Der Ehrenmord im Fall Sürücü soziologisch betrachtet


Bachelorarbeit, 2017

36 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Ehre - nur noch ein altmodisches Konzept?
2.1 Ehre als ein Bestandteil der Soziologie
2.2 Der Begriff Ehre definiert durch Max Weber
2.3 Ehre geprägt durch Pierre Bourdieu
2.4 Die Logik der Ehre in der Gegenwart - Ludgera Vogt

3. Der Fall Sürücü - ein Paradigma eines Ehrenmords
3.1 Der Mord
3.2 Die Beteiligten - die Familie Sürücü
3.3 Die öffentliche Darstellung
3.3.1 Die Berichterstattung
3.3.2 Die Reaktionen
3.4 Das Urteil

4. Der Ehrenmord - eine Ehre und Schande zugleich
4.1 Definition Ehrenmord
4.2 Gründe und Auslöser
4.2.1 Ein Bestandteil einer Religion?
4.2.2 Integrationsschwierigkeiten in der westlichen Welt

5. Inwiefern kann der Ehrbegriff beim Ehrenmord im Fall Sürücü soziologisch erklärt werden?

6. Präventionsmaßnahmen und Interventionsarbeit
6.1 In der Öffentlichkeit
6.2 In der Schule

7. Fazit

8. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Täglich werden in Deutschland rund 584 Milliarden1 E-Mails verschickt - und nicht wenige davon beginnen mit einer Anrede, die dem jeweiligen Gegenüber Ehre erweisen soll: „Sehr geehrte Damen und Herren...“. Doch wie kommt es, dass Floskeln wie diese derart verbreitet sind? Es scheint, als würden viele Menschen im Alltag immer wieder auf den Begriff der Ehre treffen und diesen ganz selbstverständlich nutzen, ohne ihn aber zu hinterfragen. Für andere wiederum ist die Ehre ein wichtiges Konzept, das regelmäßig thematisiert und unter Umständen auch gewaltsam verteidigt wird. Doch wie lässt es sich erklären, dass die se Form von Wertschätzung zur Begründung oder zu einer vermeintlichen Entschuldigung für die Ermordung eines Familienmitglieds werden kann?

Am 07.02.2005 wurde Hatun Sürücü, eine 23-jährige alleinerziehende Mutter, von ihrem jüngsten Bruder durch drei Kopfschüsse an einer Bushaltestelle im Bezirk Berlin- Tempelhof hingerichtet. Dieser entsetzliche Fall erregte schnell das Aufsehen der Menschen in Deutschland und entfaltete eine hitzige Debatte über Zwangsehen und die Wertvorstellungen der in Deutschland lebenden Muslime. Aufgrund zahlreicher Dokumentationen und Reportagen wurde die Thematik rund um den Ehrenmord zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem in der Bundesrepublik - und angesichts der öffentlichen Kritiken und Diskussionen wurde die Debatte um die Thematik bald offensiv und multilateral geführt.

