu spielerischem Zwecke eine fremde Rolle angenommen wird.

Rollenspiel ist in der Theaterwissenschaft sowie in der Pädagogik ein fester, wenn auch unterschiedlich besetzter Begriff, was für die Abgrenzung eine gewisse Falle birgt. In der Welt des Theaters, also des inszenierten Schauspiels vor einem Publikum, beschreibt der Begriff die Arbeit des Schauspielers, der in eine vom Autor erdachte Rolle eintaucht und seine Rolle eben gut oder auch schlecht spielt. Spielen steht hier synonym für darstellen. In der Pädagogik sind Rollenspiele ein Instrument, um bestimmte (Konflikt-) Situationen zu simulieren oder zu wiederholen. Der oder die Teilnehmer spielen wiederum eine be-stimmte Rolle, um in der Auswertung zu möglichen Ergebnissen oder gar Einsichten bei den Teilnehmern zu gelangen. Auch in einem Bewerbungsgespräch oder einem Assess-ment-Center wird diese Technik gerne verwendet.

In unserem Fall muss man noch eine weitere Bedeutung des Wortes heranziehen, die so-genannten Fantasy-Rollenspiele, die weder in den Bereich der Pädagogik, noch in den der Theaterwissenschaften fallen, sondern vielmehr eine Form von Gesellschaftsspielen sind. Wie wir sehen werden, ist das Live-Rollenspiel hauptsächlich aus dem Fantasy-Rollenspiel heraus entstanden. Zur Abgrenzung bezeichnet man letztere auch als Tisch-Rollenspiele, oder „Pen & Paper“-Rollenspiele, kurz „P&P“. Das Wort Rollenspiel bezeichnet hier also weder die Kunstfertigkeit des (professionellen) Schauspielers, sein Handwerk an, oder mit einer Rollenvorgabe, noch eine bestimmte Technik der Therapie oder eines Persön-lichkeitstests. Vielmehr bezeichnet es eine Form des Freizeitverhaltens, bzw. schlicht und einfach ein Spiel, das nicht Monopoly, oder Mensch-ärgere-dich-nicht heißt, sondern (Live-)Rollenspiel. In Deutschland scheint sich, zumindest innerhalb der Szene, mitt-lerweile die angelsächsische Bezeichnung „Larp“ praktisch durchgesetzt zu haben. Larp ist eine Abkürzung und heißt entweder „live action role play“, oder auch „live adventure role play“, beide Begriffe tauchen in etwa gleich oft auf und bezeichnen das selbe. Rollenspiel steht hier also synonym für dieses gesamte Freizeitspiel an sich und geht vom Wort-gebrauch her über das durchaus darin enthaltene Spielen einer Rolle hinaus.

2.1.1.2 Ablauf

Es gibt verschiedene Spielarten des Live-Rollenspiels, verschiedene Regelwerke, Hinter-gründe und Spielwelten. Allen gemein ist, dass sich die Teilnehmer oder Spieler in eine fiktive Person hineinversetzen und diese während des Spiels versuchen, so gut als möglich darzustellen. Dabei gibt Live-Rollenspiele, die jedem Spieler eine Spielfigur zuordnen, so-genannte „gecastete Larps“. Die Spieler erhalten in diesem Fall eine mehr oder weniger tief ausgearbeitete Rollenvorgabe, die sie mit Leben zu füllen und der sie ein Gesicht zu geben versuchen, sind in ihren Handlungen aber danach völlig frei und haben auch keine Textvorgaben oder ähnliches. In der überwiegenden Mehrheit der Fälle wird die Auswahl bzw. die Erschaffung der fiktiven Spielfigur, „Spielercharakter“ oder kurz „SC“ genannt, allerdings völlig dem Spieler selbst überlassen. Die Unterscheidung zwischen dem Spieler auf der einen Seite (z.B.: Hans Müller aus Wuppertal) und dem Spielercharakter auf der anderen Seite (z.B.: der Wilde Thengulf aus den nördlichen Provinzen der Mittellande) spielt dabei eine wichtige Rolle, um Missverständnisse zu vermeiden. Bei der Erschaffung des Charakters gibt es meist gewisse Einschränkungen, die in einem Regelwerk zusam-mengefasst sind und in erster Linie die für das Spiel relevanten und vom Spieler nicht darstellbaren Fähigkeiten betreffen[1]. Die Regelwerke variieren von Veranstalter zu Ver-anstalter, auch wenn in diesem Bereich eine allmähliche Standardisierung festzustellen ist.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2 - Durchschnittliche Personenzahl auf Cons (eigene Darstellung)

Grundsätzlich gibt es auf einem Con drei verschiedene Gruppen von Leuten. In Abbildung 2 erkennt man die quantitative Verteilung gemäß der Antworten der durchgeführten Veranstalter-Umfrage[2]:

- Zunächst gibt es die Spielleitung, die oft auch identisch ist mit dem Veranstalter, bzw. dem Orga-Team. Diese, in ihrer Kurzform auch „SL“ genannte Gruppe ent-scheidet bei allen Regelfragen, ist Ansprechpartner für die Spieler und erzählt oder erklärt den Spielern gegebenenfalls fiktives, nicht sichtbares Spielgeschehen. Bei den meisten Veranstaltungen ist die SL durch eine rote Schärpe oder ähnliche op-tische Auffälligkeiten erkennbar. Manchmal spielt sie in einer Nebenrolle mit, mei-stens ist sie aber im Spiel nicht existent und wird von den Charakteren (nicht aber den Spielern) geflissentlich ignoriert. Sie hat auf der Veranstaltung das Hausrecht und kann einzelne Spieler im Zweifelsfall vom Spiel ausschließen. Mit durch-schnittlich deutlich unter zehn Personen stellt sie die kleinste Gruppe auf einem Con.
- Die Teilnehmer oder Spieler stellen die größte Gruppe auf der Veranstaltung. Durch die hohe Interaktivität eines Larps hängt die erlebte (Dienstleistungs-) Qua-lität zu einem sehr großen Teil von ihnen selber ab. Sie haben volle Kontrolle über ihren Spielercharakter und sind nur dazu angehalten, die überschaubaren Regeln einzuhalten, insbesondere, was Sicherheitsstandards angeht.
- In der Regel gibt es auf jeder Veranstaltung noch eine Reihe von Nebendarstellern. Diese Nichtspielercharaktere, oder kurz NSCs genannt, unterstehen in unterschied-lichem Maße direkt der SL. Von ihr werden sie eingesetzt, um die Handlung voran-zutreiben, den Spielercharakteren eine Herausforderung zu bieten, und um die rich-tige Stimmung auf dem Con zu erreichen. „Der Begriff Nichtspielercharaktere weckt eigentlich eine durch und durch falsche Vorstellung von diesen Leuten. Es ist nämlich ganz und gar falsch anzunehmen, dass die Nichtspielercharaktere, wie der Begriff es nahe legt, nicht spielen würden. Sie spielen lediglich viele ver-schiedene Rollen innerhalb eines Lives, anstelle der einen, durchgehenden Rolle, die die Spieler verkörpern. Und sie kennen, genau wie die SL selbst, den Plot, die gesamte Geschichte des Spieles.“[3] Im Durchschnitt kommen bei einer Live-Rollen-spiel-Veranstaltung auf jeden NSC zwei SCs. Gewöhnlich werden zwei ver-schiedene Arten von NSCs unterschieden:
- Die „Springer“-NSCs werden hauptsächlich als direkte Gegner der SCs im Kampf eingesetzt. Sie haben keine oder kaum charakterliche Tiefe und wechseln ihre Rollen sehr schnell und häufig (da sie in der Regel im ersten Kampf von den Spielercharakteren erschlagen werden).
- Festrollen-NSCs haben dagegen einen ausgearbeiteten Charakter. Sie sind entweder die großen Bösewichte oder unterstützen die SCs bei ihrer Auf-gabe. Oftmals sind sie auch Wirte, Kellner in der Taverne, Wachleute oder sonstiges „Personal“ in der Spielwelt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3 - Anteil der Larper, die Zeit investieren (eigene Darstellung)

Die Spieler stecken oft bereits vor dem eigentlichen Spiel viel Zeit und Mühe in die Aus-arbeitung ihrer Spielfiguren. Dazu gehört bei den meisten Live-Rollenspielern explizit auch das Zusammenstellen einer geeigneten Ausrüstung, von der „Gewandung“ genannten Kostümierung bis hin zur Schaumstoff-Latex-Waffe (oder auch Phaser-Pistole, je nach be-spielter Hintergrundwelt). Diese Aktivitäten machen einen großen Teil des Hobbys aus.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4 - Anzahl investierter Tage bei Larpern, die investieren (eigene Darstellung)

So haben rund 79,4% aller Live-Rollenspieler im Jahr 2001 Zeit für die Zusammenstellung ihrer Gewandung investiert (siehe Abbildung 3), und zwar im Durchschnitt immerhin gut 10 Tage an ihrer Ausrüstung und Kostümierung gearbeitet (siehe Abbildung 4). Weitere 60,1% haben durchschnittlich 10 Tage für die Konstruktion ihrer Waffe(n) investiert, und 77,5% haben im Schnitt 7 Tage für die tiefere Ausarbeitung ihres Charakterhintergrundes benötigt. Gute 40,2% aller an der Umfrage Beteiligten sind mit der Organisation von Live-Rollenspiel-Veranstaltungen beschäftigt, was einen noch viel höheren Zeitaufwand be-deutet, nämlich im Schnitt 30 Tage. Unter die Rubrik „sonstiges“ fallen äußerst unter-schiedliche Angaben, die mit 20,4% rund ein Fünftel aller Larper betreffen.

Auf der Veranstaltung selber lassen die Spieler ihre erdachten oder vorgegebenen Charak-tere in der Hintergrundwelt des Veranstalters lebendig werden. Sie interagieren mit-einander und begegnen den Gefahren und Aufgaben, die die Spielleitung für sie bereithält. Meistens hat diese sich bereits eine Geschichte ausgedacht, den sogenannten „Plot“. Es wird aber auch häufig einfach so darauf los gespielt, man spricht dann auch von „In-time-Treffen“, oder „Larpi“.

