Die Freiheit zu sterben?

Eine multiperspektivische Erörterung zum Thema Suizid mit Bezug auf die Geschichte, Kausalität und Recht


Bachelorarbeit, 2016

49 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Begriffsklärung
2.1 Die Herkunft verschiedener Suizidbegriffe
2.2 Eine inhaltliche Annäherung an den Begriff Suizid
2.3 Formen der Sterbehilfe
2.4 Die Freiheit des Menschen als Grundrecht

3. Philosophische Ideen über den Suizid als historische Skizze
3.1 Die Antike – griechische und römische Philosophie
3.2 Mittelalter – Aquin, Dante und Montaigne
3.3 Die Neuzeit – Kant, Hume und Schopenhauer
3.4 Die Moderne – philosophische Heterogenität

4. Politische und rechtliche Regularien Deutschlands
4.1 Die Strafbarkeit von Suizid und Sterbehilfe
4.1.1 Direkte aktive Sterbehilfe und Suizid im Vergleich
4.1.2 Die indirekte aktive und passive Sterbehilfe
4.2 Das politische Statement zu einer moralischen Frage

5. Warum Suizid? Eine polykausale Ergründung
5.1 Zahlen und Fakten
5.2 Suizid – eine vererbbare Krankheit des Geistes?
5.3 Soziologische Einflussgrößen
5.4 Eine Annäherung an die Psyche von Suizidenten

6. Ambivalenzen der Freiheit im Suizid
6.1 Eine kurze Zusammenschau
6.2 Die Freiheit zu sterben – eine Widersprüchlichkeit?

7. Umgang der Polizei mit Suizid(enten)

8. Fazit

1. Einleitung

Der Tod ist Teil des Lebens. Jeder Mensch wird im Laufe seines Lebens zwangsweise mit ihm konfrontiert, sei es der eigene oder der Tod von Familienangehörigen, Freunden oder des Lebenspartners. Wir Menschen müssen uns dieser Thematik stellen, wenngleich es eine sehr emotionale und traurige ist. Die Motivation, freiwillig zu sterben, kann sehr unterschiedlich und scheint von Dritten oft nicht nachvollziehbar zu sein. Doch neben den Fragen, warum ein Mensch seine eigene Existenz auslöscht, wer die Schuld trägt und ob man es hätte verhindern können, ist zu klären, ob der Mensch die Freiheit hat und haben darf, sich umzubringen. Freilich wird der Verfasser diese Frage nicht abschließend klären können, jedoch sollen Ambivalenzen in der Freiheit zum Suizid aufgezeigt werden. Dazu werden als Grundlage zunächst Begriffe bezüglich des Suizids voneinander abgegrenzt und definiert. Anschließend soll der Suizid als existenzielles Problem historisch aufgearbeitet werden. Dabei soll veranschaulicht werden, unter welchen Lebensumständen die Menschen in Zentral-Europa von der Antike bis heute gelebt haben und wie der Suizid philosophisch und gesellschaftlich bewertet wurde. Dieser Rückblick soll in der Darstellung der rechtlichen und politischen Situation heute in Deutschland enden. Um zu klären, wie frei ein Mensch bei der Entscheidung zum Suizid sein kann, sollen weiter soziologische, biologische und psychologische Einflussgrößen aufgezeigt werden. Danach werden die bisherigen Ergebnisse in einem Zwischenfazit zusammengefasst und hinsichtlich etwaiger Ambivalenzen der Freiheit im Suizid durch den Verfasser weitergedacht. Wie die Polizei in Deutschland mit Suizidenten umgeht und wie sie es begründet, soll abschließend aufgezeigt werden.[1]

2. Begriffsklärung

2.1 Die Herkunft verschiedener Suizidbegriffe

Auf den ersten Blick haben die Begriffe Suizid, Selbstmord, Selbsttötung, Freitod und Opfertod dieselbe Bedeutung, nämlich das Beenden der eigenen Existenz durch eine selbst ausgeführte, zum Tode führende Handlung. Die Wortwahl bei der Benennung des Phänomens ist jedoch sprechend, denn die unterschiedlichen Begriffe stehen in geschichtlichem Kontext und sind unterschiedlich konnotiert.[2]

