"Niemand wird schwul, der es nicht ist" - Homosexualität als soziale Konstruktion der Moderne?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

27 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


INHALT

Einleitung

1 Homosexualität
1.1. Das Forschungsfeld
1.2. Begriffe
1.2.1. Liebe unter Männern – Homosexualität
1.2.2. Der Begriff „schwul“ als Bedeutungsträger
1.2.3. Subkultur
1.2.4. Milieu

2 Zum Selbstbild Homosexueller in der Moderne
2.1. Der „aufklärerische“ Geschlechterdiskurs
2.2. Der „Zwang“ zu homosexueller Identität
2.3. Der Wandel in der Selbstwahrnehmung Homosexueller
2.4. Homosexualität als Konstruktion?

3 „Policey“ und schwule Subkultur (Referatsthema)
3.1. Homosexuelle in der Kaiserzeit und der Weimarer Republik
3.2. Verfolgung – Homosexuelle im Dritten Reich

4 Homosexuelle heute

Schlussbemerkung und Fazit

Literatur

Einleitung

In der Vorbemerkung zu seiner Dissertation über Homosexualität verweist der Schweizer Christoph Schlatter auf eine Verfügung des Obergerichts des Kantons Schaffhausen, die ihn verpflichtet, entgegen der üblichen Rechtspraxis die Namen sämtlicher in seiner Arbeit erwähnter Beteiligter und Betroffener über die amtliche Sperrfrist hinaus zu anonymisieren. Betroffen seien frei zugängliche Akten aus dem 19. Jahrhundert. Schlatter bemerkt dazu:

„Anlässlich der Publikation werden plötzlich Vorbehalte gemacht – eine absurde Sachlage. Es ist zu vermuten, dass es – eben doch ... – das Thema dieser Arbeit war, durch das sich die Behörden zu ihrer Praxisänderung veranlasst fühlten.“[1]

Schlatters Arbeit über homosexuelle Männer in Schaffhausen ist nicht vor dreißig oder vierzig Jahren entstanden, zu einer Zeit, in der die wissenschaftlich seriöse Erforschung von Homosexualität noch am Anfang stand, sondern im Jahr 2004. Der Verfasser zieht für sich den Schluss, dass die Behörden mit ihrer Entscheidung dazu beitrügen, Homosexualität weiterhin als Makel zu behandeln. Das scheint umso interessanter, als man annehmen könnte, dass die seit den siebziger Jahren zunehmend zielgerichtet betriebene Forschung über Homosexualität eher zur Aufklärung und damit zu einem unvoreingenommenen Umgang mit gleichgeschlechtlicher Liebe und Sexualität beigetragen haben könnte.

Seit etwa 30 Jahren kann man für Deutschland von einer ernsthaft betriebenen Forschung auf diesem Feld Homosexualität sprechen, wobei es bis heute keinen Lehrstuhl für den Forschungsbereich Homosexualität an einer deutschen Universität gibt, gleichwohl aber ein dauerhaft eingerichtetes Forschungsprojekt im Fachbereich Germanistik an der Universität Siegen, das den Zusammenhang zwischen Homosexualität und Literatur untersucht und zu einer regen Diskussion über Homosexualität und Homosexuelle in der Literaturwissenschaft in der jüngeren Vergangenheit beigetragen hat.[2] Man kann wohl nicht mehr von einem tabuisierten Diskurs über Homosexualität sprechen, jedoch wird Homosexualität auch in der Gesellschaft des 21.Jahrhunderts noch mit Vorurteilen und Klischees begegnet.

Diese Arbeit widmet sich dem gesellschaftlichen Umgang mit männlicher Homosexualität – von den Autoren des Forschungsfeldes mal als Männerliebe (Heinrich Hössli), mal als mann-männliche Beziehung (Wolfgang Schmale) umschrieben – wobei insbesondere der Wandel im Bewusstsein, in der Selbstwahrnehmung homosexueller Männer und die homosexuelle Subkultur thematisiert werden sollen.

Die Arbeit soll einerseits einen Überblick über die Erforschung homosexuellen Verhaltens sowie über die Entstehung und Bedeutung von Begriffen in Bezug auf Homosexualität liefern, andererseits anhand historisch wichtiger Eckpunkte und Zäsuren die Geschichte der Homosexualität und ihrer gesellschaftlichen Wahrnehmung nachzeichnen.

