Arthur Schnitzlers dramatischer Zyklus Anatol ist in der Regel von der Forschung als ein Werk behandelt worden, das aus selbständigen Einaktern besteht, die, um eine abendfüllende Länge zu erreichen, praktisch ohne jeden Zusammenhang, dadurch beliebig vertauschbar und reduzierbar, aneinandergereiht sind. Die Kritiker, allen voran Ernst L.
Offermanns, der sich mit diesem Thema wahrscheinlich am ausgiebigsten beschäftigt hat, verweisen dabei auf die Austauschbarkeit von Anatols Partnerinnen, auf die Lebenseinstellung eines "impressionistischen Menschen" und nicht zuletzt auf die Erkenntnisse der Freudschen Psychoanalyse, deren "Entdeckung" der Desintegration des Ich sich auch in der literarischen Form niederschlägt.
Ohne diese Aspekte zu bestreiten, möchte ich dennoch mit der vorliegenden Arbeit eine alternative Lesart darbieten, die das Werk in seiner Komplexität zeigt und dabei die Art und Weise hervorhebt, in der die einzelnen Teilstücke des Zyklus miteinander zusammenhängen. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Problematik der Struktur. Von der Frage der Form ausgehend, werde ich versuchen, die Strukturelemente und Prinzipien zu erarbeiten, die dem Zyklus zugrunde liegen, ihm eine gewisse Kohärenz verleihen und ihn damit als ein Ganzes charakterisieren.
Ausschlaggebend für diese Überlegungen ist die Tatsache, dass Schnitzler für die Buchveröffentlichung (1892) nicht nur eine Auswahl seiner Anatol-Stücke vorgenommen hat, sondern dass er sie auf eine Art und Weise geordnet hat, die nicht der Chronologie ihrer Entstehung entspricht. Über die Gründe, die ihn dazu bewogen, und über das Konzept, das er im Sinne gehabt haben mochte, lässt sich, soweit uns nicht eine Brief- oder
Tagebuchäußerung vorliegt, nur spekulieren. Der uns vorliegenden Fassung lassen sich aber etliche Strukturprinzipien ablesen, die die Annahme, die einzelnen Szenen seien beliebig aneinandergereiht, "austauschbar wie die jeweilige Besetzung" in Frage stellen.
INHALT
1. Einleitung
2. Die dramatische Form
3. Der Zeitaspekt
3.1 Chronologischer Fortschritt
3.2 Stationen im Leben Anatols
4. Der Schluss als Schlüssel zum Verständnis
4.1 "Anatols Größenwahn" als Alternative
4.2 Prinzip der Wiederholung
4.3 Die Reigenstruktur
5. Die Szenenfolge
6. Zusammenfassung
7. Literaturverzeichnis
l. Einleitung
Arthur Schnitzlers dramatischer Zyklus Anatol ist in der Regel von der Forschung als ein Werk behandelt worden, das aus selbständigen Einaktern besteht, die, um eine abendfüllende Länge zu erreichen, praktisch ohne jeden Zusammenhang, dadurch beliebig vertauschbar und reduzierbar, aneinandergereiht sind[1]. Die Kritiker, allen voran Ernst L. Offermanns, der sich mit diesem Thema wahrscheinlich am ausgiebigsten beschäftigt hat, verweisen dabei auf die Austauschbarkeit von Anatols Partnerinnen, auf die Lebenseinstellung eines "impressionistischen Menschen" und nicht zuletzt auf die Erkenntnisse der Freudschen Psychoanalyse, deren "Entdeckung" der Desintegration des Ich sich auch in der literarischen Form niederschlägt.[2]
Ohne diese Aspekte zu bestreiten, möchte ich dennoch mit der vorliegenden Arbeit eine alternative Lesart darbieten, die das Werk in seiner Komplexität zeigt und dabei die Art und Weise hervorhebt, in der die einzelnen Teilstücke des Zyklus miteinander zusammenhängen. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Problematik der Struktur. Von der Frage der Form ausgehend, werde ich versuchen, die Strukturelemente und Prinzipien zu erarbeiten, die dem Zyklus zugrunde liegen, ihm eine gewisse Kohärenz verleihen und ihn damit als ein Ganzes charakterisieren.
