Brechts "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny". Aufstieg und Fall des Christentums?


Hausarbeit, 2010

33 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Sie werden lachen: Die Bibel.

2 Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny - Aufstieg und Fall des Christentums?
2.1 Biblische Bezüge in Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
2.1.1 Biblische Motive in der Brechtschen Oper
2.1.1.1 Erste Szene: Der Exodus
2.1.1.2 Zweite und neunte Szene: Biblische Nummerologie
2.1.1.3 Achte Szene: Der freie Mensch und seine Transzendenz
2.1.1.4 Zehnte Szene: Die Sintflut
2.1.1.5 Elfte Szene: Soddom und Gomorrah, der zweite Bund und die Zehn Gebote
2.1.1.6 Zwölfte Szene: Der zweite Bund oder: Der freie Wille des Menschen
2.1.1.7 Dreizehnte Szene: Das Goldene Kalb und die Hure Babylon
2.1.1.8 16. Szene: Messiaserscheinung und die Frage nach dem Himmel
2.1.1.9 17. Szene: Das Gebet Jesu im Garten Gethsemane
2.1.1.10 18. Szene: Die Passion Christi
2.1.1.11 19. Szene: Der Judaskuss und das Spiel im Spiel: Gott in Mahagonny
2.1.1.12 20. Szene: Hilflosigkeit
2.1.2 Die Luther-Sprache und biblischen Zitate in Brechts Mahagonny
2.1.2.1 Erste Szene: Der Exodus und der Name Mahagonny
2.1.2.2 Neunte und elfte Szene: Die Zehn Gebote und der Untergang Babylons
2.1.2.3 19. Szene: Abschiedsreden und Kreuzigung Jesu
2.1.2.4 20. Szene: Tod Jesu
2.1.3 Bezüge zur christlichen Ordnung in Mahagonny
2.1.3.1 Alter Bund zwischen Menschen und Gott
2.1.3.2 Neuer Bund zwischen Menschen und Gott
2.2 Aufstieg und Fall des Christentums?
2.2.1 Einführung
2.2.1.1 Brecht und die Soziologie
2.2.1.2 Brechts Verständnis von Humanität
2.2.2 Das goldene Kalb
2.2.2.1 Das Werk und die Aufführung der Salzburger Festspiele 1998
2.2.2.2 Brechts Ansichten über Religion
2.2.2.3 Theaterstücke Brechts ähnlicher Thematik im Vergleich
2.2.3 Der schnöde Mammon
2.2.3.1 Theaterkritiken von 1929-32
2.2.3.2 Hauptargumente für eine reine Kapitalismuskritik
2.3 Daraus folgende mögliche Funktionen der biblischen Bezüge
2.3.1 Verfremdungseffekt im epischen Theater
2.3.2 Kritik am Kapitalismus
2.3.3 Kritik am Christentum

3 Aufstieg und Fall des Christentums!

Literaturverzeichnis

1 Sie werden lachen: Die Bibel.

Befragt man Augsburger Studenten heute nach ihrem Wissen über Bertolt Brecht, antworten viele, dass er in Augsburg geboren wurde und meistens schieben sie das unter Kommilitonen bekannteste, weil persönlich gut nachvollziehbare Brecht-Zitat hinterher: „Das schönste an Augsburg? Der Zug nach München.“

