Mit “Am Beispiel meines Bruders” verfasste Uwe Timm nicht nur einen autobiografischen Text von großem persönlichem Erinnerungswert, sondern ein komplexes Geflecht „von Gehörtem und Gesehenem“, Erlebtem und Gelesenem, von „alltäglichen Geschichten“, Verdrängtem und „Totgeschwiegenem“, von „Vergessenem und Erinnertem“, von historischen Fakten, Erfundenem oder Geträumtem, von kritiklos Übernommenem und dem, was sich durch kritisches Hinterfragen und Reflektieren offenbarte. Dieses alles zusammengenommen ergibt ein vielfältiges Mit- und Gegeneinander von Stimmen, das sich an der musikalischen Form einer „Fuge“ orientiert, in der „die Stimmen von Bruder, Vater, Mutter, Schwester ... motivisch in Wiederholungen und Modulationen durchgespielt werden.“ Daraus entstand eine „ästhetische Konstruktion, die nicht sagt, so war es, sondern so könnte es gewesen sein, die, indem sie über die Leerstellen zwischen den Textblöcken auf das Fragmentarische des Erfahrbaren, Erinnerbaren verweist, nicht den Anspruch auf das >Ganze< erhebt.“
In Uwe Timms BB werden ganz verschiedenartige Dokumente einander gegenübergestellt: Briefe und Tagebuchnotizen der Familienmitglieder (insbesondere des 16 Jahre älteren Bruders Karl-Heinz), Tagebucheintragungen von Propagandaminister Goebbels, Befehle und Briefe von Wehrmachtsgenerälen wie Generalfeldmarschall von Manstein, Generalfeldmarschall von Reichenau und General Heinrici, das Kriegstagebuch „In Stahlgewittern“ (1920) von Ernst Jünger, Auszüge aus Heinrich Himmlers Rede an die Waffen-SS, Zeitungsberichte, Äußerungen von Mozart hörenden und Hölderlin lesenden SS-Führern und „Bürokraten des Todes“ wie Otto Ohlendorf, Violine spielende Repräsentanten einer „Herrenmenschenideologie“ wie Reinhard Heydrich und die aus der Opferperspektive berichtenden Stimmen von Primo Levi und Jean Améry.
Inhaltsverzeichnis
- Erzählstruktur
- Dokumente
- Das Tagebuch des Bruders
- Andere Dokumente
- Der Ich-Erzähler
- Mitspieler im Handlungsgeschehen und Reflexionsfigur
- Entdecker und „Seismograph“
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Uwe Timms autobiografischer Text „Am Beispiel meines Bruders“ zeichnet ein komplexes Bild der Familiengeschichte und der NS-Zeit. Das Werk beleuchtet die schwierige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und die Suche nach Wahrheit und Versöhnung. Dabei werden verschiedene Perspektiven und Stimmen zusammengebracht, um die Ambivalenz der Geschichte und die Vielschichtigkeit der menschlichen Psyche zu verdeutlichen.
- Die Suche nach Wahrheit und Versöhnung in der Familiengeschichte
- Die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und ihren Folgen
- Die Bedeutung der Erinnerung und der individuellen Verantwortung
- Die Ambivalenz der menschlichen Natur und die Frage nach Schuld und Verantwortung
- Die Suche nach Identität und die Konstruktion des Selbst
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel befasst sich mit der vielstimmigen Textkomposition des Buches und der Verwendung verschiedener Dokumente und Textarten. Es wird deutlich, wie Uwe Timm chronologische und kausale Zusammenhänge aufbricht, um den Leser zum Nachdenken und zur Stellungnahme herauszufordern.
Das zweite Kapitel analysiert die narrative Strategie des Autors, die sich durch die Kombination von narrativen Textteilen, reflexiven essayistischen Passagen und authentischem Quellenmaterial auszeichnet. Es wird gezeigt, wie Uwe Timm durch diese Montage „Sinnerweiterungen“ schafft und die Figuren der Familiengeschichte zu „Abwesenden“ macht, denen er durch sein Schreiben wieder „Präsenz“ verleiht.
Das dritte Kapitel beleuchtet die Vermeidung „glättenden Erzählens“ in Uwe Timms Buch und die Bedeutung von Lücken, Leerstellen und Grauzonen in der persönlichen Erinnerung. Der Autor zeigt, wie die Vätergeneration versucht, die NS-Zeit zu verdrängen und das eigene Versagen zu leugnen.
Das vierte Kapitel befasst sich mit den narrativen Strategien des Autors, die dazu beitragen, die Gefahr „glättenden Erzählens“ zu vermeiden. Es werden vier narrative Strategien vorgestellt: das kontrastive Einblenden von Bildern, die Verwendung von harten Schnitten zwischen Textblöcken, das Einfügen von Traumsequenzen in die Erzählstruktur und die Verwendung von Ironie und Sarkasmus.
Schlüsselwörter
Die zentralen Themen und Konzepte des Buches sind die Familiengeschichte, die NS-Zeit, Erinnerung, Schuld, Verantwortung, Identität, Ambivalenz, Vielstimmigkeit, Montage, Lücken, Leerstellen, Grauzonen, „glättendes Erzählen“, narrative Strategien, kontrastive Bilder, Schnitte, Traumsequenzen, Ironie, Sarkasmus.
- Arbeit zitieren
- Hans-Georg Wendland (Autor:in), 2016, "Am Beispiel meines Bruders" von Uwe Timm. Auf der Suche nach verborgenen 'Wahrheiten', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/342634