Dieses Referat beschäftigt sich mit der Frage, wie die Differenzierung in heterogenen Gruppen gelingt. Um zu erklären, wie die Differenzierung im Deutschunterricht in der Sekundarstufe I gelingt, werden für stark heterogene Klassen, sieben Positionen dargelegt, begründet und ausführlich erläutert. Diese Positionen beschäftigen sich mit der Planung und Gestaltung des Unterrichtsprozesses, dem allgemeinen Anforderungsniveau der Schüler, zusätzlichen Differenzierungsangeboten, der Wiederholung des Unterrichtstoffes, Aufgaben und Übungen sowie den unterschiedlichen Kooperationsformen (Frontalunterricht, Gruppenarbeit, individuelles Lernen) und der Förderung des bewussten und selbstständigen Lernens der Schüler.
Sabine Utheß
Differenzierung als wesentliches Element auf dem Weg der Leistungssteigerung im Deutschunterricht der Sekundarstufe I
Vor kurzem sollte ich auch einen Vortrag halten. Dafür hatte man mir das folgende Thema vorgeschlagen: Wie kann Differenzierung zugleich nach unten und nach oben gelingen? Für die Beantwortung dieser Frage bräuchte ich keine Viertelstunde, denn die Antwort lautet kurz: „Überhaupt nicht.“ Das will ich auch begründen: Beim Zusammenlegen von Schulen oder auch in einer heterogenen Klasse fragt man sich zuerst: Wo soll das allgemeine Anforderungsniveau liegen? Anforderungsniveau – das betrifft die Umfänge, Lernzeiten und Schwierigkeiten. Die am meisten gegebene Antwort lautet: allgemeines Anspruchsniveau in der Mitte (mittelschwere Anforderungen, Realschulniveau) und für starke Schüler oben etwas dazu (Richtung Gymnasialniveau), für schwache Schüler nach unten (Richtung Hauptschulniveau) werden leichtere bzw. kürzere Texte, Aufgaben und zusätzliche Hilfen angeboten. Das scheint alles erst mal sehr logisch, fast alternativlos. Bei manchen Schularten werden die Bildungspläne ähnlich strukturiert (drei in einem)
Nun schauen wir uns das aber einmal aus der Sicht der so genannten schwächeren Schüler an. Das allgemeine Anforderungsniveau liegt also meist wesentlich höher und ist in der gegebenen Zeit mit der angebotenen Übungsmenge von diesen Schülern (sagen wir mal 30 Prozent) nicht oder nur mit großen Abstrichen zu realisieren. Deshalb wird versucht, kompensatorisch für die Kinder, die mit dem allgemeinen Niveau Schwierigkeiten haben, z. B. auch einen höheren Zeitbedarf haben, „nach unten“ differenziert, werden leichtere Aufgaben, geringere Umfänge, mehr Hilfen angeboten.
Was bedeutet das? (Beispiel Lesen)
1. Die Schüler mit geringerer Lesekompetenz (weniger Automatismen in den Lesetechniken), die eigentlich einen erhöhten Bedarf an Leseumfang und Leseübung haben, lesen in der gegebenen Zeit immer weniger als das allgemein vorgesehen ist. Das führt zwangsläufig wegen der fortwährenden Unterdeckung ihres tatsächlichen Bedarfes zu einem immer größeren Abstand zum allgemeinen Anforderungsniveau, zu immer größeren Defiziten in der Lesekompetenz. Die, die eigentlich mehr üben müssten, üben tatsächlich weniger. Ihr Zurückbleiben ist vorprogrammiert.
2. Die betreffenden Schüler sind natürlich wiederum nicht in der Lage, die sich an das Lesen anschließenden Aufgaben ohne Abstriche zu lösen, so dass es auch hier – beim Sprechen und Schreiben - wiederum zum Anwachsen der Diskrepanzen zwischen Anforderungsniveau und realem Tätigsein kommt. Auch in anderen Kompetenzbereichen kommt es also zu Defiziten.
3. Solche Schüler spüren natürlich die eigenen Schwächen. Aufgaben, die man nicht bewältigt, werden auch nicht gerne getan – das geht uns allen nicht anders – Motivationsverluste, Misserfolgserlebnisse, darauf beruhende geminderte Lernbereitschaft und Minderleistungen sind die Folge – damit ist gewissermaßen der Teufelskreis geschlossen.