Wie der moralisierende Begriff „Selbstmord“ schon zeigt, verbindet dieser den Tod mit einem Verbrechen an sich selbst. Der Begriff ist mit dem sog. „Augustin-Verbot“ des spätrömischen Reiches verknüpft. Augustinus von Hippo (354–430 n. Chr.) war ein lateinischer Kirchenlehrer in der Spätantike und gilt als bedeutender und einflussreicher Philosoph, insbesondere in dem Epochenwechsel zwischen Antike und Mittelalter. Seine Philosophie wurde durch den christlichen Glauben stark geprägt und seine Schriften beeinflussten das Denken des Abendlandes. So unterstützten seine Veröffentlichungen den Glauben, die Selbsttötung sei eine Sünde gegen die Gebote Gottes. Wir Menschen besäßen als Ebenbilder Gottes nicht das Recht, das von ihm gegebene Leben zu beenden.[3]

Der Terminus „Freitod“ steht für das individuelle Recht des Einzelnen, über die Existenz selbst und frei von gesellschaftlichen Zwängen entscheiden zu können. Dieser liberale Pathos wurde insbesondere durch Cato geprägt. Marcus Porcius Cato Uticensis (95–46 v.Chr.) war Senator und Feldherr und galt als politischer Gegner von Gaius Julius Caesar. Nachdem dieser jedoch den römischen Bürgerkrieg (49–45 v.Chr.) für sich gewinnen konnte, nahm Cato sich das Leben, um die „cäsarische Diktatur nicht erdulden zu müssen“[4]. Diese Entscheidung steht exemplarisch für die Ansicht, dass Freiheit als höchstes Gut über dem eigenen Leben steht.

Die neutral gehaltene Bezeichnung Suizid stammt von dem lateinischen „suicidium“ und ist dem medizinischen Register zuzuordnen. Um das dahinter liegende Thema wissenschaftlich bewerten zu können, bedarf es eines wertneutralen Begriffs. Dazu schafft der Suizid eine „sachlich objektivierende Distanz“[5], aus welcher der Einzelfall auf pathologische Elemente geprüft werden muss.

Der Begriff „Selbsttötung“ wird trotz der beinhalteten strafbaren Handlung einer Tötung als eher deskriptiv bewertet. Er setzte sich sowohl im Sprachgebrauch als auch in der Wissenschaft bislang nicht durch.[6]

Der ‚Opfertod‘ beschreibt ein „Sich-Opfern für einen anderen Menschen oder eine Gemeinschaft, für eine Idee, Ideologie oder einen Glaubensinhalt“.[7] Damit wird er deutlich von den bisherigen vier Begriffen abgegrenzt, denn die Entscheidung zu sterben wird hier nicht als „letzter oder bester Ausweg“[8] angesehen und dient somit nicht sich selbst, sondern stellt eine notwendige Tat für eine andere Sache oder Person dar.[9]

Im Folgenden soll sich der inhaltlichen Bedeutung eines Suizids oder suizidalen Verhaltens angenähert werden.

2.2 Eine inhaltliche Annäherung an den Begriff Suizid

Als suizidale Verhaltensweise definiert der britische Psychiater Erwin Stengel 1964 eine „auf einen kurzen Zeitraum begrenze absichtliche Selbstschädigung, von der der Betreffende, der diese Handlung begeht, nicht wissen konnte, ob er sie überleben wird oder nicht.“[10]

Der britische Forscher und Psychiater Norman Kreitman bezeichnet einen Suizidversuch als ‚Parasuizid‘ und definiert diesen wie folgt: „Ein selbstinitiiertes, gewolltes Verhalten eines Patienten, der sich verletzt oder eine Substanz in einer Menge nimmt, die die therapeutische Dosis oder ein gewöhnliches Konsumniveau übersteigt und von welcher er glaubt, sie sei pharmakologisch wirksam.“[11] Diese Definition ist dem Wissenschaftsgebiet der Medizin zuzuordnen und beschränkt sich auf Personen, die sich in ärztlicher Behandlung befinden. Allerdings wird im Vergleich zu der Definition von suizidalem Verhalten der elementare Unterschied in der Absicht der betreffenden Person deutlich. Nach der Definition von Stengel wird suizidales Verhalten dadurch gekennzeichnet, dass es gegen sich selbst gerichtet ist und der Ausgang unbekannt ist. Der Betreffende würde den Suizid zwar in Kauf nehmen, zielt jedoch nicht mit letzter Konsequenz darauf ab. Bei einem Suizidversuch hingegen wird nach Kreitman der Tod beabsichtigt und angestrebt. Der Grund weswegen es nicht zu einem Suizid kommt, bleibt nach Definition offen.[12]