Ausschlaggebend für diese Überlegungen ist die Tatsache, dass Schnitzler für die Buchveröffentlichung (1892) nicht nur eine Auswahl seiner Anatol-Stücke vorgenommen hat, sondern dass er sie auf eine Art und Weise geordnet hat, die nicht der Chronologie ihrer Entstehung entspricht. Über die Gründe, die ihn dazu bewogen, und über das Konzept, das er im Sinne gehabt haben mochte, lässt sich, soweit uns nicht eine Brief- oder Tagebuchäußerung vorliegt, nur spekulieren. Der uns vorliegenden Fassung lassen sich aber etliche Strukturprinzipien ablesen, die die Annahme, die einzelnen Szenen seien beliebig aneinandergereiht, "austauschbar wie die jeweilige Besetzung"[3] in Frage stellen.
Meine Ausführungen beruhen hauptsächlich auf der Analyse der Szenenabfolge und machen auf die Ordnungsprinzipien aufmerksam, die sich daraus ableiten lassen. Bei einer solchen Analyse bietet es sich am ehesten an, die einzelnen Szenen in ihrem Zusammenhang im Hinblick darauf zu untersuchen, inwiefern sie von einer Entwicklung Anatols Zeugnis ablegen. Das Prinzip eines chronologischen Fortschritts, welches jedwede Entwicklung voraussetzt, spielt dabei eine zentrale Rolle. Ferner werden Prinzipien, wie z.B. das Prinzip der Wiederholung, dargestellt, und aus deren wechselseitigen Beziehungen werden Konsequenzen für die Struktur des Zyklus abgeleitet.
Zusätzlich zu den sieben Einaktern, die seit der Buchveröffentlichung im Jahre 1892 die vollständige Fassung des Zyklus bilden, werde ich die Szene Anatols Größenwahn heranziehen, die einst als Abschluss geplant war. Damit möchte ich einen Vergleich zu dem bestehenden Schlussstück anstellen, unter der Fragestellung, inwieweit sich die Gesamtkonzeption des Zyklus verändert, wenn dieser aus der Perspektive der jeweiligen Schlussszene betrachtet wird.
2. Die dramatische Form
Schon auf den ersten Blick ist offensichtlich, dass Anatol kein monolithisches Drama ist, das den klassischen Aufbauprinzipien im Sinne von Gustav Freytag bzw. Aristoteles folgt. Ganz im Gegenteil, wir haben es hier mit einem Beispiel für die offene Form des Dramas zu tun, wie man sie sich offener kaum vorstellen kann. Dabei sei gleich festgehalten, dass selbst der Ausdruck "Drama" in diesem Fall problematisch ist. Günter Selling benutzt in seiner Auseinandersetzung mit Anatol den Begriff des „Episodendramas“, der dem eingelebten Begriff des „Einakterzyklus“ gegenüber die Kohärenz berücksichtigt, die allein aufgrund der durchgehenden Protagonisten entsteht.[4] Meines Erachtens ist das Wesen der spezifischen dramatischen Form des Anatol am besten als ein Episodenzyklus zu bezeichnen, weil damit sowohl das Episodenhafte als auch das Zyklische und das Wiederkehrende an dem Werk erfasst wird. In diesem Sinne verstehe ich auch die Bezeichnung Zyklus, die ich im Laufe meiner Ausführungen benutze.
Die Offenheit dieser dramatischen Form wird dadurch manifestiert, dass die Szenenfolge nur fragmentarische Ausschnitte aus Anatols Leben, präziser gesagt aus seinem Liebesleben, präsentiert; diese Diskontinuität scheint geradezu eine Gesetzmäßigkeit des Zyklus zu sein. An der Oberfläche wird der Zusammenhang lediglich durch die Figurenkonstellation Anatol - Max gewährleistet. Da es sich jedes Mal um eine neue Situation handelt, d.h. es ist eine andere Frau im Spiel, wäre zuerst anzunehmen, dass die einzelnen Szenen miteinander so gut wie nicht zusammenhängen. In der Tat kann zwar keine Rede von strengen kausalen Verknüpfungen sein, beim genaueren Hinschauen macht sich aber eine etwas subtilere Kohärenz bemerkbar, die die disjecta membra zusammenknüpft.
