Arbeiten in Bewegung. Die Eisenbahn als passiver und aktiver literarischer Raum

Der Zug als (Arbeits-) Raum


Seminararbeit, 2016

29 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Vorwort

2. Schnittpunkte zwischen Eisenbahn und Literatur

3. Auswirkungen der Eisenbahn auf die Menschheit

4. Der Zug als (Arbeits-) Raum

5. Mediennutzung im Zug Transportabel, Portabel oder Mobil?

6. Schreibszenen im Zug

Schlussbemerkungen

Literaturverzeichnis

1. Vorwort

„Joanne sitzt als Pendlerin in der Eisenbahn von Manchester nach London King’s Cross. Irgendwann kommt der Zug zum Stehen, aus dem Lautsprecher dringt eine Durchsage über ein technisches Gebrechen. Da im Abteil wohl nichts Spannendes vor sich geht, beobachtet Mrs Rowling durchs Fensterglas eine grasende Kuhherde. Die Wege der Assoziation sind unergründlich, plötzlich nimmt das Magierepos um Harry Potter Gestalt an, […].“[1]

Das oben angeführte Zitat ist für die vorliegende Arbeit in mehrfacher Hinsicht interessant. Einerseits behandelt es eine Reise, die die Autorin J. K. Rowling angetreten hatte. Diese Reise mit der Eisenbahn verläuft jedoch offensichtlich nicht störungsfrei, denn der Zug kommt aufgrund eines technischen Gebrechens zum Stehen. Der interessanteste Aspekt des gesamten Zitates ist nun jedoch, dass es durch diesen technischen Defekt nicht bloß zu einer lästigen Zeitverzögerung gekommen war, sondern scheinbar die Kreativität der Autorin beflügelt wurde. Inwiefern solche und ähnliche Situationen auf den Schreibprozess einwirken und was es generell bedeutet, wenn Autoren oder Künstler im Zug arbeiten, soll im Zuge dieser Arbeit untersucht werden. Was bedeutet es, wenn Autoren im beschleunigten Raum des Eisenbahnwaggons arbeiten und welche Unterschiede ergeben sich daraus zur Arbeit in der heimischen Schreibstube? Können Vorteile oder Nachteile dadurch herauskristallisiert werden? Welche Voraussetzungen müssen überhaupt gegeben sein, damit im Zug gearbeitet werden kann? Diese und weitere Fragen sollen geklärt werden, indem zuerst eine Zusammenführung zwischen dem technischen Bereich (der Eisenbahn) und der Literatur geschaffen wird. Hier soll untersucht werden, wie die Eisenbahn die Mediennutzung (und –produktion) beeinflusst hat. Ebenso sollen kurz die Auswirkungen des neu im späten neunzehnten Jahrhundert aufgekommenen Transportmittels auf die Gesellschaft aufgezeigt werden.

Des Weiteren soll die vorliegende Arbeit eine genaue Analyse der Medien bieten, die im Rahmen einer Zugreise verwendet werden (können). Dabei stützen sich die Betrachtungen vor allem auf das Konzept der beiden Medienwissenschaftler Matthias Thiele und Martin Stingelin.

Ein weiterer Teil der Seminararbeit beschäftigt sich mit Menschen, die in Zügen und während Eisenbahnreisen arbeiten und schreiben. Um diese Betrachtung vorzunehmen wird zuerst auf das Konzept der Schreibszene bzw der Schreib-Szene zurückgegriffen, das ursprünglich von Rüdiger Campe erdacht und von Martin Stingelin weiterentwickelt wurde.

Unter Zuhilfenahme dieses Konzepts werden unter anderem Blogposts der deutschen Studentin Leonie Müller, aber auch Ausschnitte aus dem Roman Netzkarte von Sten Nadonly und Textstellen anderer Autoren herangezogen.

2. Schnittpunkte zwischen Eisenbahn und Literatur

Besonders das Rezipieren von Literatur scheint ein Phänomen zu sein, das seit der ersten Stunde der Eisenbahn eng mit dieser zusammenhängt. Dies wird besonders deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass bereits wenige Jahre nach der Einführung der Bahn in England ein organisierter und erfolgreicher Buchhandel an Bahnhöfen entsteht.[2] Gleichzeitig hebt Schievelbusch jedoch hervor, dass sich das Lesen im Zug auf eine spezielle Gesellschaftsschicht beschränkte:

„Die Reiselektüre ist eine ausschließlich bürgerliche Beschäftigung. Die unteren Schichten, die die Eisenbahn benutzen, lesen nicht nur nicht, weil sie es sich nicht leisten können, sondern weil sie kein Bedürfnis danach haben.“[3]