Aus diesen beiden Definitionen schlussfolgert Thomas Bronisch, ein wissenschaftlicher Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München, dass ein Suizid „ein zum Tod führender Suizidversuch ist.“[13] Diese Definition klingt zunächst nach einem Zirkelschluss, jedoch ist zu betonen, dass ein selbstschädigendes Verhalten nicht zwangsweise zu dem beabsichtigten Tod der Person führen muss.[14]

Bronisch stellt zusätzlich drei Indikatoren auf, die einen Suizidversuch in ihrer Ernsthaftigkeit bewerten sollen. Zum einen stellt sich die Frage, wie ausgeprägt der Wunsch nach dem Tod ist (Suizidintention), zum anderen inwiefern der Betroffene das rasche Auffinden nach einem Suizidversuch ermöglicht (Suizidarrangement) und zuletzt, wie wahrscheinlich der tödliche Ausgang des Suizids ist (Suizidmethode).[15]

2.3 Formen der Sterbehilfe

Um den Suizid realisieren zu können, benötigen die Betreffenden oft Hilfe aus der Familie, von Freunden oder gar durch Organisationen, die Menschen auf ihrem Sterbeweg begleiten. Um im späteren Verlauf die Möglichkeiten und Grenzen der Sterbehilfe in Deutschland aufzeigen zu können, sollen die verschiedenen Varianten nun erklärt werden.

Man unterscheidet zwischen drei verschiedenen Arten der Sterbehilfe, die jeweils ethisch und rechtlich verschiedenartig bewertet werden. Voraussetzung für alle Formen ist der Wunsch des Betreffenden, zu sterben.

Die direkte aktive Sterbehilfe bezeichnet einen Eingriff in das Leben oder den Sterbeprozess eines Dritten auf dessen Wunsch. Der Eingriff führt unmittelbar zum Tod des Betroffenen. Diese Tötung auf Verlangen steht in Deutschland unter Strafe (§216 StGB). Der Unterschied zum Totschlag (§212) StGB liegt in der Einwilligung des Getöteten.[16]

Die indirekte aktive Sterbehilfe beschreibt einen ähnlichen Eingriff, der zwar nicht tödlich, jedoch lebensverkürzend wirkt. Dies ist oft bei schmerzlindernden Medikamenten der Fall, die einem Patienten verabreicht werden. Insofern die Verabreichung des Medikaments geboten ist, also die Rechtsgüter nicht in einem erheblichen Missverhältnis stehen, so ist die Handlung straffrei.[17]

Unterlässt man lebenserhaltende Maßnahmen, so spricht man von passiver Sterbehilfe. Es ist jedoch im Einzelfall zu prüfen, ob die unterlassene Handlung durch ein aktives Tun geschah. In solchen Fällen ist der Grat zu einer strafbaren direkten aktiven Sterbehilfe schmal. Die rechtliche und ethische Gebotenheit der Handlung ist hier für die Einordnung entscheidend. Eine Handlung ist im juristischen Sinne immer dann geboten, wenn die Rechtsgüter nicht in einem erheblichen Missverhältnis stehen.[18]

2.4 Die Freiheit des Menschen als Grundrecht

Die Bedeutung des Freiheitsbegriffs ist in verschiedenen Kontexten variabel. Betrachtet man die Handlungsfreiheit, so erkennt man schnell die verschiedenen Freiheitsmomente, die auf den Menschen einwirken können: einerseits den der Handlung zugrunde liegenden freien Willen beim Entscheidungsprozess sowie bei der Durchführung einer Handlung, andererseits das Freibleiben von äußeren Zwängen, also eine relative Freiheit, die bei Einflüssen durch die Gesellschaft deutlich wird. Diese zwei Arten von Freiheit werden zunächst in die ‚innere‘ und ‚äußere‘ Freiheit unterteilt, wobei die innere Freiheit das Fernbleiben von Zwängen wie Trieben meint und äußere Freiheit eine soziale Größe darstellt.[19]

Seinen Willen frei bestimmen und durchsetzen zu können tangiert auch den Begriff der Autonomie und hat folglich etwas mit Selbstverwirklichung zutun. Nun soll verfassungsrechtlich aufgezeigt werden, welche Freiheitsrechte dem Einzelnen in Deutschland zugeteilt werden.