Die vorliegende Bachelorarbeit hat eine soziologische Auswertung, in welcher der Ehrbegriff beim Ehrenmord im Fallbeispiel Sürücü auf soziologischer Ebene untersucht wird, zum Ziel. Ich werde in Kapitel 2 („Ehre - nur noch ein altmodisches Konzept?“) zu Beginn kurz diskutieren, ob es sich bei der Vorstellung der Ehre heutzutage um ein veraltetes Konzept handelt, oder ob es weiterhin von Bedeutung ist und inwieweit sich seine Relevanz in der Soziologie widerspiegelt. Dabei werden insbesondere die Theorien von Max Weber, Pierre Bourdieu und Ludgera Vogt vorgestellt. In Kapitel 3 („Der Fall Sürücü - ein Paradigma eines Ehrenmords“) werde ich detailliert über den Tathergang im Fall Sürücü, alle beteiligten Personen und das Urteil berichten. Dabei dienen insbesondere vom Täter getroffene Aussagen als Grundlage. Daran anknüpfend sollen in Kapitel 4 („Ehrenmord - Ehre und Schande zugleich“) eine Definition, Gründe und Auslöser für Ehrenmorde exemplifiziert werden, um ein besseres Verständnis der Thematik zu ermöglichen. Das Kapitel 5 („Inwiefern kann der Ehrbegriff beim Ehrenmord im Fall Sürücü soziologisch erklärt werden?“) beinhaltet eine soziologische Auswertung des Falls Sürücü unter Betrachtung der vorher genannten Theorien und Erläuterungen. Dabei wird untersucht, inwiefern der Ehrbegriff beim Ehrenmord im Fall Sürücü soziologisch erklärt werden kann. Im Rahmen der Untersuchung sollen die Theorien von Weber, Bourdieu und Vogt in Verbindung mit dem Fall Sürücü gesetzt werden. In Kapitel 6 („Präventionsmaßnahmen und Interventionsarbeit“) werden mögliche Projekte und Organisationen vorgestellt, welche sowohl in der Schule als auch im öffentlichen Bereich präventiv mitwirken können. Dieses Kapitel entstand im Rahmen meines schulischen Interesses, da ich mich als angehende Lehrerin mit gesamtgesellschaftlichen Problemen beschäftige und nach präventiven Maßnahmen suche, um diese zu verringern oder gar zu verhindern. Die gewonnenen Erkenntnisse sollen schließlich in einem Fazit zusammengefasst werden, in welchem auch ein Ausblick gegeben wird.

2. Ehre - nur noch ein altmodisches Konzept?

„Soziologen und Sozialhistoriker scheinen sich weitgehend darin einig, daß ‘Ehre‘ in Gesellschaften unseres Typs ein ebenso veraltetes Konzept ist wie etwa ‘Jungfräulichkeit‘“ (Wohlrab-Sahr 1999: 217). Immer wieder wird die Bedeutung des Konzepts der Ehre heutzutage stark diskutiert. Galt es einst noch als zentrales Vergesellschaftungsprinzip einer hierarchischen, ständisch gegliederten Gesellschaft, so argumentieren heute Soziologen wie Peter Berger, dass genau dieses Konzept durch das Konzept der Menschenwürde abgelöst worden sei. Berger gibt an, dass gerade bei dem Konzept der Menschenwürde die Unabhängigkeit von institutionellen Rollen, welche eng mit einer ständischen Gesellschaft verbunden waren, ein ausschlaggebendes Merkmal sei. Des Weiteren erläutert er Ehre lediglich als einen sozialen Symbolismus, welcher zum einen die Identität der Person vorgibt und diese zum anderen eng an die Vergangenheit bindet. Im Gegensatz dazu soll die Menschenwürde die Befreiung des Menschen von solchen Verbindungen bewirken (vgl. Wohlrab-Sahr 1999: 217f.). Inwiefern diese Vorstellung auf die heutige Gesellschaft übertragen werden kann lässt sich jedoch nur bedingt allgemein beurteilen, da die vielfältige und ständige Entwicklung der Gesellschaft immer wieder eine Veränderung der Wert- und Normvorstellungen, wie beispielsweise auch des Verständnisses der Ehre, erzeugt. Darüber hinaus bleibt beispielsweise eine generalisierende Frage wie ’’wie wird Ehre in unterschiedlichen Kulturen definiert“ doch meist völlig unbeachtet - und auch Fragen wie ’’wer oder was definiert Ehre’’ werden häufig vernachlässigt, weshalb eine pauschale Aussage über die Bedeutung der Ehre im Allgemeinen unrealistisch erscheint. Folgt man allerdings der Theorie Bergers, müsste das Konzept der Ehre allgemein veraltet sein.