Ob die Zugehörigen der genannten unteren Schichten nun tatsächlich überhaupt kein Verlangen nach Literatur hatten, kann sicherlich angezweifelt werden. Dennoch stimmt es mit Sicherheit, dass das Lesen eher den sozial Höhergestellten vorbehalten war. Neben der sozialen Stellung und dem Bildungsgrad, welcher das Bedürfnis nach Literatur hervorrufe, nennt Schievelbusch noch einen zweiten Faktor, der dazu führe, dass im Zug gelesen wird:

„Der Reisende, mit dem die Fahrt beginnt, steigt vielleicht schon an der nächsten Station aus, wo er von einem anderen ersetzt wird. Aus diesem Grunde wird das Lesen ein Bedürfnis.“[4]

Heutzutage trifft diese Beschränkung auf eine bestimmte gesellschaftliche Klasse, was das Lesen im Zug betrifft, mit Sicherheit nicht mehr im selben Maße zu, wie damals. Aber auch das Aufkommen neuer mobiler Medien hatte Auswirkungen auf das Leseverhalten während des Eisenbahnreisens heutzutage. So werden nicht mehr nur Bücher bzw. Zeitungen gelesen, denn immer mehr Fahrgäste konsumieren Filme und Serien an ihren portablen Computern oder starren in ihre Smartphones, auf denen sie in Spielewelten abtauchen oder sich mit sonstigen Apps die Zeit vertreiben. Genauso ist es gegenwärtig aber auch möglich, im Zug mit Computern zu arbeiten. Diese Eroberung der Züge durch digitale Medien wird in dieser Arbeit später noch eine Rolle spielen.

Nicht seltener als dass in Zügen geschrieben und gelesen wird, stellt die Eisenbahn selbst in vielen Romanen den Schauplatz oder nimmt sogar aktive Rollen in den Handlungen der Geschichten ein. So ist besonders das Genre der Westernromane beinahe untrennbar mit der technischen Errungenschaft der Eisenbahn verbunden, die oft im starken Kontrast zu den naturverbundenen amerikanischen Ureinwohnern steht. Genau dieses Motiv findet sich auch des Öfteren bei dem berühmtesten aller Westernautoren wieder, nämlich bei Karl May:

„Mays Indianer sind deshalb hervorragender Reiter, die sogar mit Bravourstücken die Reitkünste von Arabern bei deren halsbrecherischen Fantasias in den Schatten stellten. Dem „Feuerroß“, der Lokomotive, hingegen stehen sie hilf- und ratlos gegenüber.“[5]

Doch nicht nur im Westerngenre hat die Eisenbahn ihren festen Platz. Auch die Kriminalliteratur hat sich der Thematik der Eisenbahn angenommen und man kann durchaus von einem eigenen Sub-Genre sprechen, wenn man Krimis kategorisieren will, deren Rahmenhandlung sich in und um Züge abspielen. Besonders oft sind es Fernverkehrszüge, was in doppelter Hinsicht Sinn ergibt, denn erstens bedarf es einer langen Fahrtstrecke und -zeit, um der Handlung genügend Zeit einzuräumen, damit sich diese entfalten kann und zweitens besitzen diese Züge oftmals eine mystische und exotische Aura, die sie umgibt. So erweckt bereits schon der Titel von Agatha Christies vierzehntem Roman Mord im Orient-Express Spannung und Interesse. In diesem Kriminalroman muss ein Kriminologe einen Mord an einem seiner Mitreisenden aufklären. Das Besondere dabei ist, dass der Zug zum Zeitpunkt des Mordes aufgrund von Schneemassen zum Stehen gekommen war und aber keine Spuren im Schnee zu erkennen waren, die weg von den Gleisen führten. Dies alles ergibt eine spannende Konstellation, denn der Mörder musste sich folglich noch an Bord des Zuges befinden.[6] Hier bietet der Zug mit seiner (besonders während der Fahrt) abgekapselten Sphäre, aus der niemand einfach so aussteigen kann, einen besonders
reizvollen Schauplatz für Krimis.

Doch auch in anderen Genres sind Züge immer wieder zu finden. So ist es weniger dem Bahnhofsgebäude von King’s Cross in London selbst zu verdanken, dass dieser jeden Tag von zahlreichen Touristen besucht wird, sondern dem Hogwarts-Express, der die ZauberschülerInnen des Harry Potter-Universums von dort auf ihre Zauberschule befördert.

In der Vergangenheit waren es aber auch oft Autoren, die über die Eisenbahn schrieben und von Erlebnissen erzählten, die sie selbst miterlebt haben. Nicht selten liefern dabei Katastrophen, Unfälle und andere traumatische Erlebnisse den Stoff für die Erzählungen. Dies mag wenig überraschen, wenn man sich vor Augen führt, dass der Übergang von der eher gemächlichen Postkutsche zu der schnellen Eisenbahn auch ein ungleich höheres Katastrophenpotential beinhaltet.