Die Freiheit des Menschen ist im zweiten Artikel des deutschen Grundgesetzes niedergeschrieben. Er unterteilt sich in zwei Paragraphen. Der erste regelt die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Zu dieser zählt die allgemeine Handlungsfreiheit, das allgemeine Persönlichkeitsrecht und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Der zweite Paragraph beinhaltet das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie die Bewegungsfreiheit.

Das Persönlichkeitsrecht umfasst unter anderem das Recht auf Selbstbestimmung. Es ist von elementarer Bedeutung für die eigene Persönlichkeit, dass Menschen über sich selbst frei und ohne Vorgaben bestimmen können. Fraglich und noch zu klären ist hier, ob damit die Art und Weise des Lebens oder auch das Bestimmen über die Dauer des eigenen Lebens – und damit auch über den Tod – geschützt wird.[20]

Das Recht auf Leben ist zugleich ein Abwehrrecht, welches dem Menschen Schutz vor Eingriffen bietet. Im Gegensatz zu der generellen Struktur der Freiheitsrechte, welche eine Person nicht verpflichten ihre Freiheit auszuleben, ist die freie Entscheidung auf das eigene Leben zu verzichten jedoch verfassungsrechtlich und ethisch zu untersuchen. Seit der Einführung des Strafgesetzbuches 1871 ist der freiverantwortliche Tod oder dessen Versuch zumindest nicht strafbar.[21]

3. Philosophische Ideen über den Suizid als historische Skizze

(bezieht sich auf Kontinental-Europa)

3.1 Die Antike – griechische und römische Philosophie

Bei der Darstellung der Antike wird auf das Lehrbuch „Antike“ von Eckhard Wirbelauer zurückgegriffen.[22]

Das europäische Zeitalter der Antike ist vor allem durch die großen Reiche und das Wirken der Griechen, Perser und Römer geprägt. Der Beginn der Epoche wird auf etwa 800 v. Chr. datiert und ihre Zeitspanne erstreckt sich bis ins 4. Jahrhundert nach Christus. Die Antike hat die heutige westeuropäische Kultur bereits stark geprägt, da in diesem Zeitraum das Christentum aufkam, seit 313 n.Chr. sogar Staatsreligion im römischen Reich wurde und seither kontinuierlich verbreitet wurde. Außerdem wurden verschiedene Herrschaftsformen, unter anderem auch erste Formen der Demokratie oder Republik erstmalig erprobt. An antike Künste und Philosophie wurde noch in der Neuzeit stark angeknüpft.

In der Antike wurde der Suizid bereits kontrovers diskutiert. Auf der einen Seite stellten lyrische, epische oder dramatische Texte sowie tragische Theaterstücke den frei gewählten Tod positiv dar. Insbesondere Suizidenten, die dem Tod mit dem Motiv der Ehre entgegentraten wurden in Sagen als Helden verehrt. Der griechische Philosoph Hegesias (um 300 v. Chr.) verbreitete seine pessimistische Lebenseinstellung durch Vorträge so überzeugend, dass er in Ägypten seitens der Herrschaft ein Verbot ausgesprochen bekam, seine Lehre zu verbreiten.[23] Auf der anderen Seite standen bedeutende griechische Philosophen wie Pythagoras (570–495 v.Chr.) oder Platon (428–348 v.Chr.) aus moralisch-religiösen Gründen nicht für den Suizid ein. Für Platon können zwar Entwürdigungen und unerträgliches Maß an Leid und Schmerz den Tod als Notlösung begründen, grundsätzlich distanziert er sich jedoch in seiner Philosophie von einer Legitimation des Suizids. Vor allem in Platons letztem Dialog „Gesetze“ wird dies deutlich, wenn er den Suizid als „unmännliche Feigheit“[24], der einer „Energielosigkeit“[25] zu Grunde liegt, bezeichnet. Das Beenden des eigenen Lebens sei eine widerrechtliche Strafe gegen sich selbst und eine unerträgliche Schande des Menschen.[26] Noch deutlicher wird dieses Urteil über Suizidenten in den Schriften von Aristoteles, einer der Schüler Platons. Dieser setzt den Suizidenten mit einem Kriminellen gleich, indem er schreibt, dass beide dieselbe Art der Ehrlosigkeit überkommt.[27] Nach Aristoteles soll der erwachsene Mensch seine Kräfte für das Fortleben der Bürgerschaft einsetzen. Auch in der stoischen Welterfassung wird der Suizid abgelehnt, wenngleich ein persönlicher Entscheidungsspielraum bemessen wird. So argumentiert der römische Philosoph Cicero (106–43 v.Chr.), dass das unnatürliche Sterben nur auf Gottes Befehl hin legitim sei. Damit meint Cicero den in uns regierenden Gott, welcher sich letztlich in einer Empfindung äußert.[28] Die Motivation zum Suizid entspringt also einer unabänderlichen charakterlichen Anlage, weswegen die entsprechenden Personen vor Gott nicht bestraft werden würden. Auch der christliche Glaube lehrte die Menschen ein Verbot des Mordes, auch an sich selbst, da es ein Verbrechen gegen Gott sei. Das Denken des Abendlandes stützt sich unter anderem auf Augustinus theologischen Schriften, die wesentlich vom christlichen Glauben geprägt wurden.[29]

