Die fiktive Kleinstadt Winden in der Netflix-Serie "Dark" als "Nicht-Ort"


Hausarbeit, 2018

18 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Gliederung

1 Einleitung

2. Winden und seine Bewohner
2.1. Narratives Grundgerüst.
2.2. Eine Kartographie Windens

3. Eine Reise durch die Zeit

4. Orte und Nicht-Orte
4.1. Marc Augės Orte und Nicht-Orte
4.2 Windens Nicht-Orte

5. Fazit.

Quellen

1. Einleitung

»Wir vertrauen darauf, dass die Zeit linear verläuft. Dass sie auf ewig gleichförmig voranschreitet bis in die Unendlichkeit. Aber die Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist nichts als eine Illusion. Gestem, Heute und Morgen folgen nicht aufeinander. Sie sind in einem ewigen Kreis miteinander verbunden. Alles ist miteinander verbunden.«

- H.G. Tannhaus in Dark

Bereits in den ersten Einstellungen der deutschen Serie Dark (2017), erschaffen von den Filmemachern Baran Bo Odar und Jantje Friese und produziert vom US-Amerikanischen Streaming-Anbieter Netflix, wird dem Zuschauenden ein höchst komplexes, narratives Konstrukt eröffnet, in dem sich die räumlichen und zeitlichen Konfigurationen nicht entlang der gewöhnlichen Achsen entfalten. Die fiktive Kleinstadt Winden beherbergt ein gut gehütetes Geheimnis, dem sich nur die wenigsten Bewohner des Ortes bewusst sind: In den Windener Höhlen, gänzlich umgeben von Wald und teilweise unterhalb des Geländes eines Atomkraftwerks liegend, befindet sich ein Wurmloch, durch welches man im 33-Jahre-Zyklus in die Vergangenheit oder in die Zukunft reisen kann. In der ersten Staffel der Serie werden drei Zeitebenen miteinander verbunden (die Jahre 1953, 1986 und 2019), während Winden dabei immer den Handlungsort darstellt und eine zentrale Rolle in der Narration einnimmt.

Dass sich das Medium Film, hier in Gestalt einer Serie, bestens eignet, um ein Zeitreise­Narrativ zu verwirklichen, erschließt sich aus dem Potential der Montage. Durch die Verknüpfung räumlicher und zeitlicher Fragmente erschafft die Montage Raum und Zeit in der Diegese.[1] In Dark wird das Raum-Zeit-Kontinuum, welches im Kino des Klassischen Hollywoods durch den unsichtbaren Schnitt (Continuity Editing) hergestellt wurde, durch das Wurmloch und die damit einhergehenden narrativen Konsequenzen gänzlich aufgebrochen. Zahlreiche Handlungsstränge aus den unterschiedlichen Zeitebenen verweben sich durch die Montage zu einem dichten, narrativen Komplex, welcher sich durch eine Vielzahl an teils in mehreren Zeitebenen auftretenden Figuren, einem nicht linearen Verlauf und einem Strengen kausalen Determinismus (»Alles ist miteinander verbunden«) auszeichnet.

Jedoch erhält nicht nur die Dimension der Zeit in Dark durch das Konzept der Zeitreise eine neue Bedeutung, sondern auch die räumliche Dimension. Der fiktive Ort Winden mit seinen einzelnen Handlungsorten (Familienhäuser, Schule, Polizeistation, et cetera) existiert in den Zeitebenen 1953, 1986 und 2019, hat einen äußerst seltsamen Charakter und wird sowohl durch als auch für die Zeitreisenden gewissermaßen zu einem Transitraum. Auf der einen Seite wird es zwar in den jeweiligen Zeitebenen anhand der Mise-en-Scène ersichtlich, wie sich die damalige »Zeit« in die Handlungsorte innerhalb Windens eingeschrieben hat, auf der anderen Seite jedoch verlieren diese Handlungsorte durch ihre von der Montage erschaffenen Parallelexistenz in drei Zeitebenen und die damit einhergehende Orientierungslosigkeit der Zuschauerinnen an Identität, Relation und Chronologie.

Der französische Anthropologe und Ethnologe Marc Augé hat in seinem im Jahre 1992 erschienenen Werk »Non-Iieux« eine Theorie der »Nicht-Orte« entworfen, die sich der Erscheinung von identitätslosen und historisch nicht verwurzelten urbanen Räume annimmt.[2] Um das Sonderbare der Kleinstadt Winden, erschaffen durch ein aufgebrochenes Raum-Zeit­Kontinuum und eine non-lineare, netzwerkartige Narration, herauszuarbeiten, erscheint Augės Ansatz fruchtbar, da sich in Winden die Polaritäten von Orten zu Nicht-Orten erkennen lassen. Ausgehend von einer raumzeitlichen Kartographie des fiktiven Windens und einer Betrachtung des Zeitreise-Modells, welches in Dark zum Einsatz kommt, soll Marc Augės Gedankenkonstrukt mit den räumlichen Konfigurationen der Kleinstadt abgeglichen werden.