Grundsätzlich gibt es eine strenge und strikte Unterscheidung von Spielzeit und Realzeit. Diese wird auch immer von allen Beteiligten eingehalten und ist aus verschiedenen Grün-den zwingend notwendig:

- Zur Vermeidung von realen Konflikten, weil aggressives, aber gespieltes Verhalten sonst leicht als reales interpretiert werden könnte.
- Um das Spiel gegebenenfalls unterbrechen zu können, falls sich ein reales Problem ergibt, sei es durch eine Verletzung, eine Gefährdung, oder auch nur das Abhan-denkommen einer Kontaktlinse. Zu diesem Zweck gibt es auf jedem Con den soge-nannten „Stop“-Befehl, der das Spiel sofort unterbricht und der von jedem Mit-spieler und der Spielleitung ausgesprochen werden kann.

Als Bezeichnung hat sich dafür „In-time“ und „Out-time“ durchgesetzt. In-time wird ge-spielt, hier sprechen und handeln nicht die Spieler, sondern ihre Charaktere. Spieler, deren Charaktere sich In-time bis aufs Blut (was durchaus wörtlich zu verstehen ist, wenn man von Filmblut ausgeht) bekämpft haben, sind Out-time nicht selten die allerbesten Freunde. Auf allen Veranstaltungen wird versucht, möglichst lange In-time zu spielen und Out–time-Zeiten auf ein Minimum zu beschränken. Soweit das den Teilnehmern möglich ist, wird oft während des gesamten Cons 24 Stunden am Tag (und in der Nacht) In-time ge-spielt so dass die Spieler auch im Schlaf vor Überraschungen oftmals nicht gefeit sein können.

Wie man sieht, hat ein Live-Rollenspiel gewisse Ähnlichkeiten mit einem Theaterstück. Wichtig zu verstehen ist aber, dass das Larp für die Teilnehmer einer Veranstaltung einen Selbstzweck darstellt. Sie betrachten ihre Aktivitäten als Hobby bzw. Freizeit-beschäftigung und spielen nicht für ein Publikum, sondern höchstens für sich und für-einander.

„Dabei ergab sich, dass das Live-Rollenspiel alle Aspekte der Theatralität erfüllen konnte und somit eindeutig ein theatraler Prozess ist. Aber es gibt deutliche Unterschiede zu den Merkmalen, die für die Institution Theater typisch sind. Der auffälligste Unterschied war dabei, dass ein eindeutiges Publikum fehlt, und die Darstellung der Spieler nicht so stark nach außen gerichtet ist. Ein weiterer markanter Unterschied war der, dass die Live-Rollenspiel-Charaktere im Gegensatz zu den dramatischen Figuren keinen begrenzten Informationshintergrund haben, sondern dass sie in der Lage sind, sich immer weiterzuentwickeln und zu verändern. Trotzdem enthält das Live-Rollenspiel einige Faktoren, die es dem Theater sehr nahe verwandt macht. Dazu gehört vor allem das Darstellen einer Rolle.“[4]

Auf vielen Veranstaltungen spielt der Kampf bzw. die kriegerische Auseinandersetzung eine zentrale Bedeutung. Unholde müssen schließlich erst besiegt, Monster geschlagen und finstere Kreaturen erst niedergerungen werden, bevor die Aufgabe gelöst und die Welt ge-rettet ist. Die Simulation von Kampfgeschehen hat dabei zwei Aufgaben zu erfüllen. Zu-nächst muss sie natürlich sicherheitstechnisch unbedenklich sein (wer will schon die Welt retten, wenn er dabei seine Mitspieler ins Krankenhaus bringt?), sodass für die Spieler und die NSCs keine reale Verletzungsgefahr besteht. Auf der anderen Seite muss sie möglichst authentisch wirken, wobei das Vorbild nicht unbedingt ein tatsächlicher blutiger Konflikt ist, sondern vielmehr ein heldenhaft idealisiertes Kampfgetümmel, wie beispielsweise in „Mantel- und Degen- Filmen“. Im Laufe der 90er Jahre hat sich, vermutlich aus England kommend, dabei ein Standard durchgesetzt: die sogenannten Polsterwaffen. Ein elastischer Plastikkernstab wird dafür mit Schaumstoff umgeben und als Schutz und Verzierung mit Latex umhüllt. Das Ergebnis sind Schwerter, Streitäxte, Kampfstäbe und alle nur denk-baren (mittelalterlichen) Waffentypen, die etwas klobig wirken, aber weich und relativ un-gefährlich sind. Dennoch ist es auf allen Live-Rollenspielen strengstens untersagt, mit den Spielwaffen zu stechen und Kopftreffer zu erzielen, um ein weiteres Restrisiko zu ver-meiden. Fernkampfwaffen, wie Pfeil und Bogen, Armbrüste und Wurfwaffen sind auf Cons genauso zu beobachten, wie schwerere Geschütze, zum Beispiel Ballistas oder Stein-schleudern.