Als sehr bedeutend gilt auch der bereits beschriebene Freitod des Cato (46 v.Chr.), welcher die Sichtweise der Zeit auf den Suizid geprägt haben mag. Viele Philosophen der nachfolgenden Epochen nahmen zudem Bezug auf seinen Tod, um ihre eigenen Sichtweisen zu dem moralischen Thema Suizid zu veranschaulichen. Die ihm zugrunde liegende Motivation ist jedoch umstritten, weswegen sie kurz kontrovers dargestellt wird:

Sein Sterben steht für die republikanische Gesinnung der Freiheit. Es ist jedoch widersprüchlich, dass Cato unmittelbar vor seinem Suizid den von Platon geschriebenen Phaidon [der Überlieferung nach] zweimal gewissenhaft gelesen haben soll. Der Phaidon gibt den Dialog Platons mit seinem Lehrer Sokrates (469–399 v.Chr.) wieder, kurz bevor dieser die ihm auferlegte Todesstrafe antritt. In diesem erklärt Sokrates seinen Schülern, warum er der Todesstrafe entspannt gegenübertrete und keine Flucht- oder Klageversuch tätigte. Der Grund hierfür ist der Glaube, der Geist verlasse nach dem Tod den Körper und könne die reine Wahrheit über das Leben erkennen. Die Unvernunft des Leibes stünde dem lediglich im Wege und der von Gott gewählte Todeszeitpunkt sei göttliche Vorhersehung, der man nicht entgegenstehen dürfe.[30]

Geht man nun davon aus, Cato starb aufgrund einer Inspiration durch diese Schrift, so steht dieser Tod nicht für Individualismus sondern vielmehr für das „egoistische“ Bedürfnis, die höhere Welt der Ideen zu erreichen.[31] Somit ist die eigentliche Motivation Catos letztendlich nicht zu klären – die die Freiheit betonende Wirkung im Volk bleibt jedoch bestehen.

Zusammenfassend ist es wichtig festzuhalten, dass der Suizid in der Antike sowohl durch die griechische als auch die römische Philosophie abgelehnt wurde. Die Argumentation des Verbots war jedoch nicht immer konsequent; so schien es Ausnahmefälle zu geben, in denen die Selbsttötung auf Grund bestimmte Umstände nachzuvollziehen war. Zudem gab es vereinzelnd auch Meinungen, die den Tod als Ausdruck der Freiheit bereits liberalisierten.