„Der Achsenbruch einer Kutsche im 18. Jahrhundert unterbricht lediglich eine ohnehin langsame und starken Erschütterungen ausgesetzte Reise auf der Landstraße, der Achsenbruch einer Lokomotive auf der Eisenbahnstrecke Paris-Versailles führt 1842 zur ersten Europa erschütternden Eisenbahnkatastrophe.“[7]

Das wohl prominenteste Beispiel für einen Text, der von einem solchen Eisenbahnunfall handelt, erschien zum ersten Mal im Jahr 1909 und wurde von Thomas Mann verfasst. Mann verarbeitet in der Erzählung Das Eisenbahnunglück seine Erinnerungen, die er beim Durchleben des tatsächlich stattgefundenen Eisenbahnunglückes von Regenstauf, gemacht hat.[8] Oft sind es weniger die körperlich erlittenen Wunden, als die physischen Nachwirkungen, die den Betroffenen von Eisenbahnunglücken zusetzen und über die sie schreiben. So wird auch Charles Dickens Zeuge eines Zugunglücks, den er zwar unversehrt überlebt, aber doch psychische Wunden davongetragen hatte.[9] So schreibt Dickens 1865 vier Tage nach dem Unglück:

„Meine Gemütsverfassung ist, wie soll ich sagen, durchaus robust (so meine ich wenigstens), und ich war zur Zeit des Unfalls nicht im geringsten erregt. Ich erinnerte mich augenblicklich, daß ich noch ein Manuskript bei mir hatte, und ich klettere zurück in den Wagen, um es zu holen. Indem ich jedoch diese wenigen Worte der Erinnerung niederschreibe, fühle ich mich plötzlich überwältigt der und muß den Brief abbrechen.“[10]

Dickens, der sich eigentlich eine robuste, nicht leicht zu erschütternde Persönlichkeit zuschreibt, scheint offenbar tief betroffen vom Erlebten, so sehr sogar, dass er sogar aufhören muss darüber zu schreiben. Das Schreiben scheint die Erinnerungen an das erlebte Unglück wieder auszugraben und bedeutet gleichzeitig dieses noch einmal durchleben zu müssen.

[...]


[1] Sharpio, Marc: J. K. Rowling, Die Zauberin hinter Harry Potter, online unter: http://www.sandammeer.at/rezensionen/rowling-shapiro.htm, zuletzt aufgerufen am 08.08.2016.

[2] Vgl.: Schievelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag 2007, 63.

[3] Ebd. 64.

[4] Ebd. 66.

[5] Schmidt, Hartmut: „Die Naturkraft ist ihm unterthan“. Technische Fragen im Werk Karl Mays. In: . Sonderheft der Karl-May-Gesellschaft Nr. 57/1985. S. 25.

[6] Vgl.: Christie, Agatha: Mord im Orient-Express. Bremen: Atlantik Verlag, 2014.

[7] Schievelbusch: Eisenbahnreise. S. 119.

[8] Neue Freie Presse vom 3. Mail 1909, Digitalisat in der Österreichischen Nationalnbibliothek, online unter: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?apm=0&aid=nfp&datum=19060503&seite=9&zoom=2, zuletzt aufgerufen am 11.08.2016.

[9] Perry, Marsha: The Staplehurst Railway Accident, online unter:

http://www.charlesdickensinfo.com/life/staplehurst-railway-accident/, zuletzt aufgerufen am 11.08.2016.

[10] Dickens, Charles. zitiert nach: Schievelbusch: Eisenbahnreise. S. 124.

Ende der Leseprobe aus 29 Seiten

Details

Titel
Arbeiten in Bewegung. Die Eisenbahn als passiver und aktiver literarischer Raum
Untertitel
Der Zug als (Arbeits-) Raum
Hochschule
Universität Wien  (Institut für Germanistik)
Note
1,0
Autor
Jahr
2016
Seiten
29
Katalognummer
V370203
ISBN (eBook)
9783668485372
ISBN (Buch)
9783668485389
Dateigröße
659 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Portable Media, Eisenbahn, Schreiben in Bewegung, Eisenbahn und Literatur, Literatur, Transportabel, Portabel, Mobil, Schreibszene, Schreibsezenen, Schreib-Szene, Karl May, Matthias Thiele, Martin Stingelin, Sandro Zanetti, Die Netzkarte, Kafka, Benjamin, Rüdiger Campe, Schievelbusch
Arbeit zitieren
Julian Moosbrugger (Autor:in), 2016, Arbeiten in Bewegung. Die Eisenbahn als passiver und aktiver literarischer Raum, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/370203

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