Vorab soll ein Überblick über signifikante Begriffe wie Homosexualität, schwul, Subkultur und Milieu als Einstieg in das Thema fungieren. Es stellt sich nach wie vor die Frage, welcher Begriff angemessen ist, um sexuelle oder Liebesbeziehungen zwischen Männern zu umschreiben. Seit wann gibt es den Begriff schwul und in welchem Zusammenhang hat sich seine Verwendung etabliert? In welchen, möglicherweise auch negativ besetzten Zusammenhängen wird der Begriff heute auch noch verwendet? Der Bund lesbischer und schwuler JournalistInnen (BLSJ) kritisierte beispielsweise unlängst die Verwendung von bestimmten Formulierungen in der Berichterstattung im Mordfall des prominenten Münchner Modeschaffenden Rudolph Moshammer:

„[...] Die Berichte seien geprägt von Klischees und unreflektierten Vorurteilen, erklärte die Organisation, die auf Formulierungen wie ‚Mordfall im Homosexuellen-Milieu’ verwies. Ein solches Milieu gebe es ebenso wenig wie ein Heterosexuellen-Milieu, sagte BLSJ-Sprecher Martin Rosenberg.“[3]

Ist eine Sichtweise adäquat, wonach es kein Homosexuellen-Milieu gibt? Für welches gesellschaftliche Klima spräche die Existenz von Milieus und in welchem Zusammenhang stehen Begriffe wie Milieu und Subkultur möglicherweise?

Dass Homosexuelle bis in die jüngste Vergangenheit – begünstigt durch eine kriminalisierende, als Folge diskriminierende Rechtssprechung – gesellschaftlich degradiert waren, scheint im gesellschaftlichen Diskurs ebenfalls oft ausgeblendet zu werden.

Als Folge scheint ein Abtauchen respektive Ausweichen in eine Subkultur fast logisch. Inzwischen zeichnet sich jedoch eher ein Wandel ab: Homosexuelle teilen sich der Öffentlichkeit mit, bewusst demonstrativ und offensiv. Kann man unter den Vorzeichen eines eher offenen und vor allen Dingen entkriminalisierten Auslebens von Homosexualität noch von einer mann-männlichen oder schwulen Subkultur sprechen? Bestehen womöglich Unterschiede zwischen beiden? Und kann man in bezug auf Homosexualität von einer tatsächlich aufgeklärten Gesellschaft sprechen? Gern wird darauf verwiesen, dass George W. Bush die US-Präsidentschaftswahl im Jahr 2004 auch mit einer Kampagne gegen Homosexuelle für sich entschieden habe.

Auch wenn sich diese Arbeit weitgehend auf die Entwicklungen im deutschsprachigen Raum beschränken soll, sei an dieser Stelle – zur Verdeutlichung der Relevanz einer Ausweitung und Fortsetzung des wissenschaftlichen Diskurses über Homosexualität – auf eine weitere Begebenheit aus den USA verwiesen, die beispielhaft sein kann für den Umgang von Teilen der modernen Gesellschaft mit Homosexualität: Christliche Gruppen ärgerten sich demnach schon seit langem über Kinderfiguren im Fernsehen, die angeblich homosexuelle Werte vermittelten, hieß es im Februar 2005 in einem Artikel einer deutschen Tageszeitung.[4] Die „konservativen Familienwächter“ störten sich demnach an den Figuren Ernie und Bert aus der Kindersendung „Sesamstraße“, weil diese zusammen in einem Bett schlafen, und äußerten Besorgnis ob einer drohenden Manipulation ihrer Kinder. Ihre Verärgerung gilt seit kurzem auch einem Trickfilmschwamm namens SpongeBob, der mit seinem Freund Patrick, einem Seestern, Händchen hält. Mit anderen Worten: Die Eltern treibt die Angst um, ihre Kinder könnten homosexuell werden. Wodurch lassen sich solche Bedenken erklären? Was wird mit dem Begriff Homosexualität und homosexuellem „Verhalten“ verbunden? Was gelten heute Aussagen wie die von Irene Runge, die in Jürgen Lemkes „Ganz normal anders“ mit Nachdruck schreibt: „Niemand wird schwul, der es nicht ist.“?[5]

1 Homosexualität?

1.1. Das Forschungsfeld Homosexualität

Karl-Heinrich Ulrichs, der in der Literatur als erster bekennender Homosexueller kolportiert wird, versuchte in den sechziger und siebziger Jahren des 19.Jahrhunderts mann-männliche Liebe mit dem Begriff der „Zwischenstufen“ zu erklären, die eine „Stufenleiter von Übergangsindividuen“ zwischen Mann und Frau bilden, und er schuf zusätzlich die Begriffe des „Urnings“ für den zwitterähnlichen Mann mit weiblichem Liebestrieb, und den der „Urningin“ als Frau mit umgekehrter Veranlagung.[6] Diese seit 1864 von Ulrichs verwandten Begriffe suchten die „seelisch und körperlich weiblich angehauchte Natur“ insbesondere von männlichen Individuen zu umschreiben, zu denen er sich selbst zählte. Ulrichs scheiterte mit seinen Bemühungen, einen „Urningsbund“ zu gründen und mit seinem Kampf für die Legalisierung der mann-männlichen Geschlechtsliebe an den widrigen Zeitumständen.[7] Zumindest aber gilt diese Epoche heute als Geburtsstunde von „Homosexualität“ als Kategorie.[8]

