Soziale Infarkte in der Richtlinien-Psychotherapie


Studienarbeit, 2017

23 Seiten


Leseprobe

Inhalt

Was ist ein sozialer Infarkt?

Fallbeispiel

Globalisierungstendenzen und ihr Einfluss auf soziale Infarkte

Gesundheitspolitische Modifizierungen und Lösungsansätze

Können niedergelassene Psychotherapeuten Patienten mit sozialen Infarkten überhaupt helfen?

Besonderheiten des SI auf der Ebene des Arbeitsbündnisses

Besonderheiten des SI – therapeutisch-psychodynamische Faktoren

Literatur

Danksagung

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

In der ambulanten Praxis werden Therapeuten mit sozialen Brandherden konfrontiert, die weit über ihre Routinen hinausgehen. Die Patienten durchkreuzen die normale Anamnese, indem sie von Notlagen berichten, welche sich wechselseitig rasch aufschaukeln und viele Lebensbereiche betreffen können. Ihre Erschöpfung fördert zudem weitere Schadensereignisse. Es besteht zuweilen der Wunsch nach Freitod.

Der Psychotherapeut befindet sich meist umgehend in einer Notidentifikation, ist mit eigener Angst, Orientierungs-und Kompetenzlücken konfrontiert. In dem Aufsatz wir davon ausgegangen, dass dieser neue Typ psychosozialer Krisen für die Zukunft stärkere Bedeutung haben wird. Es werden wirtschaftspolitische und gesundheitspolitische Trends beleuchtet. Der Autor stellt Fallvignetten vor. Die Besonderheiten für das Arbeitsbündnis werden erörtert, die Psychodynamik der Notidentifikation reflektiert und tiefenpsychologische Methodiken vorgestellt.

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While treating outpatients, psychotherapists are confronted with social trouble spots exceeding their routines by far. Patients cross a normal anamnesis reporting situations of emergency which can rapidly influence one another, leading to an escalation of these situations and affecting many fields of life. Moreover, the patients’ exhaustion promotes further cases of damage. Sometimes there is the wish to commit suicide.

In most cases, psychotherapists find themselves immediately in a state of predicament identification, are confronted with their own anxieties, with orientation and competence gaps. In the paper it is assumed that this new type of psychosocial crises will be more important in the future. Trends in terms of economic policy and public health policy are examined. The author presents case examples. Particularities regarding the working relationship in therapy are discussed, the psychodynamic of predicament identification is reflected on and methods of depth psychology are described.

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En sia praktikado, psikoterapiistoj povas esti ekkonfrontataj kun problemaro da urĝa mizeriĝo, kiu tropostulas ilian rutinon. Pacientoj preteriras normalan anamnezon, raportante krizajn situaciojn kiuj subite povas influi alterne, kies incitado evoluas al eskalado de multaj sferoj de la vivo. Krome, la elĉerpiĝo de la pacientoj provokas sekundarajn eventojn de damaĝo. Fojfoje iĝas la deziro suicidi.

Psikoterapiistoj troviĝas senpere en stato de deviga identifikeco, tuŝitaj de sia propra timeblo, de manko da orientiĝo kaj kompetento. La studo konjektas, ke tiu tipo nova de eskala psikosocia krizo gajnos gravecon en futuro. Tendencoj en ekonomia politiko kaj sanitara servo estas prilumataj. La aŭtoro prezentas kazoekzemplojn. Specifaĵoj rigardante la terapikadran aliancon inter paciento kaj terapiisto estas diskutataj, plue la psikodinamiko de deviga identifikeco estas reflektata, kaj metodoj de psikodinamika psikologio estas priskribataj.

Soziale Infarkte in der Richtlinien-Psychotherapie

So wie Staaten und Währungen aus der Normalität in die Insolvenz rutschen können, geraten in unserer dynamisierten Welt auch einzelne Menschen in Krisen, die dann ebenso „dynamisiert“ sind. Der Konkurs einzelner Unternehmen ist zwar einkalkulierter Teil des Marktes. Staaten, Währungen und Banken hingegen sind bislang nicht nur notwendige Institutionen, sondern auch starke Symbole für Beständigkeit. Sie sind in die globale Dynamisierung hinein gezogen worden. Die steigende Zahl der Freelancer, eine Erwerbsgruppe mit hoher Risikoorientierung und flexibel lösbaren Bindungen, wird in dieser Arbeit als Indikator einer Entwicklung hoher Risikoorientierung in den Fokus gestellt [24]. Der gelegentliche Kollaps von beruflich Selbstständigen steht für einen neuen Typus psychosozialer Krisen, der häufiger in den Psychotherapiepraxen auftritt und hier «soziale Infarkte (SI)» genannt wird. Doch die Frage hoher Risikoorientierung betrifft auch andere Menschen. Das Thema aktiviert zusätzlich gesellschaftliche Narrative und unbewusste Ängste, wie weiter unten ausgeführt wird. Das Thema der Arbeit zeigt sich auch in einem begleitenden Sprachwandel.