Dem einen oder anderen mag natürlich die Drei-Groschen-Oper einfallen oder seine marxistische Haltung, zu der er Mitte der 1920er findet und in seinen Werken durch eine harsche Kapitalismuskritik offenbar wird. Wie viele Schriftsteller (er selbst nannte sich jedoch stets Stückeschreiber, da er den tradierten Poeten-Begriff für abwegig hielt) teilt er zudem eine kritische Haltung gegenüber der christlichen Religion, die sich aus einer sorgsamen Auseinandersetzung mit den Inhalten christlichen Glaubens sowie der Bibel und schließlich der Lektüre Marxens entwickelt. Aufgezogen im protestantischen Glauben durchläuft der junge Brecht den damals unmittelbar von der Kirche erteilten Religions- und Konfirmandenunterricht, den er mit Bravour und großem Interesse meistert. Selbst in seinen Tagebucheinträgen finden sich stolze Notizen über seine disziplinierte lineare Lektüre des Alten Testaments. Die ersten Theaterstücke, die er im Alter von 15 Jahren schreibt, befassen sich sodann auch mit biblischen Stoffen und der eigenen Glaubensentwicklung, wie anhand der Titel — Die Bibel und David — bereits ersichtlich wird. Während er in diesen noch keine kritische oder ablehnende Haltung erkennen lässt, parodiert Brecht in der 1926 erscheinenden Taschenpostille, 1927 unter dem Titel der Hauspostille gedruckt, berühmt wird, die christliche Erbauungsliteratur sowie die Kirchen- und Hauspostille Martin Luthers. Die Texte jedoch stellen eine Sammlung der letzten zehn Jahre dar. Trotz des folgenden Bruchs mit dem Christentum oder gerade deshalb nimmt Brecht immer wieder biblische Motive und die sprachliche Gestaltung der Lutherbibel in seinen Werken auf. So auch geschehen in seinem größten Welterfolg der Drei-Groschen-Oper, nach deren Uraufführung die Berliner Zeitschrift Die Dame 1928 Brecht die Frage stellt, welches Buch auf Ihn den tiefsten Eindruck gemacht habe? Brecht antwortet: „Sie werden lachen: Die Bibel.“1 Diese Aussage wird zunächst ironisch kabarettistisch gedeutet, letztendlich aber bleibt sie eine ehrliche Antwort Brechts, der von der Bibel und ihren Geschichten schlechtweg fasziniert ist. Als er seine Theorie des epischen Theaters bereits mehr oder weniger erfolgreich umgesetzt hat, möchte er dies nun auch auf die Kunstform der Oper anwenden. Deshalb und auf Grund der unmittelbaren, rücksichtslosen Gesellschaftskritik erlebt Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny 1929 bei der Uraufführung in Leipzig einen perfekten Theaterskandal. Auch hier spielt Brecht mit biblischen Bezügen, die neben dem vermeintlichen Hauptanliegen der Kapitalismuskritik anfangs allerdings kaum Beachtung finden. Diese erste Lebenshälfte Bertolt Brechts soll im folgenden den Hintergrund der vorliegenden Arbeit bilden.2

2 Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny - Aufstieg und Fall des Christentums?

Entgegen der heute immer noch und in der Zeit nach der Wirtschaftskrise des 21. Jahrhunderts gerade wieder aktuellen Kapitalismuskritik, die man in Brechts Werken häufig finden kann, soll in dieser Arbeit die Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny auf einen anderen Interpretationsansatz hin kritisch überprüft werden: Kann der Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny mit einem Aufstieg und Fall des Christentums gleichgesetzt werden?

In einem ersten Teil der Arbeit sollen hierfür die Parallelen in Motivik, Sprache und gesellschaftlicher Ordnung zwischen biblischen Texten und dem Brechtschen Theaterstück dargestellt werden. Daraufhin werden in einem zweiten Teil dem Leser verschiedene Standpunkte aus Forschungsliteratur, der damaligen Theaterkritiken und Brechts eigene Aussagen zur Funktion dieser religiösen Momente sowie generelle Gedanken zu Religion und damit verbundenen Themen vorgestellt, um abschließend die im Titel dieser Arbeit aufgestellte These günstigstenfalls verifizieren zu können.

2.1 Biblische Bezüge in Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny

Auf den ersten Blick erschließen sie sich gerade dem Bibel unkundigen Leser nicht sofort, folgt man jedoch der Spur biblischer Anspielungen allgemein im Werk und insbesondere in der vorliegenden Oper Brechts, ergeben sich mehr ernst zunehmende Anhaltspunkte als zuvor geahnt. Diese werden im folgenden Szene für Szene soweit wie möglich und nötig dargestellt, wobei kein Anspruch auf Vollständigkeit besteht.