Zu der Form des Einakterzyklus hat sich Schnitzler selbst in einem Brief an Otto Brahm geäußert:
Der Einakterzyklus sitzt tief in meinem Wesen (...). Viele meiner Akte sind so vorzüglich in sich geschlossene Stücke, wie es keinem meiner mehraktigen Stücke im Ganzen zu sein gelingt. Statt festaneinandergefügte Ringe einer Kette stellen meine einzelnen Akte mehr oder minder echte, an einer Schnur aufgereihte Steine vor - nicht durch verhakende Notwendigkeit aneinandergeschlossen, sondern am gleichen Bande nachbarlich aneinandergereiht.[5]
Die Geschlossenheit der Anatol-Szenen bezeugen schon ihre vereinzelten Aufführungen, die teilweise noch vor der Entstehung der anderen Szenen stattfanden. Beim Betrachten des Zyklus als ein Ganzes werden aber mit dem Prinzip der "nachbarlichen Aneinanderreihung" potentielle Motiv- und Handlungszusammenhänge nicht ausgeschlossen.
3. Der Zeitaspekt
3.1 Chronologischer Fortschritt
Es ist zunächst festzustellen, dass die Szenen in chronologischer Sukzession folgen, auch wenn die zeitliche Nachfolge erst im Nachhinein durch Bezüge auf die Vergangenheit klar wird. Diese Einwegverkettung mittels des Rückblickes ist die unvermeidbare Konsequenz von Anatols impressionistischem Lebensstil. Da dieser keine Zukunftspläne zulässt und sich selbst nur in der Hingabe an den flüchtigen Augenblick materialisiert, sind die Erinnerungen an die "unsterblichen Stunden"[6] das Einzige, was Anatol bleibt. Am deutlichsten kommt diese Problematik in der Szene "Episode" zum Ausdruck, wo Anatols ganze Vergangenheit symbolisch auf ein Paket mit Reliquien reduziert wird. Es ist symptomatisch für den episodenhaften Charakter des ganzen Zyklus, der auf jeden Anspruch auf Vollständigkeit verzichtet, dass von dem knappen Dutzend Geliebten, über die in "Episode" geredet wird, nur eine auch auf der Bühne erscheint. Es ist Cora, das Mädchen aus der ersten Szene, und der Dialog zwischen Anatol und Max lässt annehmen, dass inzwischen mehrere Jahre vergangen sind: "Ich habe sie später wieder getroffen - als Gattin eines Tischlermeisters." (S.63) Neben diesem einzigen expliziten Bezug können aus Anatols Worten: "Und nun kommen sie; die eine aus irgendeinem kleinen Häuschen aus der Vorstadt, die andere aus dem prunkenden Salon ihres Herrn Gemahls - Eine aus der Garderobe ihres Theaters -" (S.60) auch weitere Bezüge hergestellt werden. Sowohl das namenlose süße Mädel, von dem Anatol Gabriele in der zweiten Szene erzählt, als auch seine neue Geliebte, wegen der er sich von Annie in "Abschiedsouper" trennen will, leben in der kleinstädtischen Welt. Es passt auch gut in Anatols Reflexion, dass er Gabriele nach ihrem Herrn Gemahl fragt, und dass die Tänzerin Annie zu der Verabredung direkt aus dem Theater kommt. Diese Verkettung folgt gewiss keiner "verhakenden Notwendigkeit", wohl aber einer gewissen Notwendigkeit, die aus den typischen Situationen, aus denen sich Anatols Leben zusammenfügt, resultiert. Es ist eine Notwendigkeit der Wiederholung, die die Struktur des Zyklus dermaßen bestimmt, dass man sie als das ihm zugrunde liegende; Muster bezeichnen kann, worauf ich später ausführlich zu sprechen kommen werde.
[...]
[1] Offermans, Ernst L.:“Materiaien zum Verständnis der Texte“, in: Arthur Schnitzler: Anatol. Hrsg. Von Ernst L. Offermanns. Berlin: De Gruyter, 1964, S. 160.
[2] Ebda.
[3] Baumann, Gerhart: „Nachwort“, in: Arthur Schnitzler: Anatol. Anatols Grö ßenwahn. Der grüne Kakadu. Stuttgart: Reclam, 1975, S. 158.
[4] Selling, Günter: Die Einakter und Einakterzyklen Arthur Schnithlers. Amsterdam: Rodopi N.V., 1975, S. 228.
[5] Seidlin, Oskar (Hrsg.): Der Briefwechsel Arthur Schnitzler – Otto Brahm. Tübingen, 1975, S. 203.
[6] Im Folgendem zitiere ich aus der Ausgabe – Arthur Schnitzler: Anatol. Frankfurt am Main, 1993. Hier S. 69.
- Arbeit zitieren
- Barbora Sramkova (Autor:in), 1995, Die dramatische Struktur von Arthur Schnitzlers "Anatol", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/34667
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