Was ist ein sozialer Infarkt?

Zum normalen Stress unseres technisierten Alltags gehört zunächst ein gelegentlicher Tempoverlust (A), z. B. beim Mithalten gegenüber technischen Innovationen, Fristdruck bei automatisch erlöschenden Zertifizierungen, Anpassungen an Rechtsänderungen usw. Bereits hier sind Menschen in einem normalen Innovationstempo, und können seelische Beschwerden entwickeln, wenn dieses normale Tempo für sie zu schnell ist. Meist kommt es dazu aber noch nicht, oder der Aktualisierungsstress ist vorübergehend.

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Abb.: Dynamik eines sozialen Infarkts: Stress (A), Funktionsverluste (B), Eskalation (C), Kollaps (D).

Aus diesem Tempoverlust entstehen erst dann erste Schäden, wenn durch einen Ausfall der eigenen Arbeitskraft Verbindlichkeiten liegen bleiben. Vor allem hinzu tretende Akutereignisse gesundheitlicher Art (Krankheit, Gewalt u. a.) oder wirtschaftlicher Art (Betrug) führen zu Funktionsverlusten (B). In einem viel höheren Tempo als in Level A können sich nun solche Funktionsausfälle wechselseitig „infizieren“ und alle Lebensbereiche akut betreffen: medizinisch, sozial, finanziell, digital und rechtlich. Gelingt es nicht, diese als “Confluence of hyperconnectivity“ bezeichnete Dynamik zu stoppen, lösen Einzelereignisse in einem labilen System Kettenreaktionen aus, bei denen ein Schaden weitere Schäden aufschaukelt. Die Dynamik kann dann innerhalb weniger Wochen oder Monate in Pan-Krisen der gesamten Person münden (C). Die betroffenen Menschen besuchen mit ihren dringenden Anliegen Spezialisten (Hausärzte, Psychologen, Coaches, Polizei, Schuldnerberater, Anwälte, Banken usw.), welche jedoch das Ausmaß der Deregulation oft nicht abfangen können. Exazerbation und Erschöpfung fördern nicht selten weitere Schadensereignisse wie Unfälle, Taschendiebstähle, Stürze usw.

Die Betroffenen rutschen dann aus der Eskalation (C) in die Dekompensation des „freien Falls“ (D), manchmal aus dem Ersten Arbeitsmarkt in einen umfassenden Versorgungsbedarf. Ein Sozialer Infarkt ist eingetreten.

Der soziale Infarkt wird schon nach wenigen Wochen ein Status der gesperrten Accounts, „nicht erreichbaren“ Geschäftspartner, blockierten Konten, Mahnbescheide, des erhöhten Geldbedarfs und der verschlossenen Türen. Gleichzeitig besteht ein hoher Handlungsdruck. Dieser neue Typ sozialer Kollapse unterscheidet sich vom Burnout dadurch, dass er noch rascher stattfindet, und mehr Lebensbereiche wechselseitig infiziert sind. Die Patienten fühlen sich meist noch subjektiv arbeitsfähig.

Der Sozialinfarkt ist möglicherweise deshalb übersehen oder unterschätzt, weil er die Mutation einer sozial akzeptierten und geforderten Lebensweise darstellt. Er betrifft besonders Menschen, bei denen die wirtschaftliche und private Existenz verschmolzen ist. Die folgenden Kapitel sollen die Frage klären, welcher neuartige Krisentyp damit in den Psychotherapie-Praxen auftritt, welche Hintergründe zentral sind, und wie Personen mit sozialen Infarkten aus der Sicht der Richtlinien-Psychotherapie unterstützt werden können.