2.1.1 Biblische Motive in der Brechtschen Oper

Zunächst widmet sich die Arbeit den großen biblischen Stoffen, die in Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny anzutreffen sind. Die Parallelen und Abweichungen im Text Brechts gegenüber der Heiligen Schrift sollen nun demonstriert werden, worauf jedoch noch keine Beurteilung etwaiger Funktionen folgt, da diese erst nach kritischer Sichtung bestehender Äußerungen Brechts und der Forschungsliteratur dargelegt werden.

2.1.1.1 Erste Szene: Der Exodus

Der erste Aufzug handelt von der Stadtgründung Mahagonnys und stellt die drei Stadtgründer Leokadja Begbick, Dreieinigkeitsmoses und Willy den Prokurist vor. Sie sind vor der Polizei geflohen, in der Hoffnung auf ein besseres, freies Leben. Den Raum bildet eine Wüstenlandschaft kurz vor der amerikanischen Westküste, was an die Wüstenwanderung des Volkes Israel unter der Führung des Mose aus der Knechtschaft Ägyptens im Alten Testament erinnert. Bereits der Name Dreieinigkeitsmoses intendiert eine solche Assoziation. Er verweist auf die Trinität des christlichen Gottesbilds und somit auf den christlichen Hintergrund, den man in der Oper finden kann. Wenn Dreieinigkeitsmoses wirklich die biblische Gestalt des Moses darstellt, könnte Willy die Rolle des Aaron übernehmen, der diesem entsprechend als Prokurist eine umfangreiche, geschäftliche Vertretungsmacht besitzt. Zusammen befolgen die beiden die Anweisung Gottes, nämlich der Begbick, eine Stadt zu gründen, indem sie „also diesen Angelstock in diese Erde [stecken] und/ dieses Stück/ Leinen [hissen], damit die Schiffe, die von der Goldküste hier/ vorüberfahren/ uns sehen können.“3 Die darauf folgende Begründung der Existenz der Stadt „Aber dieses ganze Mahagonny/ Ist nur, weil alles so schlecht ist/ Weil keine Ruhe herrscht/ Und keine Eintracht/ Und weil es nichts gibt/ Woran man sich halten kann.“4 könnte dann auf einen ersten Bundesschluss zwischen Gott und den Menschen schließen lassen. Unterstreichen würde diese Beobachtung die Tatsache, dass in der Aufführung dieser Part nicht wie im Text vorgesehen von Dreieinigkeits- moses und Willy, sondern von Begbick vorgetragen wird.

Eine weitere Ähnlichkeit bestünde in der Stadtgründung, die die Landnahme nach dem Exodus symbolisieren könnte. All diese Themen in der ersten Szene konzentriert, nimmt sie Bezug auf eine der großen und wichtigsten ErzväterGeschichten am Anfang der jüdischen Thora.

2.1.1.2 Zweite und neunte Szene: Biblische Nummerologie

Die Stadt Mahagonny entwickelt sich hervorragend, weshalb sie immer mehr Menschen anzieht. Denn die Stadt bietet das unschlagbare Versprechen „eine Woche ist hier: Sieben Tage ohne Arbeit“5. Auf Grund des raschen Wachstums werden jedoch immer mehr Arbeitskräfte benötigt, die den Freizeitgenuss, beispielsweise des Trinkens und der Liebe, für die anderen Bewohner ermöglichen. So kommen auch Jenny und sechs weitere Prostituierte dorthin, in der Hoffnung Geld zu verdienen. Hier wird bereits der Widerspruch dieser „Paradiesstadt“6 evident.

Desgleichen möchte der Protagonist Paul Ackermann, der sieben Jahre lang in Alaska als Holzfäller viel Geld verdient hat, sein Leben nun in Muße und Freude führen können, weshalb er mit drei befreundeten Holzfällern in die Goldstadt Mahagonny reist.