„Die Kämpfe sind auch ein beliebtes Thema. Da der Spieler im Larp ja auch die (scheinbar) reale Gefahr durch Monster erfährt, muss man sich ja nun auch mit geeigneten Mitteln zur Wehr setzen. Waffen! Gepolstert, und daher weitestgehend ungefährlich, sind für das Larp ideal. Man bastelt sie sich selber oder kauft sie in einschlägigen Läden. Sie sind ungefährlich, aber trotzdem spürt man sie, wenn man getroffen wird! Das macht Spaß, man hat ein wenig Action und ist ziemlich ungefährlich!“[5]

Wird ein Spieler oder NSC im Kampf getroffen, so ist er prinzipiell selbst dafür ver-antwortlich, den erlittenen Schaden zu simulieren. Je nach verwendetem Regelwerk gibt es eine genau definierte Anzahl an Treffern, die eine Spielfigur erleiden kann, bevor sie den Heldentod erleidet und aus dem Spiel ausscheidet (in einer Welt der Magie mag es aller-dings auch dann noch Mittel und Wege geben diese letzte Konsequenz zu umgehen!).

2.1.2 Historische Entwicklung

2.1.2.1 Die Wiederentdeckung des Mittelalters

Seit wann gibt es Larp in seiner heutigen Form, gab es frühe Formen, die man als Vor-stufen zu Larp bezeichnen könnte, und aus welcher „Ecke“ bzw. aus welcher Szene heraus ist es entstanden? Larp-Veranstaltungen sind nicht aus dem Nichts heraus entstanden. Man kann in der jüngeren Kulturgeschichte durchaus Entwicklungen ausmachen, die Schritt für Schritt dazu führten, dass es zu dieser Freizeitaktivität kam. Es war freilich ein langer, 200 Jahre dauernder Weg. Er führt von der literarischen Epoche der Romantik über eine all-gemeine Begeisterung für ein idealisiertes Mittelalter, über das Fantasy-Genre bis hin zu Fantasy-Rollenspielen, aus denen, wie wir sehen werden, Live-Rollenspiele mehr oder weniger direkt hervorgegangen sind.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 5 - Ursprünge des Larp (eigene Darstellung)

[Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] In den letzten Jahrzehnten ist in breiten Bevölkerungsteilen Deutschlands ein wachsendes Interesse für mittelalterliche Themen und Veranstaltungen zu beobachten. Das geht quan-titativ weit über das Interesse an Live-und Tisch-Rollenspielen hinaus und speist sich daher auch nicht ausschließlich aus diesen Szenen.

„Fast jede Stadt veranstaltet heute einen Mittelaltermarkt, es gibt an vielen Orten Turnier-veranstaltungen, und man kann in Gaststätten "tafeln wie die alten Rittersleute". Dazu kommt noch ein rasant wachsender Markt an Fantasyliteratur und historischen Romanen. Kurzum: das Mittelalter ist offensichtlich wieder in Mode gekommen.“[6]

Ein gutes Beispiel hierfür ist das von Prinz Luitpold von Bayern alljährlich veranstaltete Ritterturnier in Kaltenberg. Seit er 1973 in einem Schloss im englischen Canterbury ein mittelalterliches Ritterturnier besuchte, verfolgt er sehr erfolgreich die Idee, ein großes Turnier auf seinem Schloss Kaltenberg zu veranstalten. Seit 1980 zur 800-Jahrfeier der Wittelsbacher das erste Spektakel organisiert wurde, hat sich einiges verändert. Aus ur-sprünglich etwa 5000 Schaulustigen sind mittlerweile weit über 100.000 geworden. Heute unterhält die französische Schaukampfgruppe Cascadeurs Associés die Besucher bereits im 19. Jahr, und an der 16-tägigen Veranstaltung wirken 1200 Händler, Artisten, Gaukler, Spielleute und Quacksalber auf dem Markt, in der Kampfarena und im Rahmenprogramm mit. Es ist zum größten Ritterturnier Europas geworden und für seinen Veranstalter ein äußerst lukratives Geschäft, kostet eine Eintrittskarte doch zwischen 16 und 30 Euro.[7]

Die Begeisterung für ein idealisiertes Mittelalter ist aber durchaus keine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Bereits 1793 beginnt in Deutschland die literarische Romantik, die die Kul-tur des darauffolgenden Jahrhunderts in ganz Europa prägen sollte. Mittelalterliche Kunst und Religion wurde zum Leitbild für die Gegenwart deklariert (W. H. Wackenroder und L. Tiek)[8] Auch in der Malerei werden besonders bei englischen Romantikern neben Stim-mungswerten der Landschaft die mittelalterliche Geschichte, aber auch die Sagen- und Märchenwelt wiederbelebt (J. Constable, M. von Schwind, L. Richter)[9] Wiederum in Eng-land begründet Walter Scott den historischen Roman. Sein 1820 erschienener Roman „Ivanhoe“ ist bis heute bekannt und in zahlreichen Filmen adaptiert worden. Es war ver-mutlich dieser in England äußerst erfolgreiche Roman, der dafür verantwortlich war, dass es nach Jahrhunderten in Europa wieder ein Ritterturnier geben sollte.