2.Winden und seine Bewohner

2.1. Narratives Grundgerüst

Die Handlung der ersten Staffel von Dark dreht sich um die vier Familien Nielsen, Kahnwald, Doppler und Tiedemann und das mysteriöse Verschwinden von drei Kindern. Eines davon, Mikkel Nielsen, Sohn von Ulrich und Katharina Nielsen, verschwindet in der ersten Folge spurlos; zuletzt wurde er mit seinen älteren Geschwistern und deren Freunden bei den Windener Höhlen gesehen. Am nächsten Tag wird eine Kinderleiche in der Nähe der Höhlen gefunden, jedoch stimmt sie mit keiner Vermisstenanzeige überein und ihre Kleidung stammt vermeintlich aus den 80ern. Ulrich Nielsen arbeitet als Polizist bei der örtlichen Direktion und beginnt eine zutiefst emotionale Suche nach seinem Sohn, stößt aber nur auf eine Menge Unstimmigkeiten. Ulrichs kleiner Bruder Mads war vor 33 Jahren auf dieselbe Weise wie Mikkel verschwunden und Ulrichs Mutter glaubt, dass sich nun alles wiederhole. Mikkel gelangt währenddessen aus den Höhlen und zu seinem Wohnhaus. Dort passt sein Schlüssel jedoch nicht ins Schloss, dazu trifft er auf die jugendliche Version seiner Eltern, so dass er schließlich durch einen Blick auf die Lokalzeitung feststellen muss, dass er im Jahr 1986 gelandet ist.

Der 16-jährige Jonas Kahnwald, der als Letzter mit Mikkel bei den Höhlen war und dessen Vater, Michael, sich zu Beginn der Serie selbst umgebracht hat, entdeckt zuhause beschriftete Karten der Höhlen, die auf einen Übergang in den Höhlen hindeuten, welcher jedoch nicht eingezeichnet ist. Nachdem der Fremde, eine zunächst unbekannte Figur, heimlich den Übergang in die Karten eingezeichnet hat, lässt er Jonas eine futuristische Taschenlampe, einen Geigerzähler und einen Brief von seinem Vater zukommen. In diesem eröffnet Michael seinem Sohn, dass er am 04. November 2019 als Mikkel Nielsen durch die Zeit ins Jahr 1986 gereist ist und nie den Weg zurückfand. Aus ihm wurde ein erwachsener Mann und schließlich sein Vater. Darauf begibt sich Jonas in die Höhlen und findet tief versteckt in diesen einen Durchgang, ein Wurmloch, welches ihn ins Jahr 1986 führt.

Es stellt sich zunehmend heraus, dass ein geheimnisvoller Pfarrer namens Noah und der AKW-Mitarbeiter Helge Doppler, der 2019 als dementer, alter Mann im Pflegeheim liegt, im Jahre 1986 den Prototyp einer Zeitmaschine entwickelt haben, welcher sich in einem als Kinderzimmer dekorierten Bunker direkt über den Höhlen befindet. Sie haben die zwei anderen vermissten Kinder aus 2019 (Erik Obendorf und Yasin Friese) und Mads Nielsen aus 1986 entführt und wollten mit ihnen eine kontrollierte Zeitreise durchführen. Die Zeitreise gelang, jedoch starben die Kinder bei der Reise durch schwerste Verbrennungen an Augen und Ohren. Die 2019 gefundene Kinderleiche war die von Mads Nielsen, Eriks und Yasins Leichname landeten im Jahr 1953 auf dem Baugelände des zukünftigen Atomkraftwerks.

Ulrich Nielsen kommt dahinter, dass Helge Doppler mit den vermissten Kindern zusammenhängt und folgt eines Abends dem verwirrten, alten Helge in den Wald zu den Höhlen. Ulrich entdeckt so ebenfalls das Wurmloch, landet jedoch versehentlich im Jahre 1953. Dort trifft er auf den Uhrmacher H.G. Tannhaus, welcher an einer Zeitmaschine arbeitet, und vergisst bei diesem sein Smartphone. Als er den jungen Helge Doppler findet, beschließt er, diesen zu töten, um zu verhindern, dass dieser in Zukunft zum Mörder wird. Helge überlebt den brutalen Angriff von Ulrich jedoch, gelangt dazu durch ein Wurmloch ins Jahr 1986 in den Bunker mit der prototypischen Zeitmaschine. Erst durch die traumatische Erfahrung in seiner Kindheit ist Helge als Erwachsener anfällig für den manipulativen, größenwahnsinnigen Noah. Ulrich wird letztlich im Jahr 1953 als Kindermörder verhaftet, sein vergessenes Smartphone aber verhilft dem Uhrmacher Tannhaus seine Zeitmaschine zum Funktionieren zu bringen. Der Fremde, der sich als der erwachsene Jonas Kahnwald herausstellt, will 2019 mit Tannhaus’ Zeitmaschine das Wurmloch in den Höhlen zerstören, weiß jedoch nicht, dass er dieses dadurch überhaupt erst erschafft.

