Leseprobe
Inhalt
1 Einleitung
2 Das Urteilsvermögen und dessen Lokalisierung
3 Schillers ästhetisches Modell
4 Schlusswort
5 Quellenangabe
1 Einleitung
Die Briefe, die Schiller seit dem Jahre 1791 an Körner verfasste, bringen zum Ausdruck, wie sehr Schiller die Kantische Schönheitslehre zu beschäftigen schien. Er fühlte sich in Kants Kritik der Urteilskraft ein und setzte sich intensiv mit seiner Philosophie auseinander. In Kants Schrift, ebenso wie in seinen beiden Kritiken der praktischen und reinen Vernunft, geht es um die Voraussetzungen menschlicher Erkenntnis. Dabei stellt sich Kant die Frage, ob ein allgemeingültiges Geschmacksurteil möglich sein kann und unter welchen Bedingungen das Schöne überhaupt zu erkennen ist, wobei er zu der Erkenntnis gelangt, dass das Schöne als solches nur subjektiv wahrgenommen werden kann. Schiller hingegen geht es weniger um das „Wie“, als viel mehr um das, wodurch sich das Schöne definiert. Er ist daran interessiert, ein objektives Prinzip zu finden, welches dem Geschmacksurteil zu Grunde liegt und sich auf bestimmte Merkmale der schönen Gegenstände zurückführen lässt. Er geht im Gegensatz zu Kant von einem objektiven Prinzip aus, das er in enger Verbindung von Schönheit und Freiheit sucht.
Diese Auseinandersetzung Schillers mit Kants Schönheitsbegriff spiegeln sich im Briefwechsel mit Körner wieder, der unter dem Namen Kallias bekannt ist. So werde ich auf diese Briefe im Folgenden näher eingehen. Zunächst möchte ich mich der Frage nach der Lokalisierung des Urteilsvermögens widmen: Ist das Urteilsvermögen Teil der theoretischen oder Teil der praktischen Vernunft? Daraufhin werde ich Schillers ästhetisches Modell genauer beleuchten, indem ich die Freiheit als Form der praktischen Vernunft, den Prozess des ästhetischen Urteils und die Autonomie in der Erscheinung thematisiere. Des Weiteren möchte ich im Anschluss auf den Zusammenhang zwischen Zweckmäßigkeit und Schönheit hinweisen, bevor ich abschließend noch einmal auf wichtige Aspekte eingehen und diese zusammenfassen werde.
2 Das Urteilsvermögen und dessen Lokalisierung
Einer der wesentlichen Punkte, in denen Schiller Kant widerspricht, ist die Lokalisierung des Urteilsvermögens. Kant teilt in seiner Transzendentalphilosophie die Gebiete der Philosophie in das der theoretischen und das der praktischen Vernunft. In seiner Kritik der reinen Vern unft beschäftigt er sich mit dem Verstand und mit dem Problem des Erkennens überhaupt. Er nennt diesen Teil seiner philosophischen Erörterung Naturphilosophie, weil sie mit reinen Verstandes- oder Naturbegriffen operiert und sich auf die Natur, das heißt auf die Sinnenwelt, bezieht, welche den Gesetzen der Kausalität unterworfen ist. Dort lokalisiert er das Erkenntnisvermögen, das der Gesetzgebung des Verstandes unterstellt ist. In der Kritik der praktischen Vernunft behandelt er Fragestellungen der Ethik, des Wollens und des Handelns. Er nennt diesen Teil die Moralphilosophie. Hier sind es die Freiheitsbegriffe, die maßgeblich sind, denn die praktische Vernunft bezieht sich auf das Reich des Intelligiblen, in welchem der Mensch vollkommen frei, das heißt nur seinen eigenen Gesetzen – den Gesetzen der Vernunft - unterworfen, ist. Das zugehörige Vermögen bezeichnet er als Begehrungsvermögen. Doch neben diesen beiden Vermögen erkennt Kant noch ein weiteres: „Allein in der Familie der oberen Erkenntnisvermögen gibt es doch noch ein Mittelglied zwischen dem Verstande und der Vernunft. Dieses ist die Urteilskraft.