Von dort bis zum Verlangen, als echter Ritter aufzutreten, war es offenbar nicht mehr weit. Seit Scott in Ivanhoe ein Ritter-Turnier in allen Einzelheiten beschrieben hatte, wartete die Öffentlichkeit darauf, dass jemand ein solchen Turnier nachstellen würde[10]

Und so wurde im England des Jahres 1839, zu einer Zeit, als die industrielle Revolution noch ungebremst tobte, ein Spektakel veranstaltet, das die Zeit des Mittelalters wieder auf-leben ließ. Daher ist es nicht verwunderlich, dass ebenfalls in England die erste Re-enactment-Gruppe „The Sealed Knot“ gegründet wurde. Mittlerweile gibt es über 100 der-artige Gruppen, die sich bemühen historische Schlachten und Lebensumstände mit teil-weise wissenschaftlicher Akribie nachzustellen.[11] Im Gegensatz zu der Situation Mitte des 19. Jahrhunderts ist es im 20. Jahrhundert nicht mehr das Privileg einer gut betuchten Oberschicht, sich in teuren mittelalterlichen Kostümen und Rüstungen zu präsentieren. Heute erlaubt es die dramatisch verbesserte Lebenssituation einer breiten Bevölkerungs-schicht, dass aus einer elitären Mode ein Massenphänomen geworden ist.

2.1.2.2 Das Fantasy-Genre

Die mit Abstand meisten Larp-Veranstaltungen finden vor dem Hintergrund einer fiktiven Fantasy-Welt statt. So schätzt Christian Rainer vom Veranstalter Delos-Live[12], dass 90% aller Larps in einer Mittelalter–Fantasy-Welt stattfinden. Das deckt sich mit dem Eindruck, den die übrigen Interviewteilnehmer hatten.[13] Eine Ausnahme stellt die Spielwelt von „Vampire-Live“-Veranstaltungen dar, wie wir später noch sehen werden. Bei den befragten 49 Veranstaltern, die an der Veranstalterumfrage teilnahmen, handelte es sich bei lediglich 5,4% der Antworten auf die Frage nach dem bespielten Hintergrund bzw. Genre um Spielwelten, die nicht in einer mittelalterlichen Fantasy-Welt angesiedelt sind. Da das kein Zufall sein kann, kann man davon ausgehen, dass sich das Live-Rollenspiel in irgendeiner Art und Weise aus dem Fantasybereich heraus entwickelt hat.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 6 - Bespielte Genres 2001 (eigene Darstellung)

Das angelsächsische Wort Fantasy ist heute in der Szene, aber auch in der Literatur und der Cineastik ein fester Begriff, der über seine wörtliche Bedeutung (Fantasie, Ein-bildungskraft) hinausgeht und ein spezielles Genre beschreibt. Gemeint sind Bücher, Filme oder eben Spielwelten, die in einer fantastischen, frei erdachten Welt stattfinden, in der zwei konstitutive Elemente vorhanden sind:

- Einerseits ein klarer Bezug zu unserem (europäischen) Mittelalter. Das betrifft vor allem technische Errungenschaften bzw. gerade deren Fehlen, aber auch Kleidung, Sprache, Lebensumstände, politische Herrschaftsformen, Architektur und derglei-chen mehr. Beliebt sind Rittertum, Ständestaat, absolutistische Herrscher, Hand-werksgilden etc.
- Auf der anderen Seite das Fantasy-Element: Im Gegensatz beispielsweise zu his-torischen Romanen, aber auch zu Reenactment-Veranstaltungen, gibt es in Fantasy-Welten Übernatürliches wie Magie und mystische Kreaturen. Neben Menschen tau-chen andere intelligente Völker auf, wie Zwerge, Elfen, Orks, Trolle, Kender, Ents, Goblins und so weiter. Man unterscheidet gern zwischen High-Fantasy, in welcher diese fantastischen Elemente überwiegen, aber leicht einer gewissen Inflation unterliegen (welche Herausforderung bleibt den Helden der Geschichte, wenn das große weltenverschlingende dämonische Ungeheuer durch das Aussprechen der mächtigsten Zauberformel aller Welten besiegt wurde?), und Low-Fantasy, in der Magie eine eher untergeordnete Rolle spielt und manchmal eine Art Technikersatz darstellt (was sehr praktisch ist in einer Welt, die zwar magisches Licht, aber noch keine Taschenlampe kennt!). Ursprünglich standen diese zwei Begriffe allerdings für die Art der beschriebenen Welt, auf welcher die Handlung spielt, wie wir gleich sehen werden.

Aus diesen zwei Elementen besteht jede Fantasy-Welt im engeren Sinne. Oftmals wird auch bei Science Fiction von Fantasy-Genre gesprochen. Hier tritt die futuristische Tech-nik an die Stelle der Magie, und statt fantastischer tauchen außerirdische Kreaturen auf. Das Element Mittelalter fällt meistens weg, wobei es in vielen Science Fiction Romanen durchaus, auf andere Planeten verlagert, eine Rolle spielt. Bei einigen Werken des Fantasy-Genres spielt die Handlung auch in der Vergangenheit unserer Welt, die lediglich um fan-tastische Elemente bereichert wurde. Der berühmteste derartige Roman ist zweifellos „The Mists of Avalon“ von Marion Zimmer Bradley, der die Artuslegende zum Inhalt hat. Ur-sprünglich galt die Bezeichnung Low-Fantasy diesen Romanen, während bei High-Fantasy die Handlung in einer komplett fiktiven Welt stattfindet. Wie bereits beschrieben, werden diese zwei Begriffe heute in der Larp-Szene anders verwendet.

