Literaturzensur und ihre Umgehung im Franquismus und in der DDR. Zu „Cinco horas con Mario“ (Miguel Delibes) und „Die neuen Leiden des jungen W.“ (Ulrich Plenzdorf)


Bachelorarbeit, 2014

31 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Hauptteil
2.1. Literaturzensur und Umgehungsmethodik im Franquismus
2.1.1. Cinco horas con Mario (Miguel Delibes)
2.1.1.1. Carmen und Mario als Verkörperungen der “dos Españas“
2.1.1.2. Die Liberalisierung des Regimes (apertura) aus der Sicht Carmens
2.1.1.3. Kritik am herrschenden Frauenbild im Franquismus
2.2. Literaturzensur und Umgehungsmethodik in der DDR
2.2.1. Die neuen Leiden des jungen W. (Ulrich Plenzdorf)
2.2.1.1. Edgars Protest gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR
2.2.1.2. Die neuen Leiden des jungen Werther - Intertextualität als subtile Kritikform
2.2.1.3. Die Wirkung der neuen Leiden auf die BRD und die DDR

3. Spanien und die DDR - Parallelen und Differenzen in der Zensur und in deren Umgehungsmethodik

4. Fazit

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Wenn Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann das Recht, den Leuten zu sagen, was sie nicht hören wollen.“1

Weder im Franquismus (1939-1975), noch in der DDR (1949-1989) existierte dieses Recht. Die offizielle Zensur in Spanien und das Druckgenehmigungsverfahren in der DDR nahm Oppositionellen des Regimes die Möglichkeit, sich frei äußern zu dürfen. Regelverstöße wurden mit Nichtpublikation, Strafe, Zwangsarbeit und Ausweisung geahndet. Claudia Bliesener behauptet, Zensur existiere, seit es Literatur gibt.2 Daraus kann gefolgert werden, dass es auch schon immer kreative Köpfe, Intellektuelle gab, die einen Weg gefunden haben diese zu umgehen.

„Cinco horas con Mario“ von Miguel Delibes wurde erstmals 1966 veröffentlicht. Es ist nicht ganz klar, ob das Schriftstück aus Gründen des bewusst oder unbewusst euphemistisch-positiven Gutachtens des Zensors die Zensur passierte. Die Protagonistin zeigt sich vordergründig als die stereotype Verkörperung der Konventionen und des Gedankenguts des herrschenden Franquismus - und ist doch mit einem Schriftsteller und nicht so ganz systemkonformen Mann verheiratet.

Entwürfe zu den „Die Leiden des jungen W.“ stellte Plenzdorf bereits 1968/69 fertig, welche aber als Filmmanuskript und auch als Buchversion abgelehnt wurden. Nach der Liberalisierung durch Honecker, wurde der Text zunächst in der Zeitschrift Sinn und Form 1972 abgedruckt und ein Jahr später in einer überarbeiteten Fassung als Buch im Hirnstorff-Verlag, sowohl in der DDR, als auch in der BRD veröffentlicht3, wo es in beiden Teilen eine Welle der Diskussion auslöste.

Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Literaturzensur im Franquismus und in der DDR, deren Regeln, Ausführungen und Umgehungsmethoden. Speziell an den Beispielen „Cinco horas con Mario“ und „Die neuen Leiden des jungen W.“ soll gezeigt werden, wie die Autoren zwar Kritik üben, aber die Zensur passieren konnten und welche politischen Hintergründe mit eine Rolle spielten.

Beginnend mit der Literaturzensur und Umgehungsmethodik im Franquismus, den „Cinco horas con Mario“ im Hinblick auf die Verkörperung der „dos Españas“ durch die beiden Protagonisten Carmen und Mario, der „apertura“ aus ihrer Sicht und der Kritik am herrschenden Frauenbild im Franquismus, wird übergegangen auf die Literaturzen- sur und Umgehungsmethodik in der DDR, den „neuen Leiden“ im Hinblick auf Edgars Protest gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Intertextualität zum Werther und die Wirkung des Werkes auf DDR und BRD. Abschließend sollen die Parallelen und Differenzen in beiden Zensursystemen sowie deren Umgehungsmethoden aufgezeigt werden. Die zentrale Frage in beiden Werken soll sein: Wenn Kritik am herrschenden System geübt wird, wo ist sie zu finden und wie kann sie entschlüsselt, definiert, hinterfragt werden?