Anfangs griff Magnus Hirschfeld, ein „Vordenker der Homosexuellenbewegung“, selbst noch auf Schutzbehauptungen zurück, wonach die damals noch „namenlose“ Männerliebe rein geistiger Natur sei, und leugnete damit ausgerechnet ihre körperliche Dimension.[9] Hirschfeld, der Ulrichs Ansatz aufgriff, erarbeitete schließlich eine Sichtweise, nach der alle Menschen als eine Mischung aus weiblichen und männlichen Eigenschaften und daher mann-weibliche Mischungen seien, die sich nur in der quantitativen Ausprägung der jeweiligen Eigenschaften unterschieden. Auch der Embryo, argumentierte Hirschfeld, sei anfangs unbestimmten Geschlechts. Bemerkenswert ist, dass über die Zuteilung von nach traditionellem Verständnis männlichen und weiblichen Eigenschaften zu „intersexuellen Varianten“ die Auflösung des zuvor etablierten und bekräftigten Mann-Frau-Musters erst möglich wird. Auch die äußerlich offenkundige Differenz in der Bildung der Geschlechtsorgane erhält so eine neue Interpretation, die allerdings innerhalb der Schwulenbewegung ob ihres Bezugs auf eine physische oder psychische Weiblichkeit nicht unumstritten blieb:

„So denkt sich Hirschfeld die Klitoris als männliches Element im Geschlechtsorgan der Frau und den Uterus masculinus als weibliches Element in den Organen des Mannes.“[10]

Herzer und Steakley bemerken, Hirschfeld habe die Konsequenz seines Ansatzes nie betont, wohl aus Rücksicht auf das „Selbstverständnis der Majorität“ der Gesellschaft, eine Problematik, die zum teil auch heute noch Gültigkeit haben dürfte.[11]

Trotz Hirschfelds zu jener Zeit geradezu revolutionär wirkender Ansätze, deren Errungenschaft vor allem in der Neubewertung und „Entpathologisierung“ bestand, die er auch vor dem Hintergrund seiner eigenen Sexualität und der damit verbundenen gesellschaftlichen Ächtung erst generieren konnte und die andererseits auch als Fortführung älterer Überlegungen verstanden werden können[12], trotz dieser Lehre bewegte sich die Forschung nach Hirschfelds Tod 1935 in eine andere Richtung. Es waren seine Schüler am Berliner Institut für Sexualwissenschaft, die Hirschfelds Ansatz keinesfalls nur in seinem Sinne fortführten, sondern im Gegenteil ihre Hoffnung auf eine Heilung der Krankheit Homosexualität betonten.[13] Nicht zuletzt diese Interpretationen haben für das Verschwinden von Hirschfelds Lehren für lange Zeit gesorgt.

Psychoanalytiker glaubten zu Beginn des 20.Jahrhunderts, bezüglich der Entwicklung homosexueller Verhaltensweisen bestimmte Muster ausmachen zu können: Sie hielten eine Besitz ergreifende, sexuell verführerische Mutter und einen schwachen Vater für einen Auslöser von Homosexualität, weil das ‚Vorbild Vater‘ als Triebfeder für eine männliche Identifikation ausbleibe.[14]

Der sozialwissenschaftliche „labeling approach“, insbesondere der späten sechziger Jahre – wörtlich für „Etikettierung“ – entsprang in der Sozialwissenschaft der Thematisierung von Abweichung im Allgemeinen. Devianz, also abweichendes Verhalten, gibt es demzufolge zu jeder Zeit, in allen Gesellschaften und ist damit universell. Sie variiert allerdings in Form und Ausprägung von Gesellschaft zu Gesellschaft.[15] Die Innovation dieses Ansatzes liegt bezüglich seiner Übertragung auf die Homosexualität insbesondere im Wechsel der Perspektive – vom Homosexuellen als Objekt der Betrachtung hin zur Gesellschaft als Faktor für Wahrnehmung und Bewertung von Verhaltensweisen: Abweichendes Verhalten wird demnach sozial über die Durchsetzung von Normen mithilfe sozialer Kontrolle erst vermittelt und variiert in der Definition je nach dem gesellschaftlichen Normenkanon. Entsprechend variiert also auch die Definition von Homosexualität.