Wenn man sich mit den Ursprüngen des Live-Rollenspiels beschäftigt und um die Domi-nanz des Fantasy-Genres weiß, dann fällt einem vor allem ein Name ein: der des englischen Schriftstellers und Philologen John Ronald Reuel Tolkien (* Bloemfontein 3.1.1892, † Bournemouth 2.9.1973). Er gilt als der Erfinder dieses Genres, und auch wenn diese These nicht unumstritten ist, so kann man doch sagen, dass er das Fantasy populär und einem breiten Publikum zugänglich gemacht hat.

„Aber der Durchbruch dieser Gattung ist zweifelsohne J.R.R. Tolkien zu verdanken, der in den 50er Jahren dieses Jahrhunderts "The Lord of the Rings" (1955/56) verfasste. In den Sechzigern avancierte das Buch dann zum Kultbuch der Studenten, wohl nicht zuletzt dank der Publicity, die es durch eine nichtautorisierte Ausgabe der Trilogie von Ace Books er-hielt“[14]

Das Fantasy-Genre greift die Tradition der Mittelalterliteratur des 19. Jahrhunderts auf. Im Gegensatz zu ihr vermeidet es allerdings reale religiöse Elemente, die dort häufig zu finden waren, und zitiert lieber aus dem antiken Pantheon Griechenlands oder aus nordischen Göttersagen, um ein pseudoreligiöses Ambiente zu erzeugen.

2.1.2.3 Das Fantasy-Rollenspiel (Pen & Paper)

Von den bei der Online-Umfrage befragten 1500 Larpern gaben 88,8 % auf die Frage, ob sie vor ihrer Zeit als aktive Live-Rollenspieler bereits Fantasy-Rollenspiele, sogenannte Pen & Paper-Rollenspiele, gespielt hätten, eine Antwort. Wie in Abbildung 7 zu sehen, hatte von diesen 88,8% mit 83,9% die überwältigende Mehrheit mit dieser Form des Gesellschaftsspiels bereits Erfahrung gemacht.

Da es sich nicht gerade um eine sehr weit verbreitete Form der Freizeitbeschäftigung handelt und die Verwandtschaft zum Live-Rollenspiel nicht nur semantisch auf einen Blick zu bemerken ist, kann man also mit Fug und Recht davon ausgehen, dass sich die Larp-Szene hauptsächlich aus der etwas älteren und größeren Pen & Paper-Rollenspiel-Szene speist. Darüber hinaus gingen die befragten Experten in den telefonischen Interviews fast ausnahmslos davon aus, dass in dem realen Ausspielen eines P & P–Spielercharakters die wesentliche Motivation für das Entstehen von Larp-Veranstaltungen zu finden ist. So sagte Jens Tiefenstädter, dass Pen & Paper, gemischt mit Lagerfeuerromantik und einem stärker erlebten Gruppengefühl, bedingt durch die höhere Teilnehmerzahl, zu Live-Rollenspielen geführt hat. Bei der Frage, aus welcher Szene heraus sich das Live-Rollenspiel in Deutschland entwickelt hätte, gaben ausschließlich alle befragten Interviewpartner die P&P–Szene an. Aus diesem Grund kann man praktisch sicher sein, dass neben dem all-gemeinen Mittelaltertrend und dem Fantasy-Boom der letzten Jahre das Tischrollenspiel der direkte Vorläufer, zumindest aber einer der direkten Vorläufer des Larp ist.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 7 - Anteil Larper, die bereits früher P&P gespielt haben (eigene Darstellung)

Bei einem P&P-Rollenspiel übernehmen ein bis maximal zehn Spieler die Rolle (man spricht auch hier von dem „Charakter“) von einer Figur in einer Fantasy-Welt. Ein Spiel-leiter baut um die Charaktere herum eine Handlung auf und beschreibt die Auswirkungen, die die Handlungen der Spieler in dieser Welt hervorrufen Er verkörpert alle anderen Fi-guren und Wesen der Fantasy-Welt und sorgt dafür, dass alle Regeln eingehalten werden. Die Fähigkeiten der Charaktere werden durch ein Regelsystem ermittelt und abgebildet. Dabei gibt es „im Gegensatz zu gewöhnlichen Brett- und Kartenspielen (...) weder einen Sieger noch ein Spielende. Die Spieler arbeiten zusammen an der Lösung ihrer Abenteuer und der Spielleiter ist, auch wenn er die Charaktere ihrer Gegenspieler führt, nicht der Gegner der Spieler, der sie in irgendeiner Form zu besiegen versucht. Vielmehr streben Spieler und Spielleiter gemeinsam danach, eine spannende Geschichte zu gestalten, in der sie alle eine Hauptrolle spielen.“[15]. Im Gegensatz zu Live-Rollenspielen findet die Handlung ausschließlich in den Köpfen der Teilnehmer statt, die um einen Tisch herum-sitzen und sich die Geschichten und Abenteuer ihrer Charaktere nur vorstellen.

