Leseprobe
Freiheit als Quelle, Struktur und Gehalt gelungener Werke
Was ist„engagierte"Literatur?Jean-Paul Sartre (1905 -1980)
Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges veröffentlichte Jean-Paul Sartre die erste Ausgabe seiner Zeitschrift „Les Temps Modernes" und trat in mehreren Artikeln für eine „engagierte Literatur" ein: Ein Autor sei für seine Epoche verantwortlich. Damit löste er heftige Kritik aus im Stile von „Dann treten Sie doch der Kommunistischen Partei bei". Ihm wurde vorgeworfen, er wolle mit seiner Forderung die Literatur in den Dienst politischer Zwecke stellen und zur Tendenzliteratur machen. Sartre wies den Vorwurf zurück und als Antwort auf diese Polemik verfasste er 1947 den Essay „Was ist Literatur?"; ein grundlegendes Werk über das Wesen der Literatur, das zugleich ein Schlüsselwerk seines Denkens ist. In den vier Kapiteln „Was ist Schreiben?", „Warum schreiben?", „Für wen schreiben?" und „Situation des Schriftstellers im Jahre 1947" erklärt er, warum Prosa engagiert sein muss. Es geht Sartre nicht um eine literaturwissenschaftliche Definition von Literatur, sondern vielmehr um eine philosophische Bestimmung des literarischen Kunstwerks; um eine spezifische Art der Reflexion auf das menschliche Selbst- und Weltverhältnis. Er erweckt die Instanz des Lesers zum Leben.
Das Anliegen dieses Essays ist es, das Verhältnis zwischen Autor, Werk und Leser zu beleuchten und herauszustellen, wie sie sich gegenseitig bedingen. Im Vordergrund steht dabei der appellative Charakter von Prosa und Prosa als Akt des Vertrauens in die Freiheit.
Im ersten Kapitel unterscheidet Sartre zwischen Prosa und Poesie und anderen bildenden Künsten. Die Prosa steht in einem anderen Verhältnis zum Menschen als die Poesie: „Ursprünglich schafft die Poesie den Mythos des Menschen, während der Prosaist sein
Porträt zeichnet". Poesie verkörpert eine selbstreferentielle Dichtung, die sich selbst genüge und Sprache zum Selbstzweck nutze. Prosa besitzt politischen Gehalt: Der Prosaist ist stets Enthüller und Aufklärer. Nur die Prosa benutze Sprache als Zeichen, um Dinge konkret zu benennen. Im Unterschied zu Malern oder Musikern sei Sprache für den Schriftsteller an einen bestimmten Zweck gebunden: „Die Prosa ist ihrem Wesen nach utilitär [...] Der Schriftsteller ist ein Sprechender: er bezeichnet, beweist, befiehlt, lehnt ab, redet an, fleht, beleidigt, überzeugt, legt nahe". Der engagierte Schriftsteller weiß, dass Sprechen Handeln ist. Sprechen als Handlung der Enthüllung? Ja. Enthüllung meint bei Sartre das Aufdecken bzw. Sichtbarmachen äußerer Phänomene der Welt. Die Welt tritt erst durch die Sprache des Schriftstellers in die Wahrnehmung. Jedes Ding, das man benennt, hat seine Unschuld verloren.
„[...] er weiß, dass Enthüllen Verändern ist und dass man nur enthüllen kann was man verändern will". In der Enthüllung durch den Schriftsteller wird die Dialektik des Schreibens deutlich: „[...] er kann nicht gleichzeitig enthüllen und hervorbringen". Schaffen und Wahrnehmen bleiben unvereinbar: Der Schriftsteller entwirft die Form und den Inhalt seiner Prosa, aber er schafft den Gegenstand nicht für sich. Er begibt sich nicht objektiv an die Sache, sondern integriert sich in den Text. Somit ist das subjektive Werk des Autors bzw. der Appel im prosaisch Subjektiven nichts anderes als ein Hilferuf an den Leser, das Werk als Objekt zu erschaffen. „Kunst gibt es nur für und durch andere".