2. Hauptteil

Um sich mit der Zensur im Franquismus und in der DDR beschäftigen zu können, ist es wichtig, deren Definition und Etymologie im Ansatz zu kennen. Im Wörterbuch der Literaturwissenschaft schreiben die Herausgeber:

Zensur [‹lat. censura: strenge Prüfung]: in der Klassengesellschaft historisch entstandenes Sys- tem zur Überwachung und Unterdrückung der die gegebenen Verhältnisse in dieser oder jener Form in Frage stellenden (progressiven, demokrat. usw.) Meinungsbildung; in erster Linie gegen Druckerzeugnisse aller Art gerichtet, dient sie dem Ziel, das Meinungsmonopol und die ideolog. Dominanz der jeweils herrschenden Gesellschaftskräfte zu erhalten. Formen der Z. sind: Prüfung vor Veröffentlichung (Vor-Z.), Verfolgung nach Veröffentlichung (Nach-Z.); die drastischste Form der Z. ist die Bücherverbrennung. […]4

Zensur ist also ein Machtinstrument, das laut Bliesener „keine Erfindung von Diktaturen und autoritären Staaten der Moderne“ (Bliesener 2012: 11) ist, sondern „»so alt wie die Literatur, und die Praxis, Bücher zu zensieren, zu verbieten oder zu verbrennen, ist mehr als 2000 Jahre alt.«“ (Bliesener 2012: 11) Der Ursprung des Wortes Zensur ist im Lateinischen zu finden. „censura“ ist ein Überbegriff für die römischen Zensoren, die „das Vermögen der Bürger […] beurteilen“ (Bliesener 2012: 27) sollten. 415 v. Chr. wurden in Athen Schriftstücke diverser Autoren verbrannt - die erste schriftlich belegte Bücherverbrennung. Christen verloren 303 n.Chr. unter Kaiser Diokletian ihre Rechte, woraufhin „alle Bücher christlich-religiösen Inhaltes verbrannt und ein großer Teil der christlichen Bibliotheken zerstört“ (Bliesener 2012: 30) wurde. In den folgenden Jahr- hunderten wurden nicht nur christliche, sondern auch heidnische, jüdische, muslimi- sche, u.v.a. Schriften und Bücher zerstört oder verbrannt. Die Inquisition tat ihr Übriges (vgl. Bliesener 2012: 30-32). Mit der Erfindung des Buchdrucks bedurfte es auch einer strengeren Überwachung, da unliebsame Schriften nun schneller und in höherer Aufla- ge „an den Mann“ gebracht werden konnten (vgl. Bliesener 2012: 33). Als einer der ersten Verfechter der Pressefreiheit gilt der aus England stammende Dichter John Milton. Er bezeichnete die Bucheinteilung in gut und schlecht als schlichtweg zu feige um sich mit der Wahrheit auseinander zu setzen (vgl. Bliesener 2012: 37). Die Zensur beeinflusste nicht nur das Leben und Wirken von Schriftstellern und Autoren sämtlicher Epochen, sondern auch das alltägliche Leben aller, die einem zensurfördernden Regime unterstanden.