Um zu dem Differenzierungsansatz „Differenzierung nach unten“ zurückzukommen, lässt er sich verallgemeinernd wie folgt beschreiben:
Es wird mit dem allgemeinen Anforderungsniveau theoretisch ein kontinuierlicher Leistungsanstieg geplant, der praktisch jedoch nur von den zwei Dritteln der Schüler vollzogen werden kann, die die jeweiligen Forderungen immer zu 80 – 100 Prozent erfüllen. Die Tatsache, dass das mindestens bei einem Drittel der Schüler nicht der Fall ist, wird dabei vernachlässigt, was gesetzmäßig dazu führt, dass deren Zurückbleiben anwächst und alle Folgen nach sich zieht. Daher diese Antwort: Differenzierung nach unten gelingt eigentlich gar nicht und damit natürlich eine auch nicht die Differenzierung nach unten und nach oben.
Nun aber: Wie gelingt Differenzierung in heterogenen Gruppen?
Dazu sieben Positionen.
1. Position
Bei Planung und Gestaltung des Unterrichtsprozesses werden unterschieden: die „Basis“ als die zielführende Grundlage für das gemeinsame Lernen und die „Plusteile“ als die Zusatzangebote für das differenzierte Arbeiten.
So eifrig Sie auch sind; es ist nicht möglich alle differenzierten Lernprozesse der Schüler im Auge zu behalten und zu steuern. Didaktiker sind sich heute einig, dass es relativ leicht ist allen Kindern differenzierte Aufgaben zu geben, sie individuell unterschiedlich lernen zu lassen, nur die Steuerung der individuellen Lernprozesse liegt dann längst nicht mehr in Ihrer Hand.
Nach all unseren Erfahrungen in Erprobungen und Praxisanalysen ist es wichtig, dass Sie in einer Grobplanung die Linienführung in der Ziel-Stoff-Relation des Lehrplanes fixieren und damit auch die der Lernprogression. (Das Lehrbuch sollte sie vorgeben.) An ihr sollten Sie sich jederzeit orientieren können. Es handelt sich um das Grundmodell des gemeinsamen Unterrichts, das wir hier – nur zum besseren Verständnis - als Basis bezeichnet haben. Um das Bild eines Autos zu nehmen, sind es alle die Teile, die für ein verkehrsgerechtes Fahren erforderlich sind. (Darauf bezieht sich auch der Grundpreis des Fahrzeugs.) Die Extras, also das Tuning, die goldenen Radkappen, die Xenonscheinwerfer, die Sitzheizung sind hier nicht dabei. Und da wären wir auch schon beim Plus, jenen Komplettierungsteilen, die – u. a. für eine Differenzierung - genutzt werden können, genutzt werden können, aber nicht müssen. In der Regel ist es notwendig, dass die/der Lehrende den bedingungsadäquaten und individuellen Zuschnitt des Grundmodells vornimmt, dass sie/er Übungen in einer gegebenen Übungsfolge variiert, austauscht, erweitert, ergänzt.
Ich will es noch einmal deutlich formulieren, auch zur besseren Navigation in dem Labyrinth von Differenzierungsmaßnahmen: Es gibt da so etwas wie eine zielführende Basislinie an Aufgaben, Texten und Übungen, an der man sich immer wieder zu orientieren hat, und es gibt ein zusätzliches Differenzierungsangebot, das man nutzen kann, aber nicht nutzen muss. Das konkrete unterrichtliche Geschehen ergibt sich also in seiner Gesamtheit - vereinfacht ausgedrückt - aus der Umsetzung der Aufgaben der Basis (des Fundamentums) plus Aufgabenkomplettierung mittels Differenzierungsangebot.
Damit hängen noch zwei Forderungen zusammen:
1. Die Aufgaben im Lehrwerk, vor allem die der Basis, dürfen nicht übermäßig eng miteinander verkettet werden, so dass – wenn es notwendig ist – jederzeit in die Basis Plus-Aufgaben (des Differenzierungsangebotes) integriert werden können und – unabhängig von den im differenzierten Unterricht erzielten Ergebnissen am Ende der Differenzierungsphase mit dem gemeinsamen Unterricht fortgefahren werden kann.
2. Die Umsetzung der in der Basis gegebenen Aufgaben darf nicht die gesamte Unterrichtszeit beanspruchen. Sonst wäre der „Einbau notwendiger Komplettierungen“ kaum möglich. Eine zu strenge und zu kleinschrittige, auf die Minute ausbilanzierte Linearität im Lehrwerk wirkt sich hemmend auf die Differenzierung aus – die Lehrerinnen und Lehrer können aus den vorgegebenen Größen, die ihnen gewissermaßen ein Zeitkorsett anlegen, nicht ausbrechen.
