Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
2. Psychologisierung der Literatur in der Wiener Moderne
3. Schnitzler, Freud und die Psychoanalyse
4. Psychoanalytische Untersuchung Gustls
4.1 Der Innere Monolog
4.2 Das Instanzenmodell Freuds
4.3 Analyse
5. Schlussbemerkung
6. Literaturverzeichnis
6.1 Primärliteratur
6.2 Sekundärliteratur
1. Einleitung
Zur Zeit der Wiener Moderne entstand das Interesse an der Psychologie, besonders unter Siegmund Freud. Auch der Schriftsteller Arthur Schnitzler setzte sich damit in seinem Beruf als Arzt auseinander und verwendete dieses Wissen nicht nur für die Behandlung seiner Patienten, sondern auch für die Konzeption seiner Werke. Diese Arbeit untersucht den Hauptprotagonisten von Schnitzlers NovelleLieutenant Gustlim Hinblick auf seine Psyche. Als Grundlage dafür soll das Instanzenmodell Freuds dienen, wobei die Erzähltechnik des Inneren Monologs besonders berücksichtigt wird. Jedoch ist kritisch zu hinterfragen, ob sich anhand des Instanzenmodells Freuds die Novelle untersuchen lässt, da Schnitzler selbst im Bereich der Psychologie tätig war und sich teilweise von Freuds Ansätzen distanzierte. Zunächst ließe sich vermuten, dass sich das Instanzenmodell Freuds für eine Analyse des Hauptprotagonisten nicht eignet. Dies soll in der vorliegenden Arbeit geprüft werden. Außerdem stellt sich die Frage, aus welchem Grund Schnitzler die Erzähltechnik des Inneren Monologs gewählt hat. Die Hypothese, dass dies im Zusammenhang mit der, durch diese Erzähltechnik ermöglichten, „unbegrenzte[n] Analysierbarkeit der Psyche literarischer Figuren“[1]steht, wird mittels der Analyse durchleuchtet. Um diese Fragen zu klären, bietet es sich an zunächst die Psychologisierung der Literatur zur Zeit der Wiener Moderne zu beschrieben, um nicht nur einen Eindruck des historischen Kontexts zu geben, sondern auch um die Bedeutung der Psychoanalyse hervorzubringen. Danach wird auf die Beziehung zwischen Sigmund Freud und Arthur Schnitzler eingegangen, wobei zugleich deren psychoanalytischen Ansätze dargestellt werden sollen. Auf dieser Grundlage schließt sich die Analyse Gustls anhand des Instanzenmodells Freuds unter besonderer Berücksichtigung der Erzähltechnik des inneren Monologs an. Die Ergebnisse werden in der Schlussbemerkung zusammengefasst und damit die aufgestellte Hypothese reflektiert. Darüber hinaus werden gegebenenfalls sowohl die Schwierigkeiten als auch offen gebliebene Fragen, welche beim Verfassen dieser Arbeit aufgekommen sind, aufgezeigt, um Anregungen zu weiterer Forschung zu geben.
2. Psychologisierung der Literatur in der Wiener Moderne
Historisch betrachtet kennzeichnet sich die Wiener Moderne, welche im Zeitraum von 1890 bis1918 oder 1930 datiert werden kann[2], durch einen Strukturwandel in der Gesellschaft zu Zeiten der politischen Unsicherheit und des Antisemitismus. Die „Vorstellung des Adels gegenüber dem Bürgertum, Einengung des kultivierten Bürgers in seinem politischen und kulturellen Betätigungsfeld und dessen Unfähigkeit aus dem Individualismus auszubrechen“[3]bildeten die Grundlage für die Psychologisierung der Literatur. Dies bestand aus dem „Hineinleuchten in die verborgensten Winkel der Psyche und das Ausprobieren der feinsten Regungen.“[4]Es war „eine Denkrichtung, die sich für die innere ‚Wirklichkeit‘ des Menschen interessierte, weil ihr die äußere Verflochtenheit und Bindung menschlicher Existenz fragwürdig geworden war.“[5]Thematisiert wurden „Grenzsituationen, fließende Übergänge zwischen Traum und Wirklichkeit, pathologische Seelenzustände wie Hysterie und Hypochondrie.“[6]Doch an der Psychoanalyse wurde auch Kritik geübt, da „der Mensch und seine Welt nicht nur durch eine relativ bedeutungsarme Kunstsprache beschrieben werden kann.“[7]