Es treten also die Zahlen sechs und sieben auf. Man kann diese Kenntnis Brecht wohl unterstellen, da er das Johannesevangelium und die Johannes- Offenbarung öfters gelesen haben soll, in der diese Zahlen häufig anzutreffen sind. Die sechs bedeutet dabei Unvollkommenheit und die gefallene Welt, wohingegen die sieben ihr Gegenteil, nämlich Vollkommenheit ausdrückt. Kurz vorweggenommen könnte Alaska in Verbindung mit dem Traum Pauls in dem 16. Aufzug, nach Alaska zu segeln, den guten Gegensatz zur Hölle Mahagonny repräsentieren, während die leichten Mädchen als Teil von ihr die Schlechtigkeit der damaligen Zeit im wahrsten Sinne des Wortes verkörpern würden. Jenny aber findet mit Paul die wahre Liebe, wodurch sie als siebte der Prostituierten gerechtfertigt erscheint.

2.1.1.3 Achte Szene: Der freie Mensch und seine Transzendenz

Der achte Aufzug beginnt mit dem Hinweis für das Publikum: „Alle wahrhaft Suchenden werden enttäuscht.“7 Paul gefällt es mittlerweile nicht mehr in Mahagonny, weil er „eine Tafel sehen mußte/ Darauf stand: ,Hier ist verboten.‘ “8 Seine Freunde versuchen ihn durch Exempel des friedlichen Lebens von der Abreise abzuhalten. Vorerst ohne Erfolg, denn Paul entgegnet: „Das macht mich nicht glücklich.“ und „Aber etwas fehlt.“9

Paul ist demnach der wahrhaft Suchende, dem der Mangel an realer Freiheit bewusst wird. Es ist ein Bild für die Bevormundung der Menschen durch Gott, die vor der dem Bundesschluss mit Noah vorherrscht. Begbick regelt in der Rolle Gottes in der Stadt jegliche Lebensbereiche, was soweit führt, dass vor dem Hotel zum Reichen Mann Plakate mit folgender Aufschrift stehen: „Schonen Sie gefälligst meine Stühle“ oder „Vermeiden Sie anstößige Gesänge“.10 Nach der Sintflut, die Szene zehn motivisch begleitet, ändert sich dieses Verhältnis zwischen Gott und den Menschen, worauf im folgenden Gliederungspunkt eingegangen wird.

Gleichzeitig kann diese Suche jedoch auch für die Transzendenz des Menschen stehen, die sich in der philosophischen Sinnsuche, dem (Nach-)Denken, der Frage nach dem Menschsein und der Vollkommenheit ihre Entfaltung findet. Religion ist eine Form solcher Erklärungsversuche dieser Welt und gehört zur ältesten transzendenten Selbstwahrnehmung des Menschen. In Mahagonny aber werden lediglich die menschlichen Grundbedürfnisse (Essen, Sex, Kämpfen, Trinken und Ausruhen) befriedigt. Nicht einmal der Luxus des Rauchens, der anfangs zu dem erhofften schönen Leben der Holzfäller unbedingt gehörte, kann in diesem Zusammenhang noch als höchst erstrebenswert betrachtet werden.

2.1.1.4 Zehnte Szene: Die Sintflut

Wie auch in der Bibel ein verheerendes Naturphänomen auf die Menschheit zukommt, nämlich die Sintflut, nimmt ein Hurrikan Kurs auf Mahagonny, wodurch die Zerstörung der Stadt unausweichlich scheint. Anklänge für den biblischen Bezug bietet das entsetzte Klagen der Stadtbewohner, in dem es heißt: „Auf den Bergen stehen die Hurrikane/ Und der Tod tritt aus den Wassern hervor.“11 In Szene elf verhandelt Paul allerdings mit Begbick (Gott), was zu einer unerwarteten Wende führt.

