Die Relativierung des "höchsten Augenblicks" in Goethes "Faust 2"


Hausarbeit, 2004

22 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

Inhalt

1 Ein Wort zum Beginn
1.1 Der ‚Schlussmonolog’ im wissenschaftlichen Disput
1.2 Grundriss der Untersuchung
1.3 Erste Deutung

2 Faust als negativer Wert
2.1 Philemon und Baucis contra Faust – Aufeinandertreffen zweier Welten
2.2 Zerstörung der alten Ordnung in divergenter Bewertung

3 Fausts idealistische Perspektive
3.1 Die Erblindung
3.2 ‚Endmonolog’
3.2.1 Szenischer Kontext
3.2.2 Inhalt und Deutung
3.2.2.1 Gefahren der Naturgewalten
3.2.2.2 Fausts Hinwendung zum „höchsten Augenblick“

4 Fazit
4.1 Fausts Hochgefühl in der Relation
4.2 Ausblick

5 Literaturverzeichnis

1. Ein Wort zum Beginn

1.1. Der ‚Schlussmonolog’ im wissenschaftlichen Disput

Ein Sumpf zieht am Gebirge hin,

Verpestet alles schon Errungene

Den faulen Pfuhl auch abzuziehn,

Das letzte wär das Höchsterrungene;[1]

Diese Worte eröffnen die - literaturwissenschaftlich äußerst kontrovers diskutierte - letzte Rede Fausts vor seinem Ableben, welche, eben weil sie die letzten Ausführungen eines zeitlebens nach Erfahrung, Genuss und letztlich Macht strebenden Gelehrten markiert, besonderer Aufmerksamkeit bedarf.

Als Schlusswort eines Menschheitsdramas, welches heut als das zentrale Werk der deutschen Dichtung gehandelt und analog in den Kanon der Weltliteratur eingeordnet wird, scheint ein stark akzentuierendes, ja möglicherweise programmatisches Fazit mehr als plausibel. Doch beanspruchte Goethe mit jenen letzten Worten tatsächlich ein visionäres Zukunftsbild, ja eine Ideologie als realisierbare Gesellschaftstheorie zu erschaffen? Zumindest bejaht dies die durch ältere Interpretationen des fünften Aktes konsolidierte allgemein bürgerliche Auffassung. Noch heut wird der ‚Schlussmonolog’ an vielen Schulen Deutschlands als „Vision einer künftigen Gesellschaft“ behandelt. In der DDR beispielsweise wurde der ‚Monolog’ mehrfach politisch instrumentalisiert und nicht selten als Goethes Prophezeiung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung dargestellt.[2]

Doch kann Fausts letzte Rede unter Berücksichtigung des szenischen Kontextes diesem Anspruch überhaupt gerecht werden, sind die letzten Worte Fausts bei diesen Deutungen überhaupt als Teil des Ganzen beachtet oder ist dabei nicht vielmehr der Inhalt des Monologes von der szenischen Darstellung isoliert, die Rede quasi separat und somit inhaltlich autark gedeutet? Neue Literaturwissenschaftler, dabei insbesondere Albrecht Schöne, gehen jedenfalls von letzterem aus. Demgemäß ist ein komplett neues, alten Deutungen oft gänzlich konträres Bild des fünften Aktes geschaffen. Auch wenn dieses neuartige Verständnis die öffentliche, ‚populärwissenschaftliche’ Leserschaft bisher nur sporadisch berührt, so ist es doch in Fachkreisen heute nahezu etabliert.