Der geistige Vater des P&P ist vermutlich Gary Gygax, der bereits 1965 in den Vereinig-ten Staaten die „Tactical Studies Association“ gründete, einen Club, der sich mit sogenann-ten Tabletops beschäftigte. Dabei handelt es sich um Kriegsbrettspiele und Miniatur-simulationen historischer Schlachten, die gegeneinander, noch völlig ohne Rollenspiel-elemente, ausgespielt werden. 1970 interessierte sich sogar das amerikanische Militär für strategische Rollenspiele, und Dave Weseley entwickelte mit „Braunstein“ ein Konflikt-simulationsspiel zur Ausbildung amerikanischer Offiziere. 1971 entstand die mittelalter-liche Fantasy-Spielwelt „Blackmoor“, zunächst für das Tabletopsystem von Gary Gygax. Dave Arneson, ein Mitglied der Gruppe „Castle & Crusade Society“ erschuf dafür die ersten „Dungeons“ (engl. für Verliese). Der Begriff Dungeon ist heute noch ein weit verbreiteter Begriff, der in jedem (Live-) Rollenspieler auch in Deutschland die selben Assoziationen von verborgenen Schätzen, Monstern und dunklen Korridoren hervorruft. Ein Jahr später wurde das Regelwerk „Chainmail“ von Gary Gygax entworfen und von Dave Arneson in die Spielwelt integriert. 1974 wurde dieses System überarbeitet und von den beiden veröffentlicht. Sie gründeten dafür eigens den „Tactical Studies Rules“-Verlag (TSR) und nannten ihr System „Dungeons and Dragons“ (D&D). Der Verlag und das System (seit 1980 unter dem Namen „Advanced Dungeons and Dragons“) existieren noch heute, und TSR ist der mächtigste Spielekonzern auf dem Fantasy-Rollenspiel-Markt.

Das revolutionäre Konzept, die Spieler fiktive Charaktere vor einem ausgearbeiteten his-torischen oder phantastischen Hintergrund spielen zu lassen, fand schnell Anhänger. Heute bringt allein die Firma TSR jährlich 100 neue Produkte auf den Markt, darunter Videospiele und eine Reihe von Romanen, die regelmäßig auf den Bestseller-Listen landen. Es bestehen Schätzungen, dass jährlich ca. eine halbe Million Rollenspieler dazukommen.[16]

Seitdem kamen immer mehr Regelsysteme und Spielwelten auf den Markt. 1984 wurde auf der Essener Spielwarenmesse das deutsche Fantasy-Rollenspiel „Das schwarze Auge“ (DSA) von Schmidt Spiele vorgestellt. Die Spielgruppe um Ulrich Kiesow entwarf die mittelalterliche Fantasy-Welt „Aventurien“, die am stärksten das Image von Fantasy-Rollenspielen in der deutschen Öffentlichkeit prägt. DSA ist das am meisten verkaufte Fantasy-Rollenspiel auf dem deutschen Markt.[17]

2.1.2.4 Geschichte des Larp

Die Ursprünge der Larp-Szene in Deutschland sind nur sehr schwer zu fassen und in eine chronologische Reihenfolge zu bringen. So vernetzt die Szene auch heute sein mag - als alles begann, gab es noch kein Internet, und so liegen die Wurzeln des Larp im Nebel der 80er Jahre verborgen. Sicher scheint zu sein, dass das erste Mal gegen Ende der 80er Jahre eine Gruppe von Rollenspielern auf den Gedanken kam, ihr Spiel nicht nur am Tisch und in Gedanken stattfinden zu lassen, sondern zumindest einige Szenen in der realen Welt auszuspielen. Es ist gut vorstellbar, dass derartige Entwicklungen parallel bei ver-schiedenen Spielgruppen entstanden. Im telefonischen Interview geht Carsten Thurau davon aus, dass Larp aus drei Wurzeln heraus mehr oder weniger parallel entstanden ist: Aus der P&P-Szene, die damit anfing, ihr Rollenspiel real auszuspielen, aus der Mittel-alter-Szene, die anfing, Personen darzustellen, und so Elemente des Rollenspiels zu über-nehmen, und von dem „Verein der Freunde Myras“[18]. Bei letzterem handelt es sich um eine sogenannte „Weltensimulation“, an der im Laufe der Zeit über 1000 Menschen, zu-nächst postalisch, heute hauptsächlich via Internet beteiligt waren[19]. Auf der Grundlage einer Art Tabletop-Regelsystems wird hier von vielen Menschen zusammen die Geschichte der verschiedenen Königreiche (und ähnlichem) der fiktiven Welt Myra über Jahrhunderte hinweg ausgespielt. Diplomatie, Handel, Kriege, kulturelle Entwicklung und so weiter werden so simuliert. Laut Wolfgang G. Wettach, dem Webmaster der Homepage und Ver-einsvorsitzendem, gibt es eine direkte Linie von den Veranstaltungen des Vereins in den frühen 80er Jahren zu den heutigen Live-Rollenspielen. So haben die Veranstalter der Draccons (1994), die als die ersten Cons im heutigen Sinne gelten, alle eine „Myra-Ver-gangenheit“. Sie haben an Geländespielen teilgenommen, die von ihm in den Anfängen des Vereins ausgedacht und organisiert wurden (1983/84). Bei dem „Tarotgeländespiel“ bei-spielsweise, bei dem „jeder (Teilnehmer) die Rolle einer Tarotkarte zugewiesen bekam, die sein Wesen und seine Rolle bestimmte, und eben alle mit offenem Ende und mehreren Spielleitern ihre Rolle spielten, Aufgaben und Quests zu lösen waren etc.“[20], erkennt man bereits erste Charakteristika der späteren Live-Rollenspiele. Auch die in der Szene heute sehr wichtige Mittellande-Kampagne wurde von Myrianern und Ex-Myrianern gegründet, bzw. deren Gründung initiiert. Die „Drachenschmiede“, ein großer Anbieter für Live-Rol-lenspielbedarf, die „Allesländer“, der „Badische Schwertspieler e.V.“ und viele andere Veranstalter und Ausrüster hätten demnach eine solche Myra-Vergangenheit.