Im zweiten Kapitel „Warum Schreiben?" wird klar, was Sartre genau mit engagierter Literatur meint. „Mit einem Wort: Lektüre ist gesteuertes Schaffen". Sich als Schriftsteller zu engagieren bedeutet also gerade nicht, dem Leser eine bestimmte Ideologie aufzudrängen(l) Lektüre als gelenktes Schaffen bedeutet, dass dem Leser eine aktive Rolle zuteil wird. Er ist in der Verantwortung, die in den vom Autor im Inhalt intendierten Bedeutungen herauszuarbeiten und zu entschlüsseln. Die Lektüre ist als konkrete Handlung, als Synthese aus Wahrnehmen und Schaffen und als Schaffen und Enthüllen zu verstehen. Autor und Leser erkennen ihre jeweiligen Freiheiten an: "Denn da der Schreibende eben durch die Mühe des Schreibens, die er sich macht, die Freiheit seines Lesers anerkennt, und da der Lesende allein dadurch, dass er das Buch aufschlägt, die Freiheit des Schriftstellers anerkennt, ist das Kunstwerk [...] ein Akt des Vertrauens in die Freiheit des Menschen". Der engagierte Schriftsteller braucht freie Menschen, damit seine Appelle überhaupt zur Kenntnis genommen werden können; seine Appelle an die Freiheit des Lesers zur Mitarbeit an der Produktion des Werks des Schriftstellers. Der literarische Gegenstand ist nicht mit dem Buch identisch; ohne Leser ist das Buch nur Papier mit schwarzen Strichen. Der literarische Gegenstand existiert nur in Bewegung; nur durch die Zusammenarbeit zwischen Autor und Leser kann das literarische Kunstwerk gelingen. Anders als die Naturalisten meinten, kann der Autor eines literarischen Werkes kein objektiver Beobachter und Protokollant seiner Zeit und der verschiedenen gesellschaftlichen Schichten sein, sondern ist immer faktisch situiert, in seiner Perspektivität bedingt. Die zeitgenössischen Leser teilen mit dem Autor eine gemeinsame Welt, die in sein Werk eingegangen ist und vor deren Hintergrund sie es rezipieren.
Hier ist zu differenzieren zwischen den Eigenschaften, die ein Werk selbst besitzen muss, um transhistorische Geltung zu beanspruchen, und der Fähigkeit des Rezipienten, die Lebendigkeit eines Werkes durch seine schöpferische Lektüre stets erneut zu aktualisieren.
Aufgabe des Autors ist es, den Leser durch seinen Text zu aktivieren, indem er ihm seine individuelle Aufgabe und seine Pflicht, die Gesellschaft zu verändern, bewusst macht. Somit ist sein Werk zugleich Forderung und ein Geschenk: Zum Einen werden dem Leser Ungerechtigkeiten und Missstände offenbar, zum Anderen der Drang zur Veränderung, die ihm seine Freiheit ermöglicht. Das eigentliche Ziel der Literatur ist also die gesellschaftliche Veränderung. Wenn der Leser sein erworbenes Wissen und seine Freiheit nicht nutzt, um aktiv zu werden gegen die Existenz einer ungerechten Welt, dann macht er sich dafür verantwortlich. Autor und Leser sind beide für das Universum verantwortlich.
Prosa ist also ein Akt des Vertrauens in die Freiheit des Schriftstellers, sowie in die des Lesers: „je mehr wir unsere Freiheit erfahren, desto mehr erkennen wir die des anderen an; je mehr er [der Autor] von uns verlangt, desto mehr verlangen wir von ihm". Hierin liegt die eigentliche Dialektik der Lektüre.
Das hat auch politische Konsequenzen für Sartre: „Man schreibt nicht für Sklaven. Die Kunst der Prosa ist mit dem einzigen System solidarisch, wo die Prosa einen Sinn behält: mit der Demokratie".