[...]


[1] Schlatter, Christoph (2004), „Merkwürdigerweise bekam ich Neigung zu Burschen...“. Selbstbilder und Fremdbilder homosexueller Männer in Schaffhausen 1867 bis 1970, Zürich, S.11.

[2] Vgl. Zillich, Norbert (1993), Gegenwärtige Homosexuellenforschung in Deutschland, in: Lautmann, Rüdiger [Hrsg.], Homosexualität. Handbuch der Theorie- und Forschungsgeschichte, Frankfurt/New York, S. 353-361, hier S.358, sowie Siegener Forschungsprojekt „Homosexualität und Literatur“: „Dauerhaft eingerichtetes Forschungsprojekt zur Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Homosexualität und Literatur. Teilprojekte: jährlich stattfindende internationale Kolloquien (`Siegener Kolloquium Homosexualität und Literatur'), Zeitschrift `Forum Homosexualität und Literatur', `lexikon homosexuelle belletristik'“, <http://www.uni-siegen.de/research/berichte/1999/fb03/germ/pr020.html> Zugriff am 28.Februar 2005.

[3] Meldung der Nachrichtenagentur AP, aus: Berliner Zeitung vom 17. Januar 2005, S. 30.

[4] Rehfeld, Nina (2005), „Schwuler Schwamm: Konservative Vereine werfen Serien wie ‚SpongeBob’ oder den ‚Teletubbies’ Manipulation an Kindern vor, Berliner Zeitung vom 10. Februar 2005, S.34.

[5] Vgl. Lemke, S.9.

[6] Vgl. Hirschauer, Stefan (1996), Wie sind Frauen, wie sind Männer? Zweigeschlechtlichkeit als Wissenssystem, in: Eifert, Christiane (Hrsg.), Was sind Frauen? Was sind Männer? Geschlechterkonstruktionen im historischen Wandel, Frankfurt/Main, , S.240-256, hier S.251

[7] Vgl. Herzer, Manfred/Steakley, James [Hrsg.] (1986), Magnus Hirschfeld: Von einst bis jetzt. Leben und Werke eines jüdischen, schwulen und sozialistischen Soziologen, Hamburg, S.104 f.

[8] Hirschauer, S.251

[9] Vgl. Herzer, S. 96 f.

[10] Vgl. ebd., S.105.

[11] Vgl. ebd., S. 105 f.

[12] Vgl. ebd., S.106

[13] Hirschfelds Schüler Max Hodann beispielsweise bemerkt zwar ganz im Sinne seines Lehrers, dass viele Homosexuelle sich absolut gesund fühlten und kein Bedürfnis nach Heilung verspürten, berichtet aber von der geglückten „Heilung“ Homosexueller und ihrer „Verwandlung“ in Heterosexuelle – was die Interpretation zulässt, dass auch für Hodann die Heterosexualität als das „gesunde“ Sexualverhalten gilt. Vgl. Herzer u.a., S. 92 f.

[14] Vgl. Friedman, Richard C. (1993), Männliche Homosexualität, Berlin/New York, S.3.

[15] Schlatter, S. 24 f.

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
"Niemand wird schwul, der es nicht ist" - Homosexualität als soziale Konstruktion der Moderne?
Hochschule
Universität Leipzig  (Institut für Politikwissenschaft)
Veranstaltung
Zur Konstruktion von Männlichkeit in der Moderne
Note
1,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
27
Katalognummer
V36811
ISBN (eBook)
9783638363365
Dateigröße
531 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit widmet sich dem gesellschaftlichen Umgang mit männlicher Homosexualität, wobei insbesondere der Wandel im Bewusstsein, in der Selbstwahrnehmung homosexueller Männer und die homosexuelle Subkultur thematisiert werden sollen. Die Arbeit soll einen Überblick über die Erforschung homosexuellen Verhaltens sowie über die Entstehung und Bedeutung von Begriffen in Bezug auf Homosexualität liefern, und anhand historisch wichtiger Eckpunkte und Zäsuren Geschichte der Homosexualität ...
Schlagworte
Niemand, Homosexualität, Konstruktion, Moderne, Konstruktion, Männlichkeit, Moderne
Arbeit zitieren
M.A. Sabine Krätzschmar (Autor:in), 2005, "Niemand wird schwul, der es nicht ist" - Homosexualität als soziale Konstruktion der Moderne?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/36811

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