3.2 Mittelalter – Aquin, Dante und Montaigne

Quelle der nachfolgenden Darstellung der Epoche ist ein Lehrbuch des Mittelalters.[32]

Das Mittelalter erstreckt sich über einen sehr langen Zeitraum. Das, die Antike ablösende, Zeitalter beginnt im vierten Jahrhundert nach Christi. Als auslösendes Ereignis wird heute der Untergang des weströmischen Reiches 476 n.Chr. gesehen. Das Ende des Mittelalters wird durch die Entdeckung Amerikas 1492 und verschiedener Reformationen ab etwa 1517 gekennzeichnet. Dieses lange Zeitalter erhält seinen Namen erst rückblickend und wird oft als „dunkles Zeitalter“ gekennzeichnet, in dem nur wenige neue geistige Ströme entstanden sind. Im Mittelalter entstanden neue große Reiche wie z.B. das Frankenreich, welches geographisch auch das heutige Deutschland umfasste. Wesentliche Merkmale sind zudem die weitere Christianisierung, insbesondere seit der Taufe des fränkischen Königs Chlodwigs 496 n.Chr., sowie die Bildung des Islams 622 n.Chr.. Könige und Kaiser standen zusammen mit dem Adel und der hohen Geistlichkeit an der Spitze der Ständegesellschaft und übten einen großen Einfluss auf die Bevölkerung aus. Durch die Ständegesellschaft wurden Menschen schon bei ihrer Geburt ein gesellschaftlicher Rang zugeteilt, welcher ihnen Rechte, Pflichten und ein vorgegebenes Maß an Anerkennung zuteilte. Die meisten Menschen waren und blieben Bauern, die keinen Zugang zu Bildung hatten und ihr Leben der Arbeit widmen mussten. Das vorrangige Wirtschaftssystem des Mittelalters war der Feudalismus.

Das mangelnde Bildungsangebot und der Kampf um die eigene Existenz führten dazu, dass sich die meisten Menschen nicht mit philosophischen, moralischen oder die Psyche behandelnden Schriften auseinandersetzten. Der Buchdruck wurde erst im 15. Jahrhundert durch Johannes Gutenberg modernisiert, weswegen sich die kostengünstige und schnelle Verbreitung von Schriften vorher schwierig gestaltete. Wissenschaftliche Lektüre und andere Bücher befanden sich vor allem in Klosterbibliotheken, sodass Mönche zu den gebildetsten Menschen jener Zeit gehörten. Die Kirche übte eine große Macht aus und formte ethisch-moralische Regeln für die Gesellschaft, wie etwa die Beachtung der zehn Gebote. Das fünfte Gebot, nicht töten zu dürfen, wurde weiterhin auch auf die eigene Existenz bezogen.

Es wurde also grundsätzlich auf die Ideen der Antike zurückgegriffen, wobei die Begründungen sich eher auf das Christentum stützten. Das rein dogmatische Verbot der Tötung auch seiner selbst, welches Augustinus in den Vordergrund stellte, wurde mit der Zeit im Christentum jedoch um einen naturrechtlichen Gedanken erweitert. Dieser verbot den Suizid auf Basis der aristotelischen Philosophie, da es gegen die Natur des Menschen verstoße, sein Leben zu beenden. Jener Gedanke ist von dem Ideal geprägt, sein Leben möglichst maßvoll zu gestalten.[33] Durch diese Ergänzung brauchten die Anhänger des Christentums auch keine Konkurrenz durch heidnische Philosophie zu befürchten.[34] Thomas von Aquin (1225-1274) gilt als ein einflussreicher christlicher Philosoph, welcher letztlich drei Gründe für den Verbot des Suizids zusammenfasst: Erstens das Verbot, wider der göttlichen Bestimmung zu handeln, zweitens der naturrechtliche Trieb der Selbsterhaltung und drittens das durch den Suizid ausgeübte sozialethische Verbrechen an der Gemeinschaft.[35]

Auf Basis dieser Philosophie stellte die Kirche Regeln auf, deren Missachtung Konsequenzen hatte. So wurden Suizidenten bis ins frühe 20. Jahrhundert die Bestattung auf einem Friedhof im christlichen (als auch im jüdischen) Glauben untersagt. Stattdessen wurden die Leichen in einer ungeweihten Erde begraben (das sog. Eselsbegräbnis).[36]

Der italienische Dichter und Philosoph Dante Alighieri (1265-1321 n.Chr.) sowie der französische Politiker und Philosoph Michel de Montaigne (1533-1592 n.Chr.) gelten für das Mittelalter und die Kulturepoche der Renaissance am Ende des Mittelalters (15.-16. Jahrhundert) ebenfalls als bedeutsame Philosophen. Beide greifen in ihrer Bewertung des Suizids auf Cato zurück, kommen jedoch zu unterschiedlichen Schlüssen:

Dante sieht in dem Suizid Catos eine konsequente Hingabe zur Freiheit, welche aller Ehren wert sei. Catos Todeswunsch basiere demnach nicht auf aktivem Mutwillen, sondern auf einer an den Gedanken der Freiheit anknüpfenden Passivität, die für die irdische Freiheit einstehe.[37] Dieser Suizid hat Dantes Bild von Suizidenten geprägt; er bewertet den Suizid ganz nach dem christlichen Glauben zwar als ein Gewaltverbrechen an sich selbst, ordnet Suizidenten jedoch in einer Hierarchie der Hölle, bei der ein Platz weit oben weniger schlimm ist als unten, an höchster Stelle ein.[38]

Anders als Dante bemängelt Montaigne, dass das nötige Maß an Gelassenheit, welches bei dem Tod Sokrates zu finden sei, bei Catos Tod fehle. Die Art und Weise, wie er seine Eingeweide zerfetzte, beweise die Furcht und den Schrecken in seiner Seele, sodass sein Tod kein Akt der Freiheit gewesen sein kann.[39] Obwohl Montaigne den Ruf eines Kritikers inne hat, der schon zu seiner Zeit wie kaum ein zweiter für das Verfügungsrecht des Individuums über das eigene Leben einstand, bezweifelt er, dass der Mensch, welcher den freien Tod wählt, plötzliche Lebenswandlungen vorauszusehen vermag. Das Meinungsbild unterläge vielmehr Schwankungen, sodass die Fähigkeit einer nüchternen Betrachtungsweise eingeschränkt werde. Er kommt zu dem Schluss, dass ein Gremium weiser Menschen über den Wunsch des Todes im Einzelfall entscheiden sollte. Dies stellt einen Anspruch an Staat und Kirche dar, den Tod nicht hinzunehmen sondern das freie Sterben normativ zu zügeln.[40]

3.3 Die Neuzeit – Kant, Hume und Schopenhauer

Nachfolgend wird Bezug auf ein Lehrbuch zur Neuzeit von Andreas Wirsching genommen.[41]

Die Neuzeit, deren Beginn um 1500 angesetzt wird, war geprägt von vielen historischen Ereignissen und die damit einhergehenden Veränderungen in der Gesellschaft. Die Erfindung der Dampfmaschine 1769 n.Chr. gilt als Beginn der Industrialisierung und der damit verbundenen Technisierung. Dieser Durchbruch ermöglichte einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung, war jedoch auch verantwortlich für das Aufkommen der sozialen Frage. Die Ständegesellschaft zerbrach und entwickelte sich zur Klassengesellschaft, das Bildungsangebot wuchs und die Französische Revolution 1789 n.Chr. verbreitete die Denkweise der Aufklärung. Der Mensch und die Wissenschaft rücken in den Mittelpunkt, die Religion und Gott verlieren an Bedeutung. Die moralische, philosophische Einordnung des Suizids durch drei wichtige Denker dieser Zeit, Kant, Hume und Schopenhauer, soll kurz dargestellt werden.

David Hume (1711-1776) war ein schottischer Philosoph und Ökonom, der einen wesentlichen Beitrag zur schottischen bzw. britischen Aufklärung leistete. Seine Denkweise verbreitete sich außerdem in Europa und Amerika. Insbesondere Humes Essay „On Suicide“, welches Hume absichtlich erst nach seinem Tod veröffentlichen ließ, beeinflusste die moralische Einordnung des Suizids in der Gesellschaft.[42]

Hume liefert mit seinem Essay eine alternative Betrachtungsweise zu den Rechten und Pflichten des Menschen als göttliche Schöpfung und weicht damit von dem Verbot, selbst Hand an sich legen zu dürfen, wie er insbesondere durch Augustinus und Aquin im christlichen Glauben vermittelt wurde, ab. Nach Hume wird jeder Mensch von Gott mit Vernunft und einem gesunden Menschenverstand ausgestattet, weswegen er die Fähigkeit besitzt, sich frei für den Suizid entscheiden zu können. Deswegen kann der Suizid weder ein Verstoß gegen das von Gott geschenkte Leben, noch den natürlichen Überlebenstrieb des Menschen sein oder gar ein Verbrechen gegen die Gesellschaft darstellen. Die göttliche Vorhersehung setzt Hume systematisch mit einer Ordnung der Natur gleich. Jede menschliche Handlung entspringt daher einer natürlichen Motivation, die gleichzeitig auch so von Gott gewollt ist. Das führt dazu, dass der Wille Gottes in jeder Situation berücksichtigt wird, in dem der Mensch sein eigenes Leben frei gestaltet.[43]

[...]