Das dritte Kapitel „Für wen schreibt man?" wirft einen Blick auf die Literaturgeschichte und analysiert das Spannungsverhältnis zwischen Autor und Leser in den jeweiligen Epochen. Sartre verfolgt ein utopisches Literaturprojekt, das die Klassengrenzen überschreitet und in dem sich ein Schriftsteller nicht nur an ein bestimmtes Publikum richtet, sondern an die ganze Gesellschaft. Dies sei jedoch nur in einer klassenlosen Gesellschaft denkbar, da es hier keinen Konflikt gäbe zwischen dem Sujet der Literatur (der Freiheit des Menschen) und ihrem Publikum.
Das vierte Kapitel „Situation des Schriftstellers im Jahre 1947" exemplifiziert dann die abstrakten Überlegungen derersten drei Kapitel.
Zurück zum Engagement des Schriftstellers: Schreiben bedeutet die Anfechtung der etablierten Werte, des Systems, als notwendige Veränderung der Gesellschaft, sogar als Revolution.
Man schreibt in der Demokratie und für sie, heißt es bei Sartre. Wenn die Demokratie gefährdet ist, dann ist auch die Demokratie des Lesens und Schreibens bedroht. Der Autor muss im Schreiben die Demokratie verteidigen, solange es nur geht. Sartre geht - angesichts der Erfahrungen von zwei Weltkriegen - sogar soweit, vom Schriftsteller zu fordern, dass er zu den Waffen greifen muss, wenn er mit Worten nichts mehr erreichen kann.
Auch „Wörter sind geladene Pistolen" - Brice Parain (1897 - 1971). Möge der Kampf mit Worten gewonnen werden.
Gemäß Sartre mache Stil die Prosa aus. „Man ist nicht Schriftsteller, weil man gewählt hat, bestimmte Dinge zu sagen, sondern weil man gewählt hat, sie auf bestimmte Weise zu sagen".
Verliert die Kunst beim Engagement? Nein; vielmehr erfordert es das Entstehen immer neuer Kunstformen wie Sprachveränderung und Formveränderung. Für Sartre gilt: Reine Kunst ist gleich leerer Kunst, ein ästhetischer Purismus ist vollkommen zu verwerfen. Aufgabe, Sinn und Zweck des Werkes ist es, dem Leser sein In-der-Welt-Sein erfassbar zu machen und nicht ästhetischen Genuss zu verschaffen. Der Schriftsteller bietet kein konkretes praktisches Wissen und liefert auch keine Anleitung zum richtigen Leben. Stattdessen vermittelt er dem Leser ein Selbst-Bewusstsein, das ihn über sich und sein In- der-Welt-Sein reflektieren lässt. Die Reflexion bewirke die Veränderung des Bewusstseins. Im Unterschied zum l'art pour Kart gilt bei der engagierten Kunst nicht das Primat von ästhetischen Werten. Im Bereich der Literatur meint sie im weitesten Sinne alle Literatur, die ein religiöses, gesellschaftliches, ideologisches, politisches Engagement erkennen lässt oder daraus resultiert. Sie strebt eine Veränderung des Bewusstseins an.
Viktor Slovskij (1893 - 1984) beschreibt in seinem Aufsatz „Kunst als Verfahren" (1916), dass mehrere Male wahrgenommene Dinge sehr bald nur noch wiedererkennend von uns wahrgenommen werden: „wir haben das Ding vor uns, wir wissen, dass es da ist, aber wir sehen es nicht mehr. Darum können wir nichts darüber sagen." Eine erschreckende Erfahrung des Dritten Reichs ist, dass man sich sogar an den Anblick des Elends gewöhnen kann. Folglich ist es die Aufgabe der Kunst, die Dinge so zu zeigen, als sähen wir sie zum ersten Mal(!). Es geht darum, nicht länger von dem auszugehen, was sich von selbst versteht. In Abgrenzung zu einem Verständnis von Kunst als „Denken in Bildern" und in Abgrenzung von der Alltagssprache betrachtet Viktor Šlovskij Literatur als Verfahren der Verfremdung, etwa semantische Verschiebungen, welche die Form erschweren und die Wahrnehmung verlängern. Kunst ist auf Kritik und Erkenntnisförderung angewiesen.
So sieht es auch Sartre: Wenn die Revolution gewonnen ist, wird die Literatur arbeitslos und läuft ins Leere. „[...] man muss etwas anderes finden."
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