Fallbeispiel

Fiktive Patientin, 40 Jahre alt, beschreibt sich als grundlegend neugierig und positiv, gut verdienende Freiberuflerin, führt eine offene Beziehung, kinderlos. Freundeskreis und Geschäftskontakte sind fast identisch (z. B. „Xing“). Das Einkommen ist gut wenn auch wenig planbar. Durch eine Gesetzesänderung kommt es zum Wegbrechen des Kerngeschäfts. Die Patientin reguliert zunächst durch neuen Kredit. Sie steigt im finanziellen Engpass auf den Basistarif der privaten Krankenversicherung um, der keine psychotherapeutische Behandlung mehr umfasst. Bisher ist kaum Rentenvorsorge passiert, keine medizinische Vorsorge („aus Zeitmangel“), einige verschleppte körperliche Beschwerden. Dann geschieht ein Kippen der Dynamik auf Level B der Funktionsverluste: Konzentrationsstörungen und Fehlleistungen führen zum Löschen von wichtigen Daten und Verlieren von Passwörtern, durch die Nervosität erleidet sie einen „Digitalinfarkt“ der eigenen Web-Performance und Sperrung bei bestimmten Diensten (durch Warn-Algorythmen), dadurch Terminversäumnisse und Wegbrechen wichtiger verbliebener Deals, weiterhin hohe Außenstände, die die Patientin innerlich zu ihren Gunsten „verrechnet“. Eine aufbrechende Angststörung mindert weiteres Überarbeiten, aber der Partner trennt sich (er nehme sich eine „Auszeit“, weil er die Situation insgesamt nicht aushalten könne). Die Patientin versucht es mit Selbsthilfe durch Tabletten aus dem Internet. Überlasten des Kreditrahmens, stille Überschuldung aber weiteres Geschäftsgebaren. Schwerer Treppensturz (bleibt unbehandelt), Stabilisierung durch Alkohol als Schmerz- und Schlafmittel. Dann geschieht ein Unfall, evtl. als Nebenwirkung dieser Medikamente, zwar ohne Fremdschädigung, aber in der Folge mit Führerscheinentzug. Die Pat. rutscht in eine larvierte Depression.

Der Hausarzt erkennt den Ernst der Lage und schickt die Patientin zum Sozialpsychiatrischen Dienst (SPD). Der SPD entlässt sie nach einer Beratung, da sie hoch kompetent auftritt und äußerlich funktioniert. Bei Vorfinden eines Mahnbescheides habe die Patientin dann „von jetzt auf gleich“ einen Suizidversuch unternommen, folgend Einweisung in eine psychiatrische Klinik, veranlasst durch eine Nachbarin.

Nach Entlassung aus der Klinik kommt sie zum Erstgespräch zum ambulanten Psychotherapeuten. Die Patientin ist noch medikamentös sediert. Die realen Belastungen werden nur auf Nachfrage berichtet. Sie sind völlig ungeklärt. Für die Mietwohnung ist eine Räumungsklage anhängig, weil die Patientin wegen vergessenem Onlinebanking-Passwort ihren Dauerauftrag für die Miete nicht automatisch verlängert hatte (Sie konfigurierte jährlich einen neuen Dauerauftrag wegen Staffelmiete). Ein Versäumnisurteil auf die sog. Heilungsfrist von Mietrückständen ist unbemerkt abgelaufen, da sie während des Klinikaufenthalts ihren Briefkasten nicht geleert hatte. Es droht die Zwangsräumung.[1]

Es ist schon dem Laien klar, dass sich die Depression der Patientin von der normalen Konfliktlage einer Therapiepatientin unterscheidet, die noch ein Halt gebendes soziales Umfeld hat, so dass hier keine normale Therapie möglich ist. Bevor auf die psychotherapeutische Notlage eingegangen wird, sei der Typus des Konflikts markiert.

Globalisierungstendenzen und ihr Einfluss auf soziale Infarkte

Es darf angenommen werden, dass die globale Dynamisierung und die Dynamik eines Sozialen Infarktes nicht zufällig nebeneinander zu beobachten sind. Zur Illustration sei nur ein Aspekt herausgegriffen.