“[1] Wenn also der Verstand der Sitz der Erkenntnis ist, die Vernunft der Sitz des Willens und des Handelns, dann ist die Urteilskraft der Sitz des Gefühls. Kant schreibt ihr das Gefühl der Lust und Unlust zu, das zwischen dem Erkenntnisvermögen und dem Begehrungsvermögen besteht. Die Urteilskraft „ist das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken.“[2] Dabei kann sie bestimmend sein, sofern sie vom Allgemeinen ausgeht und das Besondere darunter einordnet, oder auch reflektierend, wenn sie zu dem Besonderen das Allgemeine finden soll. Während sich die bestimmende Urteilskraft der Gesetze des Verstandes bedient, benötigt die reflektierende ein eigenes Prinzip: nämlich das Prinzip der „Zweckmäßigkeit der Natur in ihrer Mannigfaltigkeit.“[3] Da diese Prinzipien nur durch die Anwendung von Begriffen denkbar sind, ordnet Kant die Urteilskraft – zwar als eigenständiges drittes Vermögen, aber dennoch - der theoretischen Vernunft zu. Hier weicht Schiller in seiner Theorie von Kant ab. In den Kallias-Briefen schreibt er am 8. Februar 93 an Körner:
„Ich vermute, Du wirst aufgucken, dass Du die Schönheit unter der Rubrik der theoretischen Vernunft nicht findest […] sie ist gewiß nicht bei der theoretischen Vernunft anzutreffen, weil sie von Begriffen schlechterdings unabhängig ist; […] und [da] es außer der theoret(ischen) V(ernunft) keine andere als die praktische gibt, so werden wir sie hier wohl suchen müssen, und auch finden.“[4]
Für Schiller gibt es zwei Gründe, die ihn veranlassen, die Schönheit in der praktischen Vernunft zu suchen. Er stimmt zum einen mit Kant in der Feststellung überein, dass das Schöne ohne Begriff gefalle.[5] Wenn es nun also von Begriffen unabhängig ist, dann gibt es für Schiller keinen Grund, weshalb Schönheit der theoretischen Vernunft zugeordnet werden sollte. Ein zweiter Punkt ist Schillers Forderung nach einer Verbindung zwischen Schönheit und Freiheit. Für ihn ist Freiheit oder Freiheitsähnlichkeit die wahre Bedingung für Schönheit. Für den Freiheitsgedanken ist jedoch in der theoretischen Vernunft, die ja einzig und allein auf Naturbegriffen beruht und deshalb dem Kausalitätsprinzip unterworfen ist, kein Platz. Kant siedelt die Freiheit allein in der praktischen Vernunft an, wo sie das Wollen und das Handeln regiert. Wenn Schiller eine notwendige Verbindung zwischen der Schönheit und der Freiheit sucht, so muss er demnach für letztere Platz schaffen, indem er die Kantische Dreiteilung der obersten Erkenntnisvermögen aufhebt und sie durch den bloßen Dualismus von theoretischer und praktischer Vernunft ersetzt, indem er das bei Kant noch weitgehend selbständige dritte Vermögen, die Urteilskraft, ganz anders als dieser, den Gesetzen der praktischen Vernunft unterstellt. In welcher Beziehung aber steht die Idee der Freiheit zur Schönheit? Und wie kann sich Freiheit in der Welt der Erscheinung äußern, wo sie doch ein reiner Verstandesbegriff ist?