2.1 Ehre als ein Bestandteil der Soziologie

Anknüpfend an die Annahme, dass das Konzept der Ehre in einer modernen Gesellschaft als veraltet gilt, erscheint es folgerichtig, dass in der gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Forschung dem Konzept der Ehre offensichtlich bloß eine nebensächliche Bedeutung zukommt. Sollten sich Soziologen doch mit dieser Thematik auseinandersetzen, lässt sich sehr häufig ein Bezug zu den grundlegenden Ausarbeitungen von Georg Simmel und Max Weber wiederfinden, die vor zirka 100 Jahren erarbeitet wurden. Eine überarbeitete, neuere Auffassung lieferte Pierre Bourdieu in den 60er Jahren. Diese wird heute, in der jüngsten Kultursoziologie, als einen der wichtigsten Theorie verstanden, welche zur Orientierung dient (vgl. Steuten 2005: 7). Die deutsche Soziologin Ludgera Vogt fokussierte am Ende des letzten Jahrhunderts „das Verständnis und die Interpretation von verschiedenen Ehrphänomenen in der modernen Gesellschaft“ (ebd.: 7), welche sie heute an der Universität Wuppertal lehrt. Um einen besseren Überblick über unterschiedliche soziologische Ansätze zum Konzept Ehre zu erlangen, wird in den nachfolgenden Kapiteln näher auf die Ansätze von Max Weber, Pierre Bourdieu und Ludgera Vogt eingegangen

2.2 Der Begriff Ehre definiert durch Max Weber

Der Soziologe Max Weber „verwendet den Begriff der Ehre als ein zentrales Bestimmungskritierium im Bereich der Sozialstrukturanalyse“ (Vogt 1997: 65), in deren Rahmen der Zusammenhang zwischen Macht und Ehre besonders wichtig erscheint. Weber argumentiert, dass ein Streben nach Macht häufig mit dem Streben nach Ehre einhergeht. Allerdings gibt er in diesem Kontext zu bedenken, dass nicht jede Form von Macht gleich soziale Ehre mit sich bringt (vgl. Weber 1976: 531). Diese Annahme exemplifiziert Weber anhand des Beispiels des amerikanischen Bosses, der zwar ökonomische Macht besitzt und ausübt, aber aufgrund seines hohen Gehalts auf soziale Ehre verzichtet. Doch was versteht Weber eigentlich unter Macht? Er definiert Macht als die Möglichkeit, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen durchzusetzen, auch, wenn Widerstreben jeglicher Art besteht (vgl. Müller/ Sigmund 2014: 90). Dabei entsteht eine Machtverteilung innerhalb der Gesellschaft, die sich in Klassen (Gruppierungen, die durch ökonomische Stellungen definiert sind), Stände (definiert durch verschiedene Lebensführungen) und Parteien (gesellschaftliche Interessensgruppen) unterteilen lässt (vgl. Vogt 1997: 67f.). Nach Weber ist Ehre zugleich ein Fundament für unterschiedliche Formen sozialer Macht:

„Und andererseits ist nicht nur Macht die Grundlage sozialer Ehre. Sondern umgekehrt kann soziale Ehre (Prestige) die Basis von Macht auch ökonomischer Art sein und war es sehr häufig gewesen.“

(Weber 1976: 531)

Inwiefern eine Machtgenerierung dieser Art funktioniert, lässt Weber offen. Festzuhalten ist aber, dass der Begriff der sozialen Ehre bei Weber als Synonym zu Prestige verwendet wird. Vogt (1997: 66) reflektiert daraus, dass das „Konzept der Ehre in den Rang einer zentralen Bestimmungsgröße der Analyse von Sozialstrukturen und sozialer Ungleichheit in modernen Gesellschaften“ gerückt wird und somit die Annahme, dass sich die soziale Ordnung einer Gesellschaft aus der Verteilung der sozialen Ehre erschließt, logisch sein muss (vgl. ebd.).