Die Globalisierung hat dem Einzelnen Freiheit und Beweglichkeit ermöglicht, bei der Wahl von Anbietern, bei Geschäftsmodellen, Lebensweisen, Wohnorten u. v. a. Die traditionelle Bindung an „Haus, Hof und Vieh“ löst sich auf, allerdings schon seit über 150 Jahren mit dem Aufkommen des Kapitalismus nun betrifft sie als neue globale Tendenz aber auch die längere Bindung an einen Arbeitgeber. Freelancer sind die Avantgarde dieser Entwicklung. Gleichzeitig haben komplexere soziale Kontakte und Repräsentationen des modernen Menschen, wie Messenger, Profile, Blogs, Konten, Aktien, Netzwerke oder eine viel höhere Anzahl an Verträgen einen Aufforderungscharakter. Man muss sich um sie kümmern, meist mehrmals täglich. Sie müssen mit Updates versorgt, gewartet, gepflegt und überwacht werden, vor digitalem „Einbruch“ geschützt werden und erfordern Monitorzeit, auch ohne dass etwas Negatives passiert. In den sozial-digitalen Repräsentationen verschmelzen die persönliche Selbst-Repräsentation und die sachliche Anwesenheit als Akteur auf dem Markt oft zu einem digitalen Ich. Nicht nur von Freelancern muss für dieses digitale Ich ununterbrochen „Traffic“ evoziert werden, um im Ranking vorzukommen. Die Informationssysteme veralten zudem tausendmal schneller als früher eine traditionelle Werkstatt. Der moderne Mensch ist rastloser, freier und gebundener geworden.

Ohne es zu wollen, sind Menschen in eine Zweck-Mittel-Verkehrung geraten. War die Benutzung moderner Kommunikationstechnik einst Mittel zum Zweck, so ist sie heute tägliche Pflicht geworden, ohne dass der Einzelne schon Wert produziert hat. Genauso wenig kann er sich dem Tempo und der Dynamik entziehen, mit dem „Modernes“ zu „Wertlosem“ wird. Diese technischen Systeme haben keinen Urlaub und keine Feiertage. Sie bestimmen das Tempo.

Die Dynamik der Weltwirtschaft hat sich ebenfalls verändert, was in einer Metapher als „VUCA-World“ bezeichnet wird. Die Abkürzung steht für Volatility (Flüchtigkeit), Uncertainty (Ungewissheit), Complexity (Komplexität) und Ambiguity (Mehrdeutigkeit). Der moderne Mensch wird abhängiger sowohl von der Tuchfühlung zur wirtschaftlichen Nervosität als auch vom Funktionieren seiner technischen Basis, da sie seine Nabelschnur zum Markt und zum sozialen Leben geworden sind. Welche Diagnose vermochte diese Dynamik zu beschreiben?

In den vergangenen Jahren sind eine Reihe von Gesetzen in der Bundesrepublik Deutschland erlassen worden, die eine Wettbewerbsorientierung und Dynamisierung auch im Gesundheitswesen befördern sollen, z. B. das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz [15]. Diese begründen sich u. a. auf die seit 2000 geltende Europäische Sozialagenda im Rahmen der Lissabon-Strategie der EU, die wirtschaftsliberale Grundsätze stärker in das Gesundheitswesen einführen will, was bislang noch auf nationale Widerstände traf [08]. Der Ausbau der IGEL-Leistungen im GKV-System gehört ebenfalls in diese Tendenz.

In einer protektiven Gegentendenz gibt es neue Gesetze und Förderprogramme der Länder [14], des Bundes [06, 16] und der EU[2] mit den entsprechenden bundesdeutschen Förderprogrammen. Sie sollen die Bindekraft der Gesellschaft stärken. Die Maßnahmen dieser zweiten Gegentendenz, wie etwa des EHAP, zielen meist auf die umfassende Integration von bereits Ausgegrenzten. Im Gesundheitsbereich zielen sie auf chronisch Erkrankte.

Zwischen Fördern der schwer Integrierbaren und mehr Fordern der (Hoch)Leistungsfähigen verbleibt damit in der Gesellschaft ein luftleerer Raum. Stattdessen scheint genau in diesem Milieu unbemerkt ein psychischer Angstraum entstanden zu sein, der so vor zehn Jahren noch nicht bestand. Dafür sprechen nicht nur empirische Befunde [02, 05, 24], sondern aus tiefenpsychologischer Sicht auch eine Veränderung der Sprache, der Diskurse und der kulturellen Stereotype. Ein beherrschendes Sujet in Kunst und Games etwa ist das Hereinbrechen von Katastrophen in die „Erste Welt“ durch technische Kettenreaktionen.