3. Schnitzler, Freud und die Psychoanalyse
„Schnitzler als großbürgerlicher Intellektueller nahm regen Anteil am wissenschaftlichen und kulturellen Leben Wiens, stand von seinem Beruf als Mediziner her der Psychoanalyse nahe und engagierte sich im Dichterkreis Jung-Wien.“[8]Die Grundlage für diesen Lebensweg schaffte ihm sein Vater Johann Schnitzler, der ein sehr angesehener Arzt in Wien war. Dessen Patienten waren sowohl Künstler, als auch Adelige, wodurch eine Beziehung zum Theater und zur Aristokratie entstand. Dies konnte seinem Sohn, der später selbst Freundschaften zu Künstlern pflegte, einen Einblick in die Theaterwelt verschaffen.[9]Auf Bestreben seines Vaters nahm Arthur Schnitzler an der Universität Wien ein Medizinstudium auf. Dabei lag sein Interesse auf den Nerven-und Geisteskrankheiten, welche er als Assistent des Hirnpathologen Theodor Meynert, für den auch Sigmund Freud gearbeitet hatte, in dessen psychiatrischen Klinik erforschen konnte. Nach dieser Tätigkeit war er Assistent in der Klinik Johann Schnitzlers und schrieb für die FachzeitschriftInternationale Klinische Rundschaueinige Artikel. Auch hier lässt sich eine Verbindung zu Freud knüpfen, da Schnitzler sich in seinen Artikeln ebenfalls mit denneue[n] Vorlesungen über Krankheiten des Nervensystemsdes Pariser Neurologen J.-M. Charcot auseinandersetzte, die Freud übersetzt hatte. Ebenfalls beschäftigte er sich mit einer weiteren Übersetzung Freuds des Werksüber die Suggestion und ihre Heilwirkungvon M. Bernheims, woraufhin Schnitzler selbst auf diesem Feld forschte und die Ergebnisse in seinem Aufsatzüber funktionelle Aphonie und deren Behandlung durch Hypnose und Suggestionzusammentrug.[10]Bei ihren psychologischen Überlegungen, wie zum Beispiel über die „Täuschungen des Ich-Bewusstseins, Klüfte zwischen zur Schau getragener Sicherheit und verdeckter innerer Unsicherheit“,[11]verfolgten Schnitzler und Freud dieselbe Intention: Die Erklärung und Heilung neurotischer Erkrankungen. Durch diesen Ansatz kam es zu Übereinstimmungen, wie Freud imBruchstück einer Hysterienanalysebeschreibt, „dass Schnitzler in seinem Schauspiel „Paracelsus“ 1892 eine Tiefe Einsicht in den seelischen Mechanismus von Krankheitsursachen gebe, die mit seinen […] Beobachtungen übereinstimme.“[12]Dies lässt sich jedoch nicht auf eine ganzheitliche Beeinflussung durch Freud zurückführen, sondern auf die gesellschaftspolitischen Hintergründe, welche beide zu dieser Zeit bewegten.[13]Denn Schnitzler präponierte einige psychoanalytische Überlegungen in seinem literarischen Schaffen, zum Beispiel die Herausstellung der enormen Bedeutung der Hypnose für die Psychoanalyse inAnatol1889/90, wohingegen Freud erst 1891 inStudien über Hysterieauf diesen Aspekt einging.[14]Außerdem strebte Freud „nach einem wissenschaftliche[n] System, in das er die Fülle der Lebenserscheinungen verständlich eintragen konnte.“[15]Im Gegensatz dazu widerstrebte Schnitzler dem „‚kodifizierten Unbewussten‘ der Psychoanalyse“[16]und wollte in seiner Tätigkeit als Schriftsteller „die unendliche Bedeutungsfülle menschlicher Lebensäußerungen an[zu]erkennen und auch das Abenteuer ihrer sprachlichen Formulierung immer aufs Neue [zu] bestehen.“[17]Lebenslang verarbeitete Schnitzler sein medizinisches Wissen in seinen Werken,[18]doch „der Zwiespalt zwischen Künstler und Wissenschaftler, zwischen Dichter und Arzt, stellt sich für Schnitzler lange als problematisch dar.“[19]Zum 60. Geburtstag Schnitzlers schrieb Sigmund Freud diesem einen Brief, welcher ihre Beziehung beschreibt: „Ich meine, ich habe Sie gemieden aus einer Art von Doppelgängerscheu. […] ich habe immer wieder, wenn ich mich in Ihre schönen Schöpfungen vertiefe, hinter deren poetischem Schein die nämlichen Voraussetzungen, Interessen und Ergebnisse zu finden geglaubt, die mir als die eigenen bekannt waren.