1.2 Grundriss der Untersuchung

Dieser literaturwissenschaftlich kontrovers diskutierte ‚Endmonolog’ soll auch Teil des Gegenstandes meiner Untersuchungen sein. Unter der zentralen Fragestellung: ‚Inwiefern kann das Erfahrungs-, Genuss- und später auch Machtstreben Fausts die im ‚Schlussmonolog’ angedeutete Sättigung[3] erfahren?’, werde ich Fausts Entwicklung durch die Analyse seines stetig anwachsenden Machthungers im fünften Akt darzustellen versuchen. Dabei soll aufgezeigt werden, ob und inwiefern Faust von Goethe bewusst als amoralischer Wert konstituiert wird und in welcher Hinsicht dies die Gültigkeit des im ‚Endmonolog’ inhaltlich Dargestellten relativiert. Die Szenen Grablegung und Bergschluchten werden bei meinen Untersuchungen keine Beachtung finden, vielmehr wird mein Hauptaugenmerk auf dem noch lebenden und aktiven Faust im fünften Akt liegen. Vordergründig Fausts Handeln und seiner Erblindung gilt dabei besondere Zuwendung.

Im größeren Zusammenhang soll, um dem ‚Endmonolog’ eine mögliche aktübergreifende Quintessenz abzugewinnen, abschließend auf das Irrtumsmotiv des ersten Teiles[4] verwiesen werden.

1.3 Erste Deutung

Die im Endmonolog dargestellte Sättigung des Erfahrungs- und Machteifers, das angedeutete Ende des ‚faustschen’ Strebens, ja sogar das Erleben des „höchsten Augenblick[s]“ bleiben ein subjektives und somit lediglich dem Gelehrten Faust inhärentes Empfinden. Als Konsequenz seiner sowohl physischen als auch geistigen Erblindung zeigt sich Faust im Schlussmonolog als realitätsferner Idealist und steht mit seiner subjektiv verfärbten Geisteshaltung im Kontrast zum szenischen Kontext. Der Schlussmonolog als groteske Illustration von Fausts geistiger Verblendung betont, zumindest aus objektiver Perspektive, die Unmöglichkeit, den in Fausts Handeln dargestellten grenzenlosen Machtdrang zu stillen. Denkbar ist, dass dieser grenzenlose Drang, welcher seine absolute Kulmination im fünften Akt findet, den fortschreitenden Kulturprozess Goethes Zeit veranschaulicht; Goethe demnach kritisch auf die anwachsende kapitalistische Gesellschaftsordnung referiert. Da Faust zum destruktiven, amoralischen Egozentriker erwächst und das Glücksempfinden als ein lediglich durch den Verlust des Realitätsbezuges geschaffenes dargestellt wird, könnte der fünfte Akt demnach als stark polemische Kulturkritik von Seiten Goethes verstanden werden.

2. Faust als negativer Wert

2.1 Philemon und Baucis contra Faust – Aufeinandertreffen zweier Welten

Die Szene Offene Gegend steht der Szene Palast antagonistisch entgegen; es treffen in ihnen zwei komplett differenzierte Geisteshaltungen aufeinander. Auf der einen Seite steht das der römischen Mythologie entstammende Ehepaar Philemon und Baucis, welches eine Art Gesinnung der Genügsamkeit, der begrenzten Idylle als Glück repräsentiert, auf der anderen Seite steht Faust, der, von seiner anwachsenden politischen Einflussnahme unbeeindruckt, langsam eine Art Omnipotenzstreben entwickelt.

So hat Goethe menschliche Grundhaltungen einander gegenübergestellt, Grundhaltungen einer alten, untergehenden Welt und einer mit Macht heraufkommenden modernen, die sich in Faust und Mephisto verkörpert.[5]

Als der Wanderer zu Beginn der Szene Offene Gegend nach „langer Wanderschaft“[6] erneut das alte Ehepaar aufsucht, nachdem er einst in Not ihre Hilfe empfangen hat, beschreibt er sie mit den Worten:

Meine Wirte möcht’ ich segnen,

Hülfsbereit, ein wackres Paar

[…]

Ach! das waren fromme Leute!

Poch ich? Ruf ich? – Seid gegrüßt!