[1] Auch wenn der Verfasser grundsätzlich das generische Maskulinum verwendet, sind selbstredend immer beide Geschlechter gemeint.

[2] Bormuth, Matthias: Ambivalenz der Freiheit – Suizidales Denken im 20.Jahrhundert (2009), Wallstein Verlag Göttingen, S.9

[3] vgl. ebd.S.9-10

[4] ebd. S.9

[5] ebd.

[6] vgl. Bormuth, S.9

[7] Bronisch, Thomas: Der Suizid – Ursachen, Warnsignale, Prävention (2015), 6. Auflage, C.H.Beck Wissen, S.14

[8] ebd.

[9] vgl. ebd. S.14

[10] ebd. S.11

[11] ebd. S.13

[12] vgl. Bronisch, S.14

[13] ebd. S.14

[14] vgl. ebd.

[15] ebd. S.15

[16] vgl. Marckmann, G., Sandberger, G., Wiesing, U.: Begrenzung lebenserhaltender Maßnahmen – Eine Handreichung für die Praxis auf der Grundlage der aktuellen Gesetzgebung (2009), Institut für Ethik und Geschichte der Medizin und Juristische Fakultät, Universität Tübingen, S.2-3

[17] vgl. ebd.

[18] vgl. ebd.

[19] Keil, Geert: Willensfreiheit und Determinismus.(2009), Reclam, Stuttgart, S.98

[20] vgl. Di Fabio: Grundgesetz-Kommentar Art.2 GG (2015), 74. EL, Maunz/Dürig, S.21-23

[21] vgl. ebd.

[22] Wirbelauer, Eckhard: Antike (2010), 3. Auflage, R. Oldenbourg Verlag, München

[23] Döring, Klaus: Hegesias. In: Flashar, Hellmut (Hrsg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike.(1998), Band 2/1, Schwabe, Basel, S.257-258

[24] Bormuth, S.25

[25] ebd.

[26] vgl. ebd. S.25-26

[27] ebd.

[28] vgl. Bormuth, S.25-26

[29] vgl. ebd. S.28-30

[30] vgl. ebd. S.24-25

[31] ebd. S.24

[32] Meinhardt, Matthias, Ranft, Andreas, Selzer, Stephan: Mittelalter (2009), 2. Auflage, R. Oldenbourg Verlag, München

[33] vgl. Bormuth, S.33

[34] ebd.

[35] ebd.

[36] vgl. Geiger, Paul: Die Behandlung der Selbstmörder im deutschen Brauch.(1926) In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde.(1926), Friedrich Reinhardt AG, CH-Basel, S. 145–170.

[37] Bormuth, S.34

[38] vgl. ebd., S.34-35

[39] ebd. S.34

[40] vgl. ebd. S.34-35

[41] Wirsching, Andreas: Neuste Zeit (2009), 2. Auflage, R. Oldenbourg Verlag, München

[42] vgl. Bormuth, S.37-38

[43] vgl. Bormuth, S.38-39

Ende der Leseprobe aus 49 Seiten

Details

Titel
Die Freiheit zu sterben?
Untertitel
Eine multiperspektivische Erörterung zum Thema Suizid mit Bezug auf die Geschichte, Kausalität und Recht
Hochschule
Fachhochschule für öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen; Köln
Note
1,3
Autor
Jahr
2016
Seiten
49
Katalognummer
V370267
ISBN (eBook)
9783668477292
ISBN (Buch)
9783668477308
Dateigröße
717 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Suizid, Selbstmord, Freitod, Philosophie, Ethik, Sterben, Sterbehilfe, Grundrechte, Würde, Polizei, Freiheit, Moral, Geist, Krankheit, Werte, Immanuel Kant, Rechtsprechung
Arbeit zitieren
Christoph Schmitz (Autor:in), 2016, Die Freiheit zu sterben?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/370267

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