“[20]Freud fühlt sich mit Schnitzler durch dessen Ansätze verbunden. „Ihr Determinismus wie Ihre Skepsis- was die Leute Pessimismus heißen-, Ihr Ergriffensein von den Wahrheiten des Unbewussten, von der Triebnatur des Menschen, Ihre Zersetzung der kulturell-konventionellen Sicherheiten, das Haften Ihrer Gedanken an der Polarität von Lieben und Sterben, das alles berührte mich mit einer unheimlichen Vertrautheit.“[21]Schnitzler berührt Freud emotional, wodurch dieser sich empathisch mit dessen Werken auseinandersetzt und sich von der Meinung der Allgemeinheit distanziert. „Ja ich glaube, im Grund Ihres Wesens sind Sie ein psychologischer Tiefenforscher, so ehrlich und unparteiisch und unerschrocken wie nur je einer war, und wenn Sie das nicht wären, hätten Ihre künstlerischen Fähigkeiten, Ihre Sprachkunst und Gestaltungskraft, freies Spiel gehabt und Sie zu einem Dichter weit mehr nach dem Wunsch der Menge gemacht.“[22]Besonders beeindruckt ist Freud von der Einzigartigkeit des Schriftstellers, wodurch sich dieser von der Masse differenziert. Freud spricht ihm mittels dieses Briefes seine Anerkennung aus. Schnitzlers Fähigkeiten wurden auch auf literarischer Ebene anerkannt: „In Schnitzler, der Zeit seines Lebens mit Wien aufs engste verbunden war, fand die Metropole des untergehenden ‚Kakanien‘ einen Diagnostiker, wie sie ihn einfühlender und mit wacherem Geiste ausgestattet nicht hätte wünschen können.“[23]
4. Psychoanalytische Untersuchung Gustls
4.1 Der Innere Monolog
„In >Leutnant Gustl< […] mag die Leistung des Inneren Monologs sowohl darin liegen, den Sondertypus einer >Monolognovelle< (Seidlin 1975, XXXV) zu begründen als auch den >Titel<-Anspruch, von dem die Gattungszuordnung zeugt, zu desavouieren“.[24]Dieses Zitat verdeutlicht die Einzigartigkeit der NovelleLieutenant Gustl. Inspiriert durch die Erzählungles lauriers sont coupesvon Dujadrin, verwendete Schnitzler die literarische Form des Inneren Monologs erstmals in der deutschen Literatur.[25]Er suchte „im Spannungsfeld von epischen und dramatischen Formen, die gegenseitig ineinanderwirken, jenen künstlerischen Ausdruck, welcher als der Thematik dem Lebensgefühl der Figuren und deren Aussage angemessene empfunden wird.“[26]Der Innere Monolog kann als „ein der Dramatik verwandtes Stilmittel“[27]und „als eine konsequente Weiterentwicklung der erlebten Rede“[28]verstanden werden. Der Protagonist redet nicht physisch, sondern psychisch in der ersten Person, wobei der Erzählton gänzlich supprimiert wird. Die Intention der Erzähltechnik ist es, „die Handlung durch den Bewusstseinsstrom des Monologisierenden hindurch fließen zu lassen.“[29]Der Protagonist zeigt so nicht nur seine Umwelt, sondern auch vor allem sein Unbewusstes und steht somit allein im Fokus des Werks. Dem Leser ist es daher nicht möglich objektive Eindrücke zu gewinnen. Von „sonstigen Formen des Ich-Romans oder der Ich-Erzählung“[30]ist die Monolognovelle zu differenzieren, da sie „eben nicht einen Monolog, also gesprochene Rede voraussetzen, sondern meist im Erzählton des Präteritums gehalten sind.“[31]
4.2 Das Instanzenmodell Freuds