2. Position:
Das allgemeine Anforderungsniveau der Basis ist von der übergroßen Mehrheit der Schülerinnen und Schüler zu erreichen. Es wird von der Basis aus nach oben differenziert.
Eine solche „Differenzierung nach oben“ hat gegenüber einer „Differenzierung nach unten“ (mit hohem allgemeinen Anforderungsniveau und anspruchsreduzierten Aufgaben für leistungsschwächere Schüler) verschiedene Vorteile:
1. Lerntheoretische: Das Übungs- Aufgaben- und Textangebot bezogen auf die Basis ist auf den Erklärungs-, Festigungs- und Übungsbedarf der überwiegenden Zahl der Schüler zugeschnitten.
Oft tut ein umfangreiches Festigen und Wiederholen auch leistungsstärkeren Schülern sehr gut. Ihr Bedarf wird gegenwärtig nicht selten unterschätzt.
2. Unterrichtspraktische: Nach Phasen modularer Individualisierung lässt sich der anschließende Unterricht relativ unproblematisch als gemeinsamer Unterricht auf dem Basisniveau durchführen.
3. Eine „Differenzierung nach oben“ ist praktisch auch deshalb leichter zu handhaben, weil schneller arbeitende (in der Regel leistungsstärkere) Schüler Zusatzaufgaben/ Zusatztexte erhalten, die sie meist selbständig bewältigen können, während schwächere Schüler infolge fehlender Methodenkompetenz oft nicht in der Lage sind, zeitlich parallel selbstständig zu arbeiten.
4. Bei einer „Differenzierung nach oben“ ist es erfahrungsgemäß leichter, alle Schüler zu Erfolgserlebnissen zu führen und zu motivieren, während ein Unterricht, in dem ein Teil der Schüler aufgrund von Rückständen nicht handlungsfähig und deshalb auch nicht motiviert ist, schnell zu erheblichen Disziplinproblemen führt und so gesehen auch für starke Lerner weniger effektiv ist. Auch hier gilt: Nichts ist so erfolgreich wie der Erfolg. Durch Erfolg erwerben die meisten Menschen Zutrauen zu sich selbst und werden umgekehrt durch Misserfolg demotiviert.
3. Position:
Das zusätzliche Differenzierungsangebot wird variabel genutzt. Eine permanent feste Zuordnung zu bestimmten Schülerinnen und Schülern wird vermieden.
Werden im Lehrwerk Aufgaben nach verschiedenen Schwierigkeitsniveaus gekennzeichnet und erhalten Leistungsstärkere immer die schwierigeren und Leistungsschwächere permanent die leichteren Aufgaben, führt das unweigerlich zu deren Stigmatisierung. Diese beeinträchtigt nach aller Erfahrung in erheblichem Maße das Lernklima und damit auch die Effizienz des gesamten Lernens in der Klasse. Konstante Gruppierungen machen blind für positive Entwicklungen, vor allem wenn diese erst in Ansätzen gegeben sind.
Manchmal ist man erstaunt, was ein Erfolgserlebnis bei einem Schüler bewirkt, der vielleicht in den letzten Jahren noch nie eines hatte. Vertrauen in die Entwicklungsfähigkeit der Schüler ist Grundlage des Erfolgs; dabei dürfen die Grenzen nicht zu eng gesetzt werden. Schüler können nicht alles gut oder alles schlecht. Diese Unterschiede gilt es zu kennen und zu nutzen, um Erfolgserlebnisse auch bei schwächeren Schülern zu schaffen.
Deshalb ist das Differenzierungsangebot (z. B. im Lehrwerk) so zu gestalten, dass es völlig flexibel gehandhabt werden kann: So soll es – je nach aktueller Unterrichtssituation – vollständig oder teilweise realisiert werden können. Es soll von Fall zu Fall unterschiedlich von einzelnen Schülern oder von Lerngruppen oder manchmal auch von allen Schülern einer Klasse in Anspruch genommen werden können. Es soll – je nach aktuellen Bedürfnissen und Möglichkeiten – genutzt werden können z. B. von schneller arbeitenden Schülern und/oder von Schülern mit höherem Leistungsniveau und/oder größerer Selbstständigkeit und/oder höherer Lernmotivation und schließlich sollen die Zusatzaufgaben funktionieren, egal ob sie von den Lehrern oder von den Schülern ausgewählt werden. Zusätzlich zum Basisraster (Basiskompetenzen) können also die unterschiedlichsten Zusatzkompetenzen angestrebt und realisiert werden.