2.1. Literaturzensur und Umgehungsmethodik im Franquismus

1931, nachdem die Monarchie in Spanien zusammengebrochen war, teilte sich das Land in Gegner (Kirche, Militär) und Befürworter (Kleinbürger, Mittelschicht) der Re- publik („dos Españas“). Der Militäraufstand am 17.07.1936 unter Francisco Franco Bahamonde in Spanien-Marokko, gipfelte schließlich im spanischen Bürgerkrieg (1936- 1939), aus dem Franco als Sieger hervorging, dessen Diktatur bis 1975 anhalten sollte (vgl. Bliesener 2012: 81-82). Unterstützt wurde er von der Kirche, der Falange (Ein- heitspartei Francos) und dem Militär, Großgrundbesitzern und Verantwortlichen des Finanzapparates (vgl. Bliesener 2012: 84). 1945 erließ Franco erstmals bürgerliche Grundrechte, die er allerdings im Stande war wieder ändern zu können. Er löste alle Parteien auf und setzte die Gleichschaltung der Presse durch. Regimegegner wurden zur Zwangsarbeit oder auch zum Tode verurteilt.5 Keiner konnte sich der staatlichen Macht entziehen, da schon der Verdacht des Zuwiderhandelns gegen das System er- hebliche Konsequenzen nach sich ziehen konnte. Es wurde vorgeschrieben, was zu denken und wie zu handeln war (vgl. Arin 2012: 74). Die ersten Nachkriegsjahre sind als Hungerjahre bekannt, geprägt durch ökologische und ökonomische Stagnation, Lebensmittelknappheit, Schwarzmarkt, Geldnot, Löhne unterhalb des Existenzmini- mums, was die Menschen dazu zwang (mehrere) Nebenbeschäftigungen anzuneh- men.6 Die Menschen flohen in größere Städte oder ins Ausland (vgl. Bernecker 1982: 99). Durch das spanische Militär wurde 1936 eine Art Vorzensur beschlossen. Das sogenannte „Pornographie-Gesetz“ stellte einen Themenindex dar, den es zu ver- schweigen, zu tabuisieren und zu vernichten galt. Aufgrund dessen wurden Schulen, Büchereien, Bibliotheken von dieser Art Literatur gereinigt und ein Katalog entstand, der im Laufe der Jahre von der Zensurbehörde ständig erweitert wurde. Auch ließ Franco staatsgefährdende Schriften am Tag des Buches 1939 verbrennen (vgl. Bliesener 2012: 87). Ein Jahr zuvor wurde die Delegación Nacional de Prensa y Pro- paganda gegründet. Sie war dem Innenministerium unterstellt und kontrollierte Presse, Radio und Propaganda. Die seit dem Krieg bestehende Zensur blieb legal. 1938 wurde das erste Pressegesetz erlassen, das die Massenmedien kontrollieren sollte. Zeitungs- direktoren wurden vom Staat eingesetzt und hatten die Aufgabe Spanien unter Franco als heile Welt zu postulieren- die Presse als staatliches Propagandainstrument. Aber nicht nur die Presse, sondern sowohl Bücher als auch Theater und Film waren der Willkür der Zensoren ausgeliefert (vgl. Bliesener 2012: 87-88). Von 1939 bis 1941 wur- de die Zensur durch das Innenministerium ausgeführt, anschließend bis 1945 durch die Vicesecretaría de Educación Popular (Organisation, die der Falange unterstellt war). Zwischen 1946 und 1951 war die Ausführung der Zensur dem Erziehungsministerium und schließlich dem Ministerium für Information und Tourismus (MIT) unterstellt.7 Um ein Buch drucken, einen Film abspielen oder ein Theaterstück aufführen zu dürfen, bedurfte es eines Zertifikats der Zensurbehörde. In der Vorzensur, oder auch consulta previa genannt, wurden die schriftlichen Ideen und Werke (Probentext, Drehbuch, Buchmanuskript) ausgewertet, kritisiert, umgeschrieben und in einer Nachzensur, die bei den besonders öffentlichkeitswirksamen Medien wie Theater und Film Anwendung fand, noch einmal kontrolliert. Das zweite Pressegesetz folgte 1966, das die freiwillige Zensur oder auch consulta voluntaria genannt, an die Stelle der consulta previa stellte. Die Zensur wirkte sich schon auf den Entstehungsprozess eines Werkes aus, welches ein Dossier erhielt, das die Zensoren mit Streichungen, Änderungsvorschlägen und weiteren Wünschen ausfüllen und an eine höhere Stelle geben konnten. Dieses Hin und Her hatte zur Folge, dass eine Genehmigung gegebenenfalls lange auf sich war- ten ließ. Die Zensur kannte keine festgelegten Regeln und war der Unberechenbarkeit der Zensoren ausgeliefert. Politische Themen wurden durch das neue Gesetz genauso streng zensiert, moralischen allerdings wurde mehr Freiheit zugesprochen. Neuschäfer gibt an, dass sich im Laufe der Zeit eine „Art von Kanon“ (Neuschäfer 1991: 42) gebil- det habe, der sich wie folgt gliedern lässt:

1. Verstößt das vorgelegte Projekt gegen die guten Sitten, insbesondere gegen die »moral sexual«, also gegen das Reinheitsgebot der altehrwürdigen opinión?
2. Liegt ein Verstoß gegen das katholische Dogma oder eine Beleidigung kirchlicher Institutionen und ihrer Diener vor?
3. Werden die politischen Grundsätze des Regimes oder seine Einrichtungen und Mitarbeiter mißachtet? (Neuschäfer 1991: 43)

Trotz des Kanons liegt die Strenge der Umsetzung dieser Zensur-Leitfragen beim Er- messen des Zensors. Das Zensursystem wurde in die Sparten Buchwesen, Theater, Kino und Presse eingeteilt. Während Film, Theater und Presse eine Anzahl von zehn bis zwanzig Zensoren „erforderte“, waren es beim Buchwesen „nur“ einer oder zwei (vgl. Neuschäfer 1991: 43). Dem ist noch hinzuzufügen, dass das Zensieren nicht als Hauptberuf ausgeübt wurde, sondern eine geringbezahlte Nebenbeschäftigung dar- stellte. Neben den oben genannten Methoden gehörten desweiteren das Übersehen einer Akte, die Limitierung der Auflagenhöhen bzw. Vorstellungstermine, die Größen- zuteilung der Kinosäle, die Kategorisierung von Filmen und die Papierzuteilung an Zeitungsredaktionen. Eine Publikationsgenehmigung konnte illegaler Weise wieder entzogen werden, durch sogenannte „hojas de inspección“ (vgl. Neuschäfer 1991: 45). Neuschäfer bringt in der Beschreibung von spanischer Zensur und Zensurumgehung Freuds Traumdeutung ins Spiel, um zu zeigen, dass die Kommunikation nicht nur gelähmt, sondern auch angespornt hat, Mittel und Wege zu finden, um durch die Blume zu sagen, was nicht gesagt werden darf:

Der (…) Schriftsteller hat die Zensur zu fürchten, er ermäßigt und entstellt darum den Ausdruck seiner Meinung. Je nach der Stärke und Empfindlichkeit der Zensur sieht er sich genötigt, entwe- der bloß gewisse Formen des Angriffs einzuhalten oder in Anspielungen statt in direkten Be- zeichnungen zu reden, oder er muss seine anstößige Mitteilung hinter einer harmlos erscheinen- den Verkleidung verbergen; er darf zum Beispiel von Vorfällen zwischen zwei Mandarinen im Reich der Mitte erzählen, während er die Beamten des Vaterlandes im Auge hat. Je strenger die Zensur waltet, desto weitgehender wird die Verkleidung, desto witziger oft die Mittel, welche den Leser doch auf die Spur der eigentlichen Bedeutung leiten. (Neuschäfer 1991: 48)