Ein solches Zusammenspiel von Ehre und Macht leitet über zu der Bestimmung ständischer Lagen, welche durch die ständische Ehre definiert werden. Hervorzuheben ist an dieser Stelle, dass „die ständische Ehre [nicht] notwendig an eine ‘Klassenlage‘ anknüpfen [muss, sondern] normalerweise vielmehr mit den Prätentionen des nackten Besitzes als solchen in schroffem Widerspruch [steht]“ (Weber 1976: 535). Daraus ergibt sich, dass also nicht der ökonomische Besitz die Stände, sondern vielmehr „kulturelle Bestimmungsgrößen“ (Vogt 1997: 67) definiert. Die einzelnen Stände unterscheiden sich wiederum durch ihre jeweiligen Ehren voneinander, die sich durch verschiedene Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsformen äußern:

„Inhaltlich findet die ständische Ehre ihren Ausdruck normalerweise vor allem in der Zumutung einer spezifisch gearteten Lebensführung an jenen, der dem Kreis angehören will.“

(Weber 1976: 535)

Beispiele für solche Lebensführungen sind etwa strikte Vorstellungen von sozialen Kontakten oder das Verlangen des Verheiratens zweier Personen, die demselben Stamm angehören (vgl. Vogt 1997: 68).

Neben den Ausführungen zur sozialen und ständischen benennt Weber mit der ethnischen Ehre schließlich eine weitere Form der Ehre. Diese basiert auf dem Gemeinschaftsglauben und kennzeichnet sich durch die „Abgrenzung gegen das ‘Andere‘“ (ebd.: 83). Folglich erschafft die ethnische Ehre geschlossene Gemeinschaften, welche durch offensichtliche und aggressive Äußerungsformen, wie Rassismus oder Nationalismus, auffällig werden (vgl. ebd.).

Schlussendlich lässt sich das Konzept der Ehre nach Weber als ein Mittel sozialer Differenzierung zusammenfassen. Jegliche Form der Ehre hilft dabei, so Weber, eine Gruppierung von einer anderen abzugrenzen. Ob es sich dabei um eine positive oder negative Abgrenzung handelt, gilt es im Einzelfall zu beurteilen.

2.3 Ehre geprägt durch Pierre Bourdieu

Der französische Kultursoziologe Pierre Bourdieu ist unter anderem bekannt für seine Kategorisierung der unterschiedlichen Kapitalformen in ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital.

Markus Schwingel (2005: 92) betont in seiner Einführung zu Pierre Bourdieu, dass das soziale Kapital besonders durch die Anerkennung durch andere definiert sei. Werner Fuchs-Heinritz (2005: 166) vertieft die Thematik, indem er das Substrat des sozialen Kapitals in sozialen Beziehungen, darunter zum Beispiel Freundschaften, oder Vertrauensbeziehungen sieht. Damit begründet er ebenfalls, wie eine gegenseitige Anerkennung und Wertschätzung zustande kommt. Darüber hinaus führt nach Meinung Schwingels das soziale Kapital zum symbolischen Kapital, welches die Ehre mit einschließt:

„Jeder ‘Kredit‘ an legitimer gesellschaftlicher Anerkennung und Wertschätzung stellt ein symbolisches Kapital dar, das seiner Konstitutionslogik nach unabhängig von dem objektivökonomischen und -kulturellen Kapital ist.“

(Schwingel 2005: 93)

Auch Pierre Bourdieu selbst versteht Ehre, aufgrund einer Feldforschung in der Kabylei in den frühen sechziger Jahren, als eine besondere Form von Kapital. Die Ergebnisse seiner Studie hielt Bourdieu in seinem Buch Entwurf einer Theorie der Praxis (1976) fest, in dem deutlich wird, dass die Pointierung auf dem Verständnis der Ehre als symbolischem Kapital liegt. In seinem konkreten Beispiel, den Tauschoperationen der kabylischen Bauern, exemplifiziert Bourdieu die Verschiebung vom ökonomischen Kapital in symbolisches Kapital. Hierbei wird der An- und Verkauf eines Ochsengespanns analysiert, wobei Bourdieu zum dem Resultat gelangt, dass nach rein rationaler Betrachtung der Zeitpunkt des An- und Verkaufs des Ochsengespanns völlig falsch terminiert wurde, da das Ochsengespann nach der Ernte gekauft wurde.