Der gegebene Handlungsverlauf ist eine grobe Zusammenfassung. Allein an der Vielzahl der Figuren, die im Stammbaum sichtbar werden, und ihrer jeweiligen Geheimnisse wird die Komplexität der Narration von Dark erkennbar. Durch den parallelen und »intertemporalen«[3] Verlauf der drei Zeitebenen wird diese um mehrere Größenordnungen erhöht.

2.2. Eine Kartographie Windens

Eine Auffälligkeit Windes ist, dass man sich den Ort nur schwer räumlich erschließen kann, obgleich er eine zentrale Rolle in der Serie spielt. Letzteres wird zum Beispiel ersichtlich, wenn Mikkels Mutter Katharina Nielsen im Radiointerview in Folge sechs sagt: »Diese Stadt ist krank. Winden ist wie ein Geschwür und wir sind alle ein Teil davon.« Die Cadrage und Montage konstituieren die einzelnen Handlungsorte in Winden, aber selten einen räumlichen

Zusammenhang. Visuelle Übergange zwischen einzelnen Orten der Serie werden meist durch Luftaufnahmen vom Wald um Winden herum erzeugt; generell scheint es dadurch, als würde die gesamte Kleinstadt im Wald verteilt liegen, ein Ortszentrum oder Ähnliches ist nie Zusehen.

Der geheimnisvollste Ort Windens sind wohl die Windener Höhlen. Sie besitzen zwei bekannte Eingänge, nämlich einen im Wald, einen anderen auf dem Gelände des Atomkraftwerks. Da sich Letzteres in einem Hochsicherheitsbereich befindet, suchen »Besucher« der Höhlen, wie Jonas oder Ulrich, für gewöhnlich den Eingang im Wald auf. Die Höhlen selbst bestehen aus einem verzweigten, unterirdischen Netzwerk aus dunklen Gängen. Ulrich und Charlotte Doppler Stoßen auf eine verschweißte Tür in den Höhlen, hinter der Atommüll aus dem Jahr 1986 gelagert wird. Ein Geheimgang in den Höhlen führt zu einer kleinen, niedrigen Tür, die den Zugang zum Wurmloch darstellt. Der Übergang beziehungsweise das Wurmloch selber besteht aus drei engen und niedrigen Gängen, die in der Mitte zusammenlaufen, und, deren Enden zu jeweils einer Zeitebene führen (1953, 1986, 2019).

Ebenfalls vom Wald umgeben liegt das Atomkraftwerk Windens am Stadtrand. 1953 befindet sich dieses gerade im Bau unter Anleitung von Helges Vater Bernd Doppler, als auf der Baustelle zwei Kinderleichen gefunden werden (Erik und Yasin aus 2019). 33 Jahre später übernimmt Claudia Tiedemann die Leitung des bereits existierenden AKWs und muss einer grundlegend negativen Einstellung der Bevölkerung gegen Atomenergie, ausgelöst durch den Reaktorunfall in Tschernobyl, entgegentreten. Im Jahre 2019 führt Alexander Tiedemann, der Mann von Claudias Tochter Regina, das Atomkraftwerk und ist an dubiosen Machenschaften bezüglich Atommülls beteiligt.

In Winden gelegen, jedoch nicht genauer lokalisiert, liegt die Schule Windens, die die Kinder und Jugendlichen sowohl im Jahre 1986 als auch 2019 besuchen. Der unästhetische Betonklotz mit gelben Bauelementen sieht in beiden Zeitebenen ziemlich gleich aus, wirkt dadurch irgendwie zeitlos, wobei sich die jeweilige »Zeit« sehr gut an der Kleidung und dem generellen Stil der Schüler, Lehrer und Eltern erkennen lässt. Sowohl Mikkel als auch Jonas betreten die Schule im Jahre 1986, wodurch sich ihr Eindruck, durch die Zeit gereist zu sein, manifestiert.

Die Polizeistation Windens existiert in allen drei Zeitebenen, verändert sich in ihrer Erscheinung jedoch gemäß dem Lauf der Zeit. Im Jahre 1953 befindet sich die Polizeidirektion in einem zeitgenössischen Altbau; die Innenräume sind mit viel dunklem Holz ausgestattet, die Raumluft ist rauchverhangen. Dagegen hat die Polizeidirektion 1986 bereits ein neues Gebäude erhalten, welches auch noch im Jahre 2019 besteht und sich durch eine monotone Glas-Stahl-Architektur auszeichnet, die an das Schulgebäude und das Krankenhaus Windens erinnert.

Das besagte Krankenhaus, in welchem Mikkel 1986 behandelt wird und die Krankenschwester Ines Kahnwald kennenlernt, ähnelt sowohl von innen als auch von außen der Architektur der Polizeistation der Jahre 1986 und 2019. Beton trifft auf Glas und Stahl, drinnen herrscht eine kühle, sterile Atmosphäre. Das Krankenhaus wird nur im Jahre 1986 gezeigt, erscheint durch das schlichte, klinische Innendesign zeitlos, geradezu futuristisch.

Zentrale Handlungsorte in Dark sind die Wohnhäuser der Familien Nielsen, Doppler, Kahnwald und Tiedemann, wobei das Haus der Nielsens heraussticht, denn es wird in allen