Um eine Definition des Instanzenmodells Freuds zu treffen wirdFreuds Psychoanalyse in der Literatur- und Kulturwissenschaftvon Henk de Berg zugrunde gelegt. Freud gliedert die menschliche Psyche in drei Instanzen: das Es, das Ich und das Über-Ich. Das Es steht für die Libido, welche immer nach der Befriedigung strebt. Dieses Streben kann jedoch durch „Abwehr und Verdrängung oder Sublimierung“[32], wie zum Beispiel die „Umleitung in kulturelle Aktivitäten“[33], oder auch die „Entladung in Träumen oder Fehlleistungen“[34]gehemmt werden, was unbewusst geschieht. Das Es kennt keine Werte oder Regeln und beachtet den Verstand nicht. Im Gegensatz dazu steht das Über-Ich für Normen, Werte und Ideale, welche durch Erziehung und Bildung indoktriniert werden und sich je nach historischem Kontext verändern. Das Über-Ich darf jedoch nicht mit dem Gewissen synonym gebraucht werden, da es sich nicht komplementär zu den ethischen Grundsätzen verhält. Der Ursprung liegt ebenfalls in der Kindheit im Bereich des Unbewussten. Auch das Über-Ich strebt ebenso stur nach der „ethischen Vollkommenheit“[35]. Zwischen jenen Instanzen steht das Ich als Vermittler. Dieses steht unter dem „unbewussten Druck, vollständig im Einklang mit den innersten Wünschen zu leben.“[36] Das Ich bezieht die soziale Welt und deren komplexen Verbindungen ein. Jede Instanz an sich ist von Bedeutung, damit keine „Perversion durch Triebe oder Schuldgefühle[n] und Frustrationen durch die Unvollkommenheit des Menschen“[37]auftritt. Jedoch muss das Ich sie im Gleichgewicht halten, um eine gesunde Psyche zu gewährleisten. Ziel der Psychoanalyse ist es „so viele kontraproduktive Vorgänge wie nur möglich aus dem Ich, dem Es und dem Über-Ich ins Bewusstsein zu heben“[38]. Ihre Intention liegt laut Freud in der „‚Erziehung zur Realität‘“.[39]Diese Realität bedeutet für Freud auch, dass eine ganzheitliche Harmonie zwischen Individuum und Gesellschaft ausgeschlossen ist, da das „Es die Überschreitung der gesellschaftlichen Grenzen fordert.“[40]Somit liegt die Grundlage der gesellschaftlichen Zerstörung in ihr selbst.
[...]
[1]Alfred Fritsche:Dekadenz im Werk Arthur Schnitzlers.Frankfurt/M. 1974. S.244.
[2]Alice Bolterauer:Selbstvorstellung. Die literarische Selbstreflexion der Wiener Moderne. Freiburg im Breisgau 2003. S.14.
[3]Alfred Fritsche:Dekadenz im Werk Arthur Schnitzlers. Frankfurt/M. 1974. S.60.
[4]Ebd. S.61.
[5]Manfred Diersch:Empiriokritizismus und Impressionismus, Über Beziehungen zwischen Philosophie, Ästhethik und Literatur um 1900 in Wien.Berlin ²1977. S.117.
[6]Ebd.
[7]Alfred Fritsche:Dekadenz im Werk Arthur Schnitzlers. Frankfurt/M. 1974. S.72.
[8]Ebd. S.77.
[9]Ebd. S.56-58.
[10]Manfred Diersch:Empiriokritizismus und Impressionismus. Über Beziehungen zwischen Philosophie, Ästhetik und Literatur um 1900 in Wien. Berlin ²1977. S.116-117.
[11]Ebd. S.117.
[12]Ebd.
[13]Vgl. S.2.
[14]Manfred Diersch:Empiriokritizismus und Impressionismus. Über Beziehungen zwischen Philosophie, Ästhetik und Literatur um 1900 in Wien. Berlin ²1977. S.118.
[15]Sebastian Goeppert, Herma C. Goeppert:Psychoanalyse interdisziplinär: Sprach-&Literaturwissenschaft. München 1981. S.70.
[16]Ebd. S.72.
[17]Ebd.
[18]Renate Wagner:Wie ein weites Land. Arthur Schnitzler und seine Zeit.Wien 2006. S.50.
[19]Ebd. S.38-39.
[20]Konstanze Fiedl:Arthur Schnitzler im 20. Jahrhundert. Wien 2003. S.38.
[21]Ebd.
[22]Ebd.
[23]Alfred Fritsch:Dekadenz im Werk Arthur Schnitzlers.Frankfurt/M. 1974. S.51.
[24]August Aust:Novelle. Stuttgart 42006. S.142.
[25]Josef Rattner; Gerhard Danzer:Österreichische Literatur und Psychoanalyse.Würzburg 1977. S.82.
[26]Alfred Fritsche:Dekadenz im Werk Arthur Schnitzlers.Frankfurt/M. 1974. S.236-237.
[27]Ebd. S.236.
[28]Ebd.
[29]Ebd.
[30]Ebd. S.239-240.
[31]Ebd.
[32]Henk de Berg:Freuds Psychoanalyse in der Literatur- und Kulturwissenschaft. Tübingen 2005. S.59.
[33]Ebd.
[34]Ebd.
[35]Ebd.
[36]Ebd.
[37]Ebd.
[38]Ebd.
[39]Ebd. S.59-60.
[40]Ebd.
- Arbeit zitieren
- Anonym, 2013, Psychoanalyse in der Literatur der Wiener Moderne. "Lieutenant Gustl" von Arthur Schnitzler und der innere Monolog, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/341101
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