Innerhalb einer Generation kam es zu einer Inflation von solchen Katastrophenszenarien in den medialen Welten. Das wiederkehrende Grundthema ist eine globale Verknappung von Ressourcen wie Wasser, und die Mobilmachung der jungen Generation für kommende Entweder-Oder-Auseinandersetzungen. Das Hereinbrechen des globalen Infarkts im Einzelnen, sei es nun durch Diktatoren, Aliens, globale Tsunamis, mutierte Roboter, geniale Irre, Sekten oder Pandemien, ist auch zentraler Inhalt vieler Videospiele. Das zentrale Narrativ medialer Drehbücher ist dann das Vernichten ganzer Bevölkerungen oder das Verhindern dieser Katastrophen durch Helden und Retter. Apokalyptische Mythen sind nichts Neues, es gibt sie seit Jahrtausenden, auffallend ist aber ihre deutliche momentane Aktivierung. Daneben ist auffallend, dass mit Kollaps assoziierte Wortbildungen einen Spitzenplatz einnehmen. So wurde 2013 in Österreich „Euro-Rettungsschirm“ Wort des Jahres, 2015 das Wort „Rettungsroutine“ in Deutschland. Dieser Sprachwandel spiegelt das gesellschaftliche Unbewusste. Im Fall des drohenden Staatsbankrotts einiger europäischer und amerikanischer Staaten musste für einen drohenden luftleeren Raum zwischen Stabilität und Kollaps in größter Eile in der Tat ein politischer Rettungsschirm erfunden werden.

Es gibt zurzeit in Europa weder ein privates Versicherungsprodukt auf dem Markt, noch ein sozialstaatliches Regulatorium für soziale Infarkte des Einzelnen, analog zum „Rettungsschirm“ für Staatsbankrotte. Es liegt aber im Interesse der Gesellschaft, der Sozialhilfeträger, der Krankenkassen und der berufsständischen Vertretungen, dass Bausteine für Interventionen entstehen. Die komplexe Krise eines SI wird sozialrechtlich derzeit am ehesten mit §67 SGB XII definierbar [28].

Bislang stabile Menschen rechnen meist nicht mit einem sozialen Infarkt. Sie sind bisher nie in Kontakt mit Hilfesystemen gekommen. Diese Menschen „stranden 5 nach 12 Uhr“ in den Praxen der Hausärzte, ambulanten Psychiater oder im Bereich der Richtlinien-Psychotherapie. Viele sind in kurzer Zeit so stark destabilisiert worden, dass sie später Jahre brauchen, um sich zu erholen. Einige leiden so schwer, dass sie durch Freitod enden. Die Dunkelziffer ist unbekannt. Eine Korrelation von wirtschaftlicher Rezession und einem Ansteigen der Suizidrate kann mittlerweile als ausreichend belegt gelten [s. etwa 09, 30]. Es kann evtl. durch Modifizierungen im Leistungssystem gelingen, ein Bewusstsein für das Krisenszenarium eines sozialen Infarkts zu schaffen und Folgeschäden besser abzufangen. Ein Kennzeichen sozialer Infarkte ist leider, dass sie keinen Ansatzpunkt für Prävention anbieten.

Die Risikogruppe hat gerade das Spezifikum, dass sie auf Stufe A des Tempoverlustes keine Symptomneurosen entwickelt, und dass damit keine Warnung passiert. Sie nehmen durch eine hohe Autonomie auch ein stabiles Selbst wahr “wie immer“. Umso belastender ist dann die Dekompensation. Das erklärt die hohe Suizidgefahr.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb: Risikofaktoren gesunder Menschen für soziale Infarkte

Im Grunde markieren die beschriebenen Pan-Krisen eine „Volkskrankheit“ sehr agiler und zu isolierter Menschen. Es verwundert nicht, dass sich bisher kein privater Anbieter findet, der für soziale Infarkte ein Versicherungsprodukt auf den Markt bringt.

Weder Versicherungsprodukte noch die Psychotherapie können schwindende gesellschaftliche und menschliche Bindungen ersetzen, v. a. nicht die Bindungskraft des Faktors Vertrauen [22]. Sie ersetzen nicht das Prinzip, in der Not nachsichtig behandelt zu werden, nicht den Generationenvertrag und nicht das Solidarprinzip.

[...]

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Soziale Infarkte in der Richtlinien-Psychotherapie
Veranstaltung
Offenes Forum Psychotherapie 2017/2018
Autor
Jahr
2017
Seiten
23
Katalognummer
V380490
ISBN (eBook)
9783668569140
ISBN (Buch)
9783668569157
Dateigröße
689 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Krisenintervention, Psychotherapie Tiefenpsychologische Therapie
Arbeit zitieren
Torsten Bendias (Autor:in), 2017, Soziale Infarkte in der Richtlinien-Psychotherapie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/380490

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