4. Position
Die Wiederholung ist konzeptioneller Bestandteil des Gesamtlehrgangs; Planung und Verteilung im Lehrwerk entsprechen den Erfordernissen des Aneignungsprozesses.
Ein berühmter Pädagoge des 19. Jahrhunderts verglich einen Lehrer der nicht wiederholen lässt, „mit einem betrunkenen Kutscher, der seine Last schlecht aufgeladen hat. Der Kutscher treibt die Pferde an, ohne zurückzublicken, bringt einen leeren Wagen nach Hause und rühmt sich noch, den Weg so schnell zurückgelegt zu haben.“
(Quelle E+D im RU, S. 72: Uschinski, K. D.: Ausgewählte pädagogische Schriften. Volk und Wissen Volkseigenet Verlag, Berlin 1963. Zitiert nach: Erlebach, E.; Ihlefeld, U.; Zehner, K: Psychologie für Lehrer und Erzieher. Volk und Wissen Volkseigener Verlag, Berlin 1970, 8. 129.)
Wiederholt werden muss in jedem Unterricht. Je weiter man auf dem Weg des Kompetenzerwerbs vorankommt, desto notwendiger ist es, zurückzublicken und das „Aufgeladene“ festzuhalten. Geschieht dies nicht, so wird nicht nur – um bei dem Bilde zu bleiben – die Last herunterfallen, es wird, zugleich auch immer schwieriger, neue Last sicher hinzuzuladen und zu befestigen.
Es besteht kein Zweifel, dass im Prinzip jeder Stoff (hier meine ich im Sinne des kompetenzorientierten Unterrichts Kenntnisse genauso wie Fertigkeiten und Fähigkeiten) nach der Vermittlung bzw. Aneignung zum potentiellen Wiederholungsstoff wird. Damit besteht praktisch zu jedem Zeitpunkt des schulischen Lehrgangs für alle Schüler eine große und ständig weiter anwachsende Menge an Wiederholungsstoff. Angesichts dieser Menge des Wiederholungsstoffes ist es nun unmöglich, jeden Stoff zu jedem Zeitpunkt beliebig, zu wiederholen. Ein solches Vorgehen ist auch weder notwendig noch sinnvoll, muss doch der Gegenstand der Wiederholung immer dem jeweils gegebenen Wiederholungsbedarf entsprechen. Dieser Bedarf wird von einer Reihe unterschiedlicher Faktoren bestimmt, die sowohl objektiver als auch subjektiver Natur sein können.
Zu, den objektiven Faktoren, die den Wiederholungsbedarf beeinflussen, gehören zum Beispiel das Anforderungsniveau des Stoffes, die Bedeutsamkeit des Stoffes für den Aneignungsprozess, der Grad der Einprägsamkeit des Stoffes.
Von Lehrwerksautoren kann man heute verlangen, dass diesen objektiven Faktoren im Lehrwerk entsprochen wird und die entsprechende notwendige Wiederholung durch den konzeptionellen Aufbau des Lehrgangs gewissermaßen erzwungen wird (bei der Basis berücksichtigt wird). Damit wird der Lehrer entlastet, die langfristige Wiederholung selbst zu planen und – auch zeitlich – zusätzlich zum Jahreslehrgang des Lehrwerkes durchzuführen. Er kann sich stärker dem individuell unterschiedlichen Wiederholungsbedarf der Schüler zu widmen. Zu prüfen ist beim Lehrwerk also auf jeden Fall: Wie hält man es mit der systematischen Wiederholung? Was wird wiederholt? In welchem Rhythmus wird wiederholt? Wie ist das Verhältnis von Neuvermittlung und Wiederholung? Sind die Jahresstoffe so strukturiert, dass der langfristigen Wiederholung genügend Raum gegeben wird? An den Folgen einer vernachlässigten Wiederholung leiden vor allem leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler, die in der Regel einen erhöhten Festigungs- und Wiederholungsbedarf haben. Das alles bezieht sich, wie gesagt, auf die Basis.
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- Sabine Utheß (Author), 2013, Differenzierung als wesentliches Element der Leistungssteigerung im Deutschunterricht der Sekundarstufe I, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/413229
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