Lediglich in Anbetracht der Heiratsverhandlungen erscheint es nachvollziehbar, dass diese Handlung nicht das ökonomische Kapital, den materiellen Reichtum, sichern soll, sondern vielmehr die Absicht darin liegt, den Ruf einer ehrbaren Familie, also den der investierenden Familie, zu akzentuieren. Damit verwandelt sich ein Teil des ökonomischen Kapitals in symbolisches Kapital (vgl. Bourdieu 1987: 214f.) Bourdieu fügt an dieser Stelle folgende Definition hinzu:

„[...] das symbolische Kapital ist jenes verneinte, als legitim anerkannte, also als solches verkannte Kapital, das gewiss zusammen mit dem religiösen Kapital dort die einzige mögliche Form der Akkumulation darstellt, wo das ökonomische Kapital nicht anerkannt wird.“

(Bourdieu 1987: 215)

Darüber hinaus analysiert Bourdieu Ehre in Form des symbolischen Kapitals als ein Gut, welches nur bedingt zur Verfügung steht und „wie in Grundstücksangelegenheiten [sich] der eine nur auf Kosten des anderen bereichern [wird]“ (vgl. Bourdieu 1987: 220).

Joseph Jurt (2012: 36) bringt darüber hinaus noch die Bedeutung der symbolischen Gewalt mit in den Zusammenhang, da er diese als eine Form der Herrschaft ansieht, welche sich häufig als Verpflichtung, Schuldigkeit oder Erkenntlichkeit äußert, der man sich kaum entziehen kann.

Bourdieu selbst sieht diese Annahme in der Erziehung von Kindern bestätigt, geht er doch davon aus, dass diese nur durch die nötige Anerkennung der Eltern folgsam werden. Daraus ergibt sich dann, dass die Suche nach Anerkennung zum Antrieb jedes Handelns wird. Nach Bourdieu liegt hierin der Ursprung des menschlichen Drangs nach symbolischem Kapital - nämlich Ruhm, Ehre und Ansehen (vgl. Jurt 2012: 37f.).

2.4 Die Logik der Ehre in der Gegenwart - Ludgera Vogt

Die deutsche Soziologin Ludgera Vogt veröffentlichte Ende der 90er Jahre ihre Vorstellung und Auffassung bezüglich des diskutierten Ehrbegriffs. Dabei spielte eine entscheidende Rolle, inwiefern genau dieses Konzept in der modernen Gesellschaft noch von Relevanz sei. In ihrem Aufsatz Ehre in traditionalen und modernen Gesellschaften (1990) knüpft Vogt an die Theorie Schopenhauers an, der Ehre mit „handfesten Interessen und wohlkalkulierten Tauschprozessen“ (Vogt 2015: 291) in Zusammenhang bringt. Vogt lässt diese Äußerung zunächst unkommentiert und fokussiert stattdessen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Semantik der Ehre. Nach Vogt entstehen solche Gemeinsamkeiten und Unterschiede vor allem durch die ständige Weiterentwicklung, denn sie stellt fest, dass jede Zukunft ihre eigene Ehridentität entwickelt, welche sich als innere Steuerungsgröße der Individuen äußert. Ferner hebt sie hervor, dass die Ehre sich aufgrund neuer Moraldiskurse zu einer ständeunabhängigen Tugend entwickeln konnte (vgl. ebd.: 291f.).

Immer wieder kritisiert Vogt den undurchsichtigen Sprachgebrauch. Ihrer Meinung nach wird die Bedeutung der Ehre durch die unterschiedlichen Verwendungen, darunter öffentliche Ehrungen, Ehrenzeichen, Ehrentitel, Ehrenamt, Beleidigung und Ehrenschutz, Berufsehre oder nationale Ehre, erschwert (vgl. Vogt 1997: 225f.). Sie führt ihren Ansatz fort, indem sie angibt, dass der Ehrbegriff seine Verbindlichkeit verloren habe, denn durch den vielseitigen Einsatz der Begrifflichkeit bleibt es zweifelslos äußert schwierig eine eindeutige Verbindlichkeit des Konzepts zu benennen (vgl. ebd.: 371).