2.1.1.5 Elfte Szene: Sodom und Gomorrah, der zweite Bund und die Zehn Gebote

Der Beginn des elften Aufzugs beinhaltet das furchtsame Warten auf das Eintreffen des Hurrikans und den damit verbundenen Untergang der Stadt. Paul jedoch lässt sich von dieser Stimmung nicht anstecken. Stattdessen verlacht er Begbick mit ihrer Stadtverordnung, die aus lauter Verboten und somit zwar aus „Ruhe und Eintracht“ besteht, aber dennoch untergehen muss. Denn „Ruhe und Eintracht, das gibt es nicht/ [,laut Paul,] Aber Hurrikane, die gibt es/ [...]/ Und gerade so ist der Mensch:/ Er muß zerstören, was da ist./ Wozu brauchts da einen Hurrikan? Was ist der Taifun an Schrecken/ Gegen den Menschen, wenn er seinen Spaß haben will?“.12

Begbick stellt daraufhin fest: „Schlimm ist der Hurrikan/ Schlimmer ist der Taifun/ Doch am schlimmsten ist der Mensch.“13 Nach dieser Erkenntnis findet Paul die „Gesetze der menschlichen Glückseligkeit“14, deren Verkündigung stark an die der Zehn Gebote erinnert, was vor allem anhand der Sprache zu erläutern sein wird. Die Verbote der Begbick, also Gottes, werden nun in Gebote umgewandelt: „Du darfst“15. Demzufolge wird ein neuer Bund geschlossen, der ab dem zwölften Aufzug seine Auswirkungen zeigt. Weiterhin fallen die vor der Stadt liegenden Orte Pensacola und Atsena dem Hurrikan zum Opfer, was vor dem Hintergrund der zerstörerischen Macht des Menschen die Geschichte der Städte Sodom und Gomorrah aufleben lässt, die wegen ihrer gottlosen blasphemischen Lebensführung von Gott vernichtet wurden, da sich kein einziger Gerechter in ihnen auffinden ließ. Dazu aber im nächsten Punkt mehr.

Darüber hinaus hält Paul vor der Formulierung der neuen Gesetze eine Rede über die Gefahr der Versuchung, die sich unter anderem gegen ein Suchen nach höherer Sinnhaftigkeit ausspricht. Diese Lyrik, die Brecht in seiner Oper verarbeitete, existiert als unabhängiges Gedicht mit dem Titel „Gegen Verführung“16. In der Aufführung wird dieser Abschnitt jedoch in die 19. Szene versetzt als die letzten Worte, die Paul vor seinem Tod äußern darf. Bedenkt man, dass Paul bis dahin eine Art Passion Christi durchläuft, könnten diese appellativen Zeilen Anklänge an die Abschiedsreden Jesu sein. Der Inhalt ist jedoch von anderer Art als die Form es vermuten lässt: Nicht zu einer Vorbereitung auf einen endzeitlichen Kampf wird ermahnt, sondern das Leben soll „in vollen Zügen“ ohne „Angst“ und sofort genossen werden, denn „Ihr habt nicht zu viel Zeit.“.17

2.1.1.6 Zwölfte Szene: Der zweite Bund oder: Der freie Wille des Menschen

Der Bund, der im letzten Aufzug zwischen Gott (Begbick) und Paul geschlossen wurde, rettet die Menschen in Mahagonny in letzter Sekunde vor dem sicheren Unglück. Nachdem der Hurrikan die Städte Pensacola und Atsena „bis auf die Grundmauern zerstört“ hat, beschreibt der Wirbelsturm um Mahagonny aber einen Bogen und die Stadt ist (vorerst) gerettet. Man sollte einerseits meinen, Paul erscheint als der einzig Gerechte, als der biblische Lot, der dem Schicksal von Sodom und Gomorrah entkommt und hier Mahagonny mit sich rettet. Andererseits, sieht man Paul hier bereits in der Rolle Jesu, könnte man die Behauptung aufstellen, Gott schickt seinen Sohn, also Paul, in eine Zeit, die von einer Endzeitstimmung durchdrungen ist, wie in den Jahren 0 bis 70 n.C. . Gott würde somit ganz Mensch in der Figur des Paul, um die menschlichen Erfahrungen im Irdischen zu teilen, wobei Paul die Begbick (Gott) informiert, wie es wirklich dort ist, nämlich „Siehst du, du hast Tafeln gemacht/ Und darauf geschrieben:/ Das ist verboten/ Und dieses darfst du nicht./ Und es entstand keine Glückseligkeit“18. Aber anstatt einer sogenannten Thoraentschärfung Jesu zu folgen, hebt Paul diese in seiner (Berg)predigt völlig auf und setzt das Gebot Du darfst (alles gegen Geld) absolut.