Die ersten Cons nach heutigem Maßstab, da sind sich die telefonischen Interviewpartner einig, waren die „Dracons“, die von den Leuten aus dem Umfeld der „Drachenschmiede“ organisiert wurden. „Dracon 1“, die erste derartige Veranstaltung, fand 1991 statt. Die mit Abstand wichtigste Seite der Larp-Community im Internet ist der deutsche Larpkalender von Thilo Wagner. Seit 1994 werden auf dieser Seite die Mehrzahl aller Live-Rollenspiel-Veranstaltungen in Deutschland angekündigt. In Abbildung 8 erkennt man die Ent-wicklung des Larp in Deutschland anhand der Anzahl der angekündigten Cons auf dieser Seite. Dabei ist allerdings nicht feststellbar, ob sich das prozentuale Verhältnis von Ver-anstaltungen insgesamt zu den Veranstaltungen, die im Larpalender gelistet werden, ver-ändert hat. Thilo Wagner geht davon aus, dass auf ca. 75% aller Cons auf seiner Seite hin-gewiesen wird.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 8 – Entwicklung Larp in Dt. (www.larpkalender.de)

2.1.3 Abgrenzung und Ausprägungen

2.1.3.1 Verwandte Freizeitbeschäftigungen

[Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] Ab wann kann man bei einer Veranstaltung von Live-Rollenspiel sprechen? Um diese Frage beantworten zu können, wollen wir an dieser Stelle drei Basiselemente eines Larps definieren. Dem Namen nach besteht es aus Live, Action bzw. Adventure und Roleplay. Unter „Live“ wollen wir hier all das verstehen, was das Spiel lebensecht macht und die Simulation der Spielwelt unterstützt. Es sind dies alle Requisiten, Kostüme und Schau-plätze, kurz das gesamte Ambiente einer Veranstaltung. „Action“ umfasst alle Kampf-elemente und jede körperliche Beteiligung der Teilnehmer. Eine alternative Lesart der Ab-kürzung Larp bedeutet Live Adventure Roleplay, betont also weniger den Kampf, als viel-mehr allgemein das Abenteuer. Abenteuer bedeutet aber immer auch, dass der Ausgang der Handlung unbestimmt ist, und von den Handlungen der Protagonisten, hier von allen Teil-nehmern abhängt. Von Roleplay oder auf deutsch Rollenspiel wollen wir sprechen, wenn die Teilnehmer in die Rolle anderer Personen schlüpfen und versuchen, diese schau-spielerisch darzustellen.

[...]


[1] Als Beispiel sei hier die Beherrschung von magischen Ritualen, Zaubersprüchen etc. aufgeführt, deren Ergebnis - aus Mangel an echter Magie in unserer Welt – natürlich ausgespielt und simuliert wird. Diese Fähigkeiten und Kenntnisse werden meistens über ein Punktesystem „erkauft“. Spielercharakter erwerben auf besuchten Cons weitere „Abenteuerpunkte“ hinzu und können diese für den Erwerb weiterer Fähigkeiten verwenden. Neben Magie sind außerdem noch Dinge wie „Fallen entschärfen“, „Erste Hilfe“ etc. beliebt.

[2] Vgl. Anhang 2, Fragen 6,7,und 8

[3] Evers (1999), S.16

[4] Aus einer (noch) nicht veröffentlichten Magisterarbeit an der theaterwissenschaftlichen Fakultät der LMU München

[5] Quelle: http://www.e-dreamer.de/larp.htm#Story

[6] Mund (2000), S.1

[7] vgl. http://www.ritterturnier.de/

[8] Meyers Lexikonverlag

[9] Meyers Lexikonverlag

[10] Mund (2000), S.6f

[11] vgl. Mund (2000), S. 12

[12] siehe http://www.deloslive.de

[13] siehe Anhang 3, Fragen 6 e) und 8 d)

[14] Mund (2000), S.9

[15] Halliwell (1997), S.8

[16] www.rollenspielportal.de/studien/schmid.html

[17] vgl.: Hübner. Rollenspiel, S. 11f.

[18] vgl. Anhang 3, Frage 1 c)

[19] vgl. http://www.myra.de

[20] Wolfgang G. Wettach, der Webmaster und Vereinsvorstand in einer Email

Ende der Leseprobe aus 125 Seiten

Details

Titel
Live-Rollenspiel - ein touristischer Freizeittrend?
Hochschule
Hochschule München  (FB 14 Tourism Management)
Note
1
Autor
Jahr
2002
Seiten
125
Katalognummer
V32726
ISBN (eBook)
9783638333788
Dateigröße
1293 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Live-Rollenspiel, Freizeittrend
Arbeit zitieren
Sikko Neupert (Autor:in), 2002, Live-Rollenspiel - ein touristischer Freizeittrend?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/32726

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