Wenn, gastfreundlich, auch noch heute

Ihr des Wohltuns Glück genießt[7]

Hierbei handelt es sich beinahe um eine Kurzcharakteristik des alten Ehepaares: Frömmigkeit, Hilfsbereitschaft, Gastfreundlichkeit und Glück sind Attribute des beschränkten, sich der Natur hingebenden und äußerst genügsamen Lebens. Obwohl der Besitz des Ehepaares lediglich eine kleine Hütte und ein dazugehöriges Gärtchen umfasst, ist vom Genuss des Glückes die Rede. Das Glück erscheint als Folge der Nächstenliebe und der Genügsamkeit, quasi als Resultat „des Wohltuns“ – eine Erkenntnis, die Faust gänzlich verschlossen bleiben wird.

Auch demonstrieren Philemons letzte Worte die Merkmale der begrenzten Idylle und somit die Voraussetzung für ihr Glück:

Laßt uns zur Kapelle treten!

Letzten Sonnenblick zu schaun.

Laßt uns läuten, knieen, beten!

Und dem alten Gott vertraun.[8]

Diese Verse sind die direkte Antwort auf den von Baucis als verdächtig erachteten Bebauungsfortschritt Fausts[9], bilden also das Kontrastbild zum Fortschrittsdenken.

Die Freude am „Sonnenblick“ und das Vertrauen in „Gott“ bilden das Grundgerüst des begrenzten Lebens und markieren die Einordnung „[…] in eine umfassende Ordnung, die als eine gewordene und natürliche geachtet wird.“[10] Nicht das Streben nach mehr, sondern das bloße Gegebensein von Gott und Natur ist ausschlaggebend für das Glücksempfinden.

In dieser Altersidylle […] steht die Zeit still. Nichts mehr strebt hier über das Gegebene hinaus, verlangt nach tätiger Veränderung, will sich steigern, hat Fortschritt im Sinn.[11]

[...]


[1] Johann Wolfgang Goethe: Faust. Texte. Hrsg. v. Albrecht Schöne (ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Abt. I. Bd. 7/1.). Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1994. S. 445. (V. 11559-11563) (Die Frankfurter Ausgabe wird im Folgenden zitiert unter Verwendung der Sigle FA und zusätzlich der Abteilungs-, Band- und Seitenangabe)

[2] Vgl. Thomas Metscher: Faust und die Ökonomie. In: Aufsätze zu Goethes >Faust<. Hrsg. von Werner Keller. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1992. S. 278-S289.

[3] Vgl. FA I. 7/1. S. 446. (V.11585 f.) „Im Vorgefühl von solchem hohen Glück / Genieß ich jetzt den höchsten Augenblick“

[4] Vgl. FA I. 7/1. S. 27. (V. 317) „Es irrt der Mensch, solang er strebt“

[5] Jochen Schmidt: Goethes Faust. Erster und Zweiter Teil. Grundlagen – Werk – Wirkung. München: Beck 1999. S. 274.

[6] FA I. 7/1. S. 427. (V. 11046)

[7] Ebd. (V. 11051-11057)

[8] Ebd. S. 430. (V. 11139-11142)

[9] Vgl. Ebd. S. 429 f. (V. 11091-11138) Philemon und Baucis führen einen Disput über die Kultivierungsarbeiten Fausts. Währen Philemon den errichteten Dämmen und Kanälen durchaus positive Facetten abgewinnen will, beschimpft Baucis Faust als gottlos.

[10] Jochen Schmidt: Goethes Faust. S. 274.

[11] FA I. 7/2. S. 713.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Die Relativierung des "höchsten Augenblicks" in Goethes "Faust 2"
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena  (Institut für Literaturwissenschaft)
Veranstaltung
Goethe, Faust
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
22
Katalognummer
V35875
ISBN (eBook)
9783638356657
ISBN (Buch)
9783638652940
Dateigröße
526 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Relativierung, Augenblicks, Goethes, Faust, Goethe, Faust
Arbeit zitieren
Michael Steinmetz (Autor:in), 2004, Die Relativierung des "höchsten Augenblicks" in Goethes "Faust 2", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/35875

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