Nichtsdestotrotz sieht Vogt (ebd.: 371) in der Ehre immer noch ein „Medium sozialer Differenzierung“. Sie greift die Ehrvorstellung Bourdieus auf und erklärt sowohl soziale als auch politische Machtgenerierung mithilfe des symbolischen Kapitals der Ehre, welches ihrer Meinung nach immer noch aktuell ist und bedenkenlos übernommen werden kann. Des Weiteren dienen Ehrungen Vogt zufolge der Aufrechterhaltung von Werten und Normen in der modernen Gesellschaft, durch die ein sozialer Zusammenhalt und ein Vergemeinschaftungsprozess ermöglicht werden. Demzufolge erweist sich speziell Ehre in Form von öffentlichen Ehrungen, wie beispielsweise Urkunden, als notwendig. Den Ehrenkodizes sieht sie auch heute noch als einen notwendigen Faktor an, welcher Selbstkontrolle und Selbstbeschränkung gewährleistet. Diese wiederrum kann sich ebenfalls unterstützend auf den Prozess der Vergemeinschaftung auswirken (vgl. ebd.: 372f.) Vogt vertritt - genau wie Weber - die Auffassung der ständischen Ehre im Sinne der sozialen Ordnung, die auch heute noch vorhanden sei. Vogt erkennt sie in symbolischen Gemeinschaften mit mehr oder weniger ausgeprägter gemeinsamer Identität. Allerdings hebt Vogt hervor, dass Zwänge in diesem Zusammenhang heutzutage keine Rolle mehr spielen, da die Menschen frei wählen können. (vgl. Vogt 1997: 393).

Vogt hat im Rahmen ihrer Auseinandersetzung mit der Ehre keine neue Theorie erarbeitet, sondern vielmehr die Vielzahl an bereits bestehenden Theorien in Beziehung zueinander gesetzt und auf ihre Aktualität geprüft. Ihre zentrale Aussage trifft sie mit den Worten, dass differierende Ehrvorstellungen Teilkulturen integrieren und den Beteiligten ein Gefühl von kollektiver Identität und Selbstbewusstsein vermitteln können (vgl. ebd.: 396).

3. Der Fall Sürücü - ein Paradigma eines Ehrenmords

3.1 Der Mord

Am 07.02.2005 ereignete sich mit dem Mord an Hatun Aynur Sürücü der in Deutschland wohl bekannteste Fall eines Ehrenmords. Die 23-jährige Deutsche türkischkurdischer Abstammung wurde von Ayhan, ihrem jüngsten Bruder, der damals gerade 18 Jahre alt war, durch drei Kopfschüsse in Berlin-Tempelhof an einer nahegelegenen Bushaltestelle auf offener Straße getötet. Als zentrales Motiv für die Tat wurde Hatuns Lebensstil deklariert, welchen ihr Bruder als zu freizügig und westlich kritisierte (vgl. Deiß/ Goll 2011: 11). In der Folge wurde dieser Mord „zum Fanal für misslungene Integration“ (ebd.: 7) und entfachte eine hitzige Debatte über fehlende Integration und Ehrenmorde in Deutschland.

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1 Zahlen laut Statista, URL: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/392576/umfrage/anzahl-der- versendeten-e-mails-in-deutschland-pro-jahr/ (Aufgerufen am 15.12.16).

Ende der Leseprobe aus 36 Seiten

Details

Titel
Der Ehrenmord im Fall Sürücü soziologisch betrachtet
Hochschule
Universität Siegen
Note
1,3
Autor
Jahr
2017
Seiten
36
Katalognummer
V368131
ISBN (eBook)
9783668465930
ISBN (Buch)
9783668465947
Dateigröße
1089 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ehre, Max Weber, Pierre Bourdieu, Ludgera Vogt, Sürücü, Ehrenmord, Integrationsschwierigkeiten, Präventionsmaßnahmen, Interventionsarbeit, Soziologie
Arbeit zitieren
Ronja Oster (Autor:in), 2017, Der Ehrenmord im Fall Sürücü soziologisch betrachtet, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/368131

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