Dieser zweite Bund weist den Leser/ Zuschauer aber auf einen weiteren Aspekt menschlicher Natur hin: den freien Willen des Menschen. Durch die Gesetzesänderung kann nämlich jedermann ab sofort alles tun, was ihm beliebt, wenn er dafür bezahlt. Der Mensch ist folglich mündig geworden, er will selbst entscheiden, was und wie er etwas tut. Begbick (Gott) lässt sich darauf ein und die Zerstörung durch eine von außen willkürliche Macht ist unterbunden. Der Mensch hat sein Schicksal nun selbst in der Hand.

Dieses Zugeständnis Gottes findet sich im AT im ersten Buch Mose, wo Gott verspricht: „Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.“ (1.Mose 8,21).

2.1.1.7 Dreizehnte Szene: Das Goldene Kalb und die Hure Babylon

In den folgenden Aufzügen wird das sittenlose, unmoralische Verhalten der Bürger Mahagonnys gezeigt. Dabei wiederholt der Chor ihren geschlossenen Vertrag, der lautet: „Erstens, vergeßt nicht, kommt das Fressen/ Zweitens kommt der Liebesakt./ Drittens das Boxen nicht vergessen/ Viertens Saufen, laut Kontrakt./ Vor allem aber achtet scharf/ Daß man hier alles dürfen darf.“19 Das Zahlungsmittel Geld, das den ganzen Spa ß ermöglicht, wird zum Götzenbild und bis zum Ebenbild des Goldenen Kalbs in Szene 19 gesteigert. Auf Grund dessen kann die Stadt Mahagonny ferner mit der biblischen Stadt Babylon gleichgesetzt werden, die in der Offenbarung als Strafe für ihre Sündhaftigkeit und dekadente Lebensweise sogar durch einen Sturm untergeht. Trotz der vorläufigen Bewahrung Mahagonnys deutet somit alles auf die ebenfalls abgelaufene Frist hin, die dem bunten Treiben ein Ende setzen wird. Möchte man die katholische Sichtweise in dieser Szene beachten, könnte die Reaktion auf den Tod von Jakob, einem Freund Pauls, als Seligsprechung angesehen werden. Er isst sich zu Tode, was die Umstehenden als höchstes Glück erkennen wollen: „Sehet, Schmidt ist gestorben!/ Sehet, welch ein glückseliger/ Sehet, welch unersättlicher/ Ausdruck auf seinem Gesicht ist!/ Weil er sich gefüllt hat/ Weil er nicht beendet hat/ Ein Mann ohne Furcht!“20

2.1.1.8 16. Szene: Messiaserscheinung und die Frage nach dem Himmel

Die Aufzüge 16 bis 19 werden meist als die Passion Christi gedeutet, was bei der häufigen Motivverwendung bei Brecht durchaus möglich ist. Paul erscheint hier als Jesus, nicht als Christus, da keine Auferstehung stattfindet. Deshalb könnte man auch darüber streiten, ob man Paul hier nur als Propheten oder den messianischen Christus sehen möchte. Es ist amüsant, dass Brecht Paul mit Jesus sogar durch ihren Beruf im Holzgewerbe in Verbindung setzt. Anhand der Textvorlage würde die 16. Szene demgemäß eine Abendmahlimitation darstellen, bei der Paul alle Anwesenden im Pokerdrinksalon auf zwei Runden Whiskey einlädt. Als er gewahr wird, dass er kein Geld mehr zum Bezahlen der Zeche besitzt, flieht er mit seinem besten Freund Heinrich und seiner Prostituierten Jenny in eine Geschichte, die er vor dem Barpublikum als Ablenkung zum Besten gibt. In diesem Traum fährt er mit dem Schiff zurück nach Alaska, wo ihn die vertrauten schwarzen Wälder bereits willkommen heißen, als er beim Aussteigen vom Schiff, das der Billardtisch verkörpert, von Dreieinigkeitsmoses aufgefordert wird zu bezahlen und enttäuscht bemerkt: „Ach, es ist Mahagonny!“