3 Schillers ästhetisches Modell
Schiller stellt nun eine Untersuchung über die Struktur des ästhetischen Gegenstandes an. Sein Ziel ist es, die Analogie dieser Struktur zu der Idee der Freiheit zu beweisen. Das objektive Merkmal des schönen Gegenstandes liegt ihm zufolge nicht in seiner Materie, sondern in seiner Form. Diese Form aber wird von der praktischen Vernunft, dem Sitz der Urteilskraft also, deshalb als schön empfunden, weil sie ihre eigene Form widerspiegelt. Was ist also die Form der praktischen Vernunft? Um Schillers Argumentationslinie zu verstehen, wollen wir uns zuerst verdeutlichen, wie er die Schönheit auf die praktische Vernunft zurückführt, indem er versucht, deren Funktionsweise zu analysieren.[6] Er erkennt zwei Hauptfunktionen, die jeweils der theoretischen bzw. der praktischen Vernunft zugeordnet werden können: „Die Vernunft verbindet entweder Vorstellung mit Vorstellung zur Erkenntnis (theoretische Vernunft), oder sie verbindet Vorstellungen mit dem Willen zur Handlung (praktische Vernunft).“[7] Dabei erkennt er für die theoretische Vernunft wiederum zwei Unterfunktionen: eine konstitutive, die gesetzgebend wirkt, und eine regulative, die lediglich eine „als ob“ - Beziehung herstellt. Aufgrund einer Symmetrievorstellung kommt Schiller zu dem Schluss, dass wohl auch in der praktischen Vernunft eine regulative Funktion vorhanden sein muss. Nun definiert er das Erkennen als eine Übereinstimmung mit der Form der theoretischen Vernunft. Was ist nun das Ergebnis von einem Handeln im Einklang mit der Form der praktischen Vernunft? Das freie Handeln. Damit glaubt Schiller also das Prinzip, oder die Form, der praktischen Vernunft erkannt zu haben, nämlich das Prinzip der Freiheit. Die Selbstbestimmung gilt ihm als oberstes Prinzip. Die „neu-entdeckte“ Funktion der praktischen Vernunft gibt jetzt der Urteilskraft Raum, die dann als eine regulative Funktion eine als-ob-Relation fordert. Das Geschmacksurteil wird etwas als schön empfinden, wenn es der Form der praktischen Vernunft entspricht. Die Form der praktischen Vernunft aber ist laut Schiller die Idee des freien Handelns, also der Autonomie. Daraus schließt er, dass folglich jeder Gegenstand schön ist, der so scheint, als ob (regulativ) er frei wäre.
Wie kann nun ein Gegenstand frei erscheinen? Nur dadurch, dass die Vernunft die Autonomie in den Gegenstand „hineindenkt“. Daraus wird ersichtlich, dass Schiller noch in einem weiteren Punkt nicht mit Kant übereinstimmt. Während Kant sowohl den Verstand als auch die Vernunft von dem Geschmacksurteil ausgeschlossen haben will, da er jenes als vor jeglicher Erkenntnis liegend bezeichnet, so kann für Schiller das Gefühl nicht das einzige Kriterium der Beurteilung des Schönen sein. Denn sowohl die Vernunft, als auch der Verstand haben am Prozess des ästhetischen Urteils teil. „Sie [die praktische Vernunft] leiht dem Gegenstande (regulativ, und nicht, wie bei der moralischen Beurteilung, konstitutiv) ein Vermögen, sich selbst zu bestimmen, einen Willen, und betrachtet ihn als dann unter der Form dieses seines Willens (ja nicht ihres Willens, denn sonst würde das Urteil ein moralisches werden).“[8] Das ästhetische Urteil kann als eine Projektion der Subjektivität in den Gegenstand aufgefasst werden. Damit also gelangt Schiller zu seinem berühmten Ausspruch: „Schönheit also ist nichts anders als Freiheit in der Erscheinung.“[9] In seiner Schrift Über Anmut und Würde formuliert er den Prozess des ästhetischen Urteils noch deutlicher: man soll sich erinnern, „daß es zweierlei Arten gibt, wodurch Erscheinungen Objekte der Vernunft werden und Ideen ausdrücken können. Es ist nicht immer nötig, daß die Vernunft diese Ideen aus den Erscheinungen herauszieht; sie kann sie auch in dieselben hineinlegen. In beiden Fällen wird die Erscheinung einem Vernunftbegriff adäquat sein, nur mit dem Unterschied: daß in dem ersten Fall die Vernunft ihn schon objektiv darin findet […]; dass sie hingegen in dem zweiten Fall […] etwas bloß Sinnliches übersinnlich behandelt. […] Ich brauche nicht zu sagen, dass ich jenes von der Vollkommenheit, dieses von der Schönheit verstehe.“[10] Damit wird nun auch klar, dass Schiller den Prozess, der bei dem ästhetischen Urteil stattfindet, als einen eigenständigen betrachtet. An diesem Prozess ist die Vernunft im Gegensatz zu Kants Auffassung sehr wohl beteiligt. Allerdings nicht in dem Sinne, dass sie einen Begriff mit dem Gegenstand direkt verbindet, sondern dadurch, dass sich der Gegenstand im Einklang mit der Vernunft befindet. Das heißt also, die Vernunft wird durch eine objektive Beschaffenheit des Gegenstandes dazu angeregt, einen subjektiven Gebrauch von ihm zu machen, also sich selbst darin zu erkennen.
[...]
[1] Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 21. Die digitale Bibliothek der Philosophie, S. 28664 (vgl. Kant-W Bd. 10, S. 85)
[2] Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 24. Die digitale Bibliothek der Philosophie, S. 28667 (vgl. Kant-W Bd. 10, S. 87)
[3] Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 26. Die digitale Bibliothek der Philosophie, S. 28669 (vgl. Kant-W Bd. 10, S. 89)
[4] Schiller, Friedrich: Kallias oder über die Schönheit. Fragment aus dem Briefwechsel zwischen Schiller und Körner. In: Friedrich Schiller. Kallias oder über die Schönheit. Über Anmut und Würde. Bibl. Ergänzte Auflage 1994. Hg. Klaus L. Berghahn, Ditzingen: Reclam. 1999. S.15
[5] „Nun hat Kant darin offenbar recht, dass er sagt, das Schöne gefalle ohne Begriff;“ Brief vom 8. Februar 93 an Körner In: Schiller, Friedrich: Kallias oder über die Schönheit. Fragment aus dem Briefwechsel zwischen Schiller und Körner. In: Friedrich Schiller. Kallias oder über die Schönheit. Über Anmut und Würde. Bibl. Ergänzte Auflage 1994. Hg. Klaus L. Berghahn, Ditzingen: Reclam. 1999. S.11
„Das Schöne ist das, was ohne Begriffe, als Objekt eines allgemeinen Wohlgefallens vorgestellt wird“
Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 74. Die digitale Bibliothek der Philosophie, S. 28717 (vgl. Kant-W Bd. 10, S. 124)
[6] nach Latzel, Sigbert: Die ästhetische Vernunft. Bemerkungen zu Schillers „Kallias“ mit Bezug auf die Ästhetik des .Jahrhunderts. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch (Görresgesellschaft) N.F. 2 (1961), S. 31 – 40. In: Friedrich Schiller. Zur Geschichtlichkeit seines Werkes. (1975) Hg. Klaus L. Berghahn. Kronberg: Scriptor Verlag GmbH & Co KG. S. 247
[7] Schiller, Friedrich: Brief an Körner vom 8.Feb. 93. In: In: Friedrich Schiller. Kallias oder über die Schönheit. Über Anmut und Würde. Bibl. Ergänzte Auflage 1994. Hg. Klaus L. Berghahn, Ditzingen: Reclam. 1999. S. 13
[8] Schiller, Friedrich: Brief an Körner vom 8.Feb. 93. In: In: Friedrich Schiller. Kallias oder über die Schönheit. Über Anmut und Würde. Bibl. Ergänzte Auflage 1994. Hg. Klaus L. Berghahn, Ditzingen: Reclam. 1999. S. 16
[9] Schiller, Friedrich: Brief an Körner vom 8.Feb. 93. In: In: Friedrich Schiller. Kallias oder über die Schönheit. Über Anmut und Würde. Bibl. Ergänzte Auflage 1994. Hg. Klaus L. Berghahn, Ditzingen: Reclam. 1999. S. 18
[10] Schiller: Über Anmut und Würde, S. 16. Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke deutscher Dichter und Denker, S. 41064 (vgl. Schiller-SW Bd. 5, S. 441)