Systemimmanente Kritik wird versteckt, verkleidet, beschönigt, untergeschoben, ge- tarnt um endlich doch Gehör durch deren Publikation zu finden. Zwei Methoden sind die Sinnverschiebung (Verlagerung des Sinnzusammenhangs) und die Sinnverdich- tung (pars pro toto) (vgl. Neuschäfer 1991: 49). Aber auch „Witz […] Ironie […] schwar- zer Humor […] Verwendung alltäglicher und/oder durch die Tradition geheiligter Kom- munikationsmuster, Textsorten und Literaturgattungen […] operationale […] Entstel- lung vertrauter literarischer Verfahrensweisen und chronologischer Einteilungskatego- rien […] Verwendung von Außenseiterperspektiven […]“ (Neuschäfer 1991: 68) konn- ten Mittel sein die Zensur zu umgehen. Letzteres ist im Roman „Cinco horas con Ma- rio“ von Miguel Delibes zu finden. Die Abschaffung der spanischen Zensur erfolgte erst 1978, drei Jahre nach Francos Tod, mit der Verfassung und „im Zuge der Demokrati- sierung“ (vgl. Bliesener 2012: 103).

2.1.1. Cinco horas con Mario

2.1.1.1. Carmen und Mario als Verkörperungen der dos Españas

Der Konflikt zwischen dem von Mario repräsentierten liberalen, zukunftsorientierten „España abierta“ und dem von Carmen verkörperten traditionalistisch-reaktionären „España eterna“ gilt als zentrale Thematik des Romans. Beide Protagonisten verlieren an Individualität und können als Symbole und Vertreter der zwei Spanien gesehen werden.8 Carmen symbolisiert die franquistische Diktatur, karikiert als unreflektiert, engstirnig, kleinlich, beschränkt, uneinsichtig, dumm und nicht zuletzt triebgesteuert. Dem gegenüber steht Mario für Kultiviertheit, Fortschritt, Idealismus und Intellektualität. In Carmens fünfstündigem Monolog, dessen Themen durch von Mario unterstrichenen Bibelzitaten eingeleitet werden, erfährt der Rezipient von Leben, Charaktereigenschaf- ten und Wirken des Verstorbenen. Er war ein schlanker, blasser Brillenträger9, der den Beruf des Gymnasiallehrers ausübte, in einer Nebenbeschäftigung noch Zeitungsre- dakteur und Schriftsteller war, der für die links-liberale Zeitung „El Correo“ geschrieben hatte (vgl. 117). Seine verbliebene Frau bezeichnet ihn als studiert und gebildet („gente educada“, 134, „estudiaras tanto“, 149). Sie ist von seinem intellektuellen Getue („golpe de intelectuales“, 139) und seinen proletarischen Neigungen („gustos proletarios“, 121) genervt. Außerdem schwimmt er gegen den Strom und hat bei den kleinen Leuten einen Stein im Brett (ir contra corriente, 186; „tenía un gran cartel entre la gente baja“, 97). Desweiteren bezeichnet sie ihn als sozialistisch und kritisch dem System gegenüber („tanto criticar, tanto criticar“, 249; „hay que cortar de arriba y añadir de abajo“, 265: „oben muß man abschneiden und unten ansetzen“10 ). Da ihn Carmen immer wieder zitiert liefert sie ein zusätzliches Indiz, das Mario als Intellektuel- len charakterisiert. Trotz seines Todes ist Marios Stimme nicht ganz verstummt, in dem Sinne, dass die Bibelzitate, als Stichwortgeber und „posthume Verkörperung[en] von Marios Widerspruchsgeist“ (Neuschäfer 1991: 91) fungieren und Mario seine Frau so- mit zu mehreren wortgewaltigen Reden anstiftet. Schon allein der Besitz der Bibel zeugt im Spanien der 60er Jahre von oppositionellem Gedankengut (vgl. Neuschäfer 1991: 91). Marios Bezug zur Religion verbindet Carmen mit seiner „ziemlich armseli- gen Vorstellung von Christus“ (Delibes 1977: 84) („Tenéis un concepto muy pobre de Cristo“, 151), von der sie ebenso wenig hält wie von seiner Definition der Nächstenlie- be (vgl. 145-146). Bereits rein äußerlich unterscheidet sich Carmen von ihrem Mann, da sie immer wieder auf ihre großen Brüste (241) zu sprechen kommt, die im Gegen- satz zu ihrem schlanken Gatten (124) stehen und sie ist sehr auf ihr Äußeres bedacht, selbst im Zuge der Trauerfeier bemängelt sie die Farbkombination schwarz in schwarz. ([…] que negro sobre negro cae fatal […], 240) Sie bezeichnet sich selbst als „dumm“ („la tonta fui yo“ 114), verachtet die ausländische Lebensweise (vgl. 150, 161-162) und verkörpert den Franquismus in seinen Grundfesten. Dies äußert sich im Klassenbe- wusstsein („Tenía por principio no aceptar lecciones de las criadas.“,101: „Es gehörte zu ihren Prinzipien, von einem Dienstmädchen keine Lehren anzunehmen.“ (Delibes 1997: 24)), an Ausländerfeindlichkeit („Los extranjeros, esos […] nada tienen que enseñarnos, que si vienen aquí […] es a comer caliente […], 140: „Von diesen Auslän- dern […] können wir nichts lernen, und wenn sie herkommen, dann […] um sich satt zu essen […] (Delibes 1997, 71)), an der Unantastbarkeit der katholischen Kirche („los principios son sagrados“, 114), am Standesbewusstsein, das sie u.a. am Besitz eines „Seiscientos“ (117) festmacht. Für viele Spanier galt „der Seat 600 […] als Symbol für die aufstrebende spanische Wirtschaftsnation in den späten 60er Jahren.“11 Doch statt eines Autos, kauft ihr Mann lieber Bücher und fährt mit dem Fahrrad zur Arbeit (vgl. 143, 272). Sie lehnt Protestantismus und Judentum ab (vgl. 150-151) und kritisiert im- mer wieder die Intellektuellen, zu denen auch Mario zählt, bezeichnet seine Arbeit am „El Correo“ als „Käseblatt“ (Delibes 1997: 43) („periodicucho“, 118). Dank ihrer Re- gimetreue schenkt sie ihren Glauben, bezüglich des nächtlichen Fahrrad-Vorfalls im Park, als Mario beteuert, ein Polizist hätte ihn geschlagen - und er dies durch ein ärzt- liches Gutachten beweisen kann - dem beteiligten Polizisten, der behauptet, Mario wäre vom Rad gefallen (vgl. 142). Carmen hat viele Maximen von ihren Eltern unge- fragt übernommen. Dazu zählen die Negierung des technischen Fortschritts, ihre Vor- stellung von Freundschaft, die „Nutzlosigkeit“ eine Frau studieren zu lassen, der vom Mann ausgehende Heiratsantrag und das „rücksichtslos“ sein in der Hochzeitsnacht (vgl. Neuschäfer 1991: 94). Die aus der Ehe hervorgegangenen fünf Kinder erzieht sie mit strenger Hand, denn sie ist der Ansicht „una autoridad fuerte es la garantía del or- den“ (191): „eine feste Autorität ist die Garantie für Ordnung“ (Delibes 1997: 129). Das bedeutet sowohl, dass die Kinder den Eltern als auch, dass die Eltern der Obrigkeit gehorchen müssen um die Ordnung wahren zu können.12 Carmens romantische Vor- stellung von Monarchie gleicht der eines Kindes, sie befasst sich nicht mit dem hinter der Monarchie stehenden politischen System, sondern ist vom Prunk- und Statusden- ken erfüllt (vgl. 155). Hierzu zählt auch ihre Erfahrung mit dem Bürgerkrieg. Während Mario diesen für „eine Tragödie“ (Delibes 1997: 67) hält, hat Carmen dazu nur positive Gedanken: „pero y lo pasé divinamente en la guerra“, 153: „aber mir ist es während des Krieges wunderbar ergangen“ (Delibes 1997: 85). Indem Carmen ihren Mann so vehement verurteilt und sich ihre Aussagen teils widersprechen, ist man als Rezipient geneigt, ihre Anklagepunkte umzukehren. Beschwert sie sich über Marios Mangel an Opportunismus und seine Unterstützung für die Armen und Außenseiter, „bewundert der Leser seine Prinzipientreue und seinen Einsatz für die Ausgegrenzten.“ (Mohr 2013: 27) Dass er Frauen zum Studium führen möchte und mit Menschen unterschiedlichster Klassen befreundet ist, zeugt von einem Standes- und Rassenlehre-fremdem Charakter. Und auch seine Depressionen, die Carmen nicht verstehen will und ihn als „niño chico“ (149): „kleines Kind“ (Delibes 1997: 81) bezeichnet, will der Leser der Gefühlsbetontheit Marios zusprechen. Je heftiger die Kritik, desto höher steigt Mario auf der persönlichen Heldenskala (vgl. Mohr 2013: 27).

Jakob Mohr stellt sich der These der „dos Españas“ entgegen, wie auch Ana Luengos in „La memoria encrucijada“, und bezeichnet sie als „Mythos“ (vgl. Mohr 2013: 28), es gäbe keine „Teilung in zwei genau komplementäre, uniforme, sich gegenüber stehende Bereiche.“ (Mohr 2013: 28) Diese Ansicht hat auch zur Folge, dass Mohr Carmen und Mario als Repräsentanten der zwei Spanien als nicht vertretbar ansehen kann (vgl. Mohr 2013: 29). Juan Estruch Tobella hält die Protagonisten zwar für sehr unterschied- lich, allerdings nicht für Antagonisten. In Sachen Politik sei Mario weder ein Revolutio- när, noch Carmen als Faschistin zu bezeichnen. Und auch in der Religion sei weder Mario ein Anhänger der liberalen Theologie, noch Carmen eine Fromme. Sie repräsen- tieren lediglich zwei Varianten kleinbürgerlich-provinzialen Denkens in den 60er Jah- ren, der eine fortgeschrittener, die andere konservativer.13 Gleich dem ob die zwei- Spanien-These nun als Mythos angesehen werden sollte oder nicht, ist festzuhalten, dass die Charaktere der Protagonisten keiner ausschließlichen Schwarz-Weiß- Zeichnung anheimfallen. Aber genau diese Technik macht die Erzählung authentisch, macht die Protagonisten zu Personen, in denen sich die Anti- oder Prohaltung der Menschen im und zum franquistischen Spanien widerspiegelt. Und genau hier passiert die subtile Kritik am System, dessen Zensur Delibes nur so umgehen konnte.

[...]


1 Alle Zitate aus: Haase, Baldur: „Verführt durch »Schmutz und Schund«. Mein Orwell. In: Heimliche Leser in der DDR. Kontrolle und Verbreitung unerlaubter Literatur. Hrsg. v. Siegfried Lokatis u. Ingrid Sonntag. Berlin: Christoph Links Verlag. 2008. S. 174. werden in folgender Weise im Fließtext nachgewiesen: (Name Jahr: Seitenangabe).

2 Alle Zitate aus: Bliesener, Claudia: Wenn Worte zu gefährlich werden … Zensur in der DDR - Zensur in Spanien unter Franco. Ein interkultureller Vergleich. Berlin: Frank & Timme GmbH. 2012. S. 11. werden In folgender Weise im Fließtext nachgewiesen: (Name Jahr: Seitenangabe).

3 Vgl. Alle Zitate aus: Bernhardt, Rüdiger: Königs Erläuterungen. Textanalyse und Interpretation zu Ulrich Plenzdorf. Die neuen Leiden des jungen W. Berlin: 2012. S. 34. werden in folgender Weise im Fließtext nachgewiesen: (Name Jahr: Seitenangabe).

4 Alle Zitate aus: Wiesner, Herbert u. Ernst Wichner (Hrsg.): Zensur in der DDR. Geschichte, Praxis und Ästhetik‹ der Behinderung von Literatur. Berlin: Literaturhaus Berlin. 1991. S. 17. werden in folgender Weise im Fließtext nachgewiesen: (Name Jahr: Seitenangabe).

5 vgl. Alle Zitate aus: Arin, Kubilay Yado: Francos ,Neuer Staatʻ. Von der faschisPschen Diktatur zur parlamentarischen Monarchie. Berlin: wvb. 2012. S. 55. werden in folgender Weise im Fließtext nachgewiesen: (Name Jahr: Seitenangabe).

6 Vgl. Bernecker, Walther L.: Die Arbeiterbewegung unter dem Franquismus. In: Schriften der Philosophischen Fakultäten der Universität Augsburg. Die geheime Dynamik autoritärer Diktaturen. Vier Studien über den sozialen Wandel in der Franco-Ära. Hrsg. v. Josef Becker, Ilse Lichtenstein-Rother u. Hugo Stopp. München: Ernst Vögel. 1982. S. 99.

7 Vgl. Alle Zitate aus: Neuschäfer, Hans-Jörg: Macht und Ohnmacht der Zensur. Literatur, Theater und Film in Spanien (1933-1976). Stuttgart: Metzler. 1991. S. 41. werden im Fließtext in folgender Weise nachgewiesen: (Name Jahr: Seitenangabe).

8 Vgl. Alle Zitate aus: Mohr, Jakob: Unreliable narration als Mittel zur Vervielfältigung von Deutungsebenen. Miguel Delibes´ Cinco horas con Mario. Mannheim: Universität. 2013. S. 27-28. werden in folgender Weise im Fließtext nachgewiesen: (Name Jahr: Seitenangabe).

9 Alle Zitate aus: Delibes, Miguel: Cinco horas con Mario. Barcelona: Ediciones Destino. 2011. S. 103. werden in folgender Weise im Fließtext nachgewiesen: (Seitenzahl).

10 Alle Übersetzungszitate aus: Delibes, Miguel: Fünf Stunden mit Mario. Berlin: Klaus Wagenbach. 1997. S. 221. werden in folgender Weise im Fließtext nachgewiesen: (Name Jahr: Seitenangabe).

11 Droll, Silke: Der Blick zurück auf DDR und Franco-Regime. Ein Vergleich der Erinnerungskulturen in Deutschland und Spanien. München: Grin. 2008. S. 83.

12 Alle Zitate aus: Pemsel, Martina: Miguel Delibes. Die Darstellung der Frauenfiguren in den Romanen von Miguel Delibes. Saarbrücken: VDM. 2009. S. 84-85. werden im Fließtext in folgender Weise nachgewiesen: (Name Jahr: Seitenangabe).

13 Vgl. Alle Zitate aus: Estruch Tobella, Joan: Guía de lectura. Cinco horas con Mario de Miguel Delibes. Barcelona: La Galera. 2008. S. 28-29. werden in folgender Weise im Fließtext nachgewiesen: (Name Jahr: Seitenangabe).

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Details

Titel
Literaturzensur und ihre Umgehung im Franquismus und in der DDR. Zu „Cinco horas con Mario“ (Miguel Delibes) und „Die neuen Leiden des jungen W.“ (Ulrich Plenzdorf)
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum
Note
2,3
Autor
Jahr
2014
Seiten
31
Katalognummer
V336819
ISBN (eBook)
9783668262102
ISBN (Buch)
9783668262119
Dateigröße
655 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
literaturzensur, umgehung, franquismus, cinco, mario, miguel, delibes, leiden, ulrich, plenzdorf
Arbeit zitieren
Daniela Graf (Autor:in), 2014, Literaturzensur und ihre Umgehung im Franquismus und in der DDR. Zu „Cinco horas con Mario“ (Miguel Delibes) und „Die neuen Leiden des jungen W.“ (Ulrich Plenzdorf), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/336819

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