In Verbindung mit der oben angesprochenen Nummerologie, die sieben Jahre in Alaska, derer sich Paul so wie seine Freunde immer wieder gern erinnern, könnte Alaska nicht nur als besserer Ort im Gegensatz zum höllischen Mahagonny fungieren, sondern konsequent als der wahre Himmel. Die Männer bedanken sich bei Paul nach der Vorführung: „Paule, du hast uns zu trinken gegeben/ Paule, dafür lassen wir dich leben.“21 Es kommt nach diesem Abendmahl jedoch anders. Von seinen Freunden Jenny und Heinrich wird Paul verlassen, als diese nicht für ihn aufkommen wollen. Jenny wird dreimal gefragt, worauf sie, wie Petrus Jesus, Paul dreimal verleugnet. Infolge des Schuldigbleibens des Geldes wird Paul am Ende der Szene verhaftet und abgeführt.

2.1.1.9 17. Szene: Das Gebet Jesu im Garten Gethsemane

Jesus wusste damals um den ihm bevorstehenden Tod und betete die Nacht vor seiner Verurteilung, denn auch er hatte in all seinem Gottvertrauen Angst und bat Gott, seinen Vater, dass er, wenn irgendwie möglich, diesen Kelch an ihm vorübergehen lassen sollte. Die Jünger, die mit ihm waren, sollten mit ihm wachen und beten, was sie bekanntlich verschliefen.

Paul kann hier am stärksten mit Jesus verglichen werden, denn nachts im Gefängnis hadert er gleichermaßen mit seinem Schicksal, indem er fordert: „Nur die Nacht/ darf nicht aufhören/ Nur der Tag/ darf nicht sein. [...] Denn dann beginnt ein verdammter Tag.“22

2.1.1.10 18. Szene: Die Passion Christi

Paul wird in diesem Aufzug vor das Gericht Mahagonnys geführt, das „nicht schlechter als andere Gerichte“23 gewesen sein soll. Dies wird sogleich bewiesen, als ein Prozess gegen einen gewissen Tobby Higgins dem Paules demonstrativ vorangestellt wird. Higgins ist wegen Mordes angeklagt, kommt jedoch durch Bestechung wieder frei. Paul hingegen hat kein Geld mehr, um sich freikaufen zu können. Seine Freunde helfen ihm auch diesmal nicht. Dieses Bild lässt an das Urteil des Pontius Pilatus denken, der den unschuldigen Jesus verurteilen muss, da die damals höchstwahrscheinlich gekaufte Menge lieber den Räuber Barabbas in Freiheit sehen wollte. Dabei hält sich Brecht an das Johannes-Evangelium, das die Verurteilung sehr detailliert schildert. Paul wird somit zum Tode verurteilt, unter anderem weil er, gleich dem Jesus gemachten Vorwurf, „die ganze Stadt [verführt hat]/ Und vernichtet [hat] Ruhe und Eintracht!“ 24

2.1.1.11 19. Szene: Der Judaskuss und das Spiel im Spiel: Gott in Mahagonny

Manche Forscher möchten in der Abschiedsszene von Jenny und Paul einen verspäteten Judaskuss erkennen, da die Prostituierte ihn im Gegensatz zu Heinrich sogleich mit Worten verraten hat. Brecht aber geht weiter im Ausschöpfen biblischer Motive und lässt Paul kurz vor Vollstreckung der Todesstrafe seine Jenny Heinrich anvertrauen, wie Jesus seine Mutter Maria seinem Lieblingsjünger Johannes übergab, bevor er am Kreuz sterben musste. Paul wird zum elektrischen Stuhl geführt, der in der Aufführung übrigens erhöht steht; eine deutliche Parallele zur Erhöhung Jesu Christi am Kreuz. Dreieinigkeitsmoses fragt Paul abschließend, ob er noch etwas zu sagen habe, woraufhin er in der Aufführung mit dem den Abschiedsreden Jesu gleichenden Gedicht Gegen Verführung an alle antwortet. Im Text allerdings erwidert er folgende Fragen, die in der Aufführung auf das Gedicht folgen: „Ja, wollt ihr mich denn wirklich hinrichten? [...] Ihr wißt wohl nicht, daß es einen Gott gibt?“25 An dieser Stelle bietet Brecht episches Theater in Reinkultur, indem er die Figuren Dreieinigkeitsmoses und Jenny als Antwort auf die Existenz Gottes ein Spiel im Spiel aufführen lässt: Dreieinigkeitsmoses als Gott, Jenny als Kommentator auftretend. Gott kommt eines Tages nach Mahagonny und stellt fest, welch Schlechtigkeit und Immoralität unter den Menschen herrscht. Auf die Frage Gottes: „Keiner hat erwartet, daß ich käme/ Wenn ich komme jetzt, ist alles gar?“, antwortet Jenny als Sprecherin: „Ansahen sich die Männer von Mahagonny. Ja, sagten die Männer von Mahagonny.“26 Gott verurteilt sie deshalb: „Gehet alle zur Hölle!/ Steckt jetzt die Virginien in den Sack!/ Marsch mit euch in meine Hölle, Burschen!/ In die schwarze Hölle mit euch Pack!“27 Spätestens an dieser Stelle wird ersichtlich, dass Brecht Gott nur als einen richtenden, strafenden Gott, die klassisch alttestamentliche Gottesvorstellung im Gegensatz zum liebenden Gott im Neuen Testament, auftreten lässt. Daraufhin bekommt Gott folgende respektlose wie auch vorwurfsvolle Antwort zu hören: „An einem grauen Vormittag/ [...]/ Kommst du nach Mahagonny/[...]/ Fängst du an in Mahagonny./ Rühre keiner den Fuß jetzt!/ Jedermann streikt. An den Haaren/ kannst du uns nicht in die Hölle ziehen/ Weil wir immer in der Hölle waren./ [...] Nein, sagten die Männer von Mahagonny.“28 Während der letzten Ablehnung schauen sie Gott als Zuspitzung direkt an, was laut der biblischen Tradition den Tod zur Folge hat.

[...]


1 Bertolt Brecht und die Tradition, Mayer, Hans, Sonderreihe dtv, dtv, München, 1965, S. 46.

2 Bezieht sich auf: Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, Brecht, Bertolt, edition Suhrkamp, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1963; und: Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, Opera in Three Acts, Weill, Kurt, Arthaus Musik, München, 1998.

3 Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, Brecht, Bertolt, edition Suhrkamp, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1963, S. 9. Diese Literatur wird im folgenden unter der Sigle M aufgeführt.

4 ebd.

5 M, S. 8.

6 M, S. 12.

7 M, S. 26.

8 ebd.

9 M, S. 26f.

10 M, S. 30.

11 M, S. 34.

12 M, S. 36.

13 M, S. 37.

14 M, S. 35.

15 M, S. 39.

16 Brecht, Mayer, Hans, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1996, S. 27.

17 M, S. 38.

18 M, S. 37.

19 M, S. 44.

20 M, S. 45.

21 M, S. 58.

22 M, S. 62f.

23 M, S. 64.

24 M, S. 68.

25 M, S. 73.

26 M, S. 74.

27 M, S. 75.

28 M, S. 76.

Ende der Leseprobe aus 33 Seiten

Details

Titel
Brechts "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny". Aufstieg und Fall des Christentums?
Hochschule
Universität Augsburg
Veranstaltung
Hauptseminar: Bertolt Brecht – Musik und Theater
Note
1,3
Autor
Jahr
2010
Seiten
33
Katalognummer
V339755
ISBN (eBook)
9783668293410
ISBN (Buch)
9783668293427
Dateigröße
1164 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bertolt Brecht, Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
Arbeit zitieren
Eva Bartkowski (Autor:in), 2010, Brechts "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny". Aufstieg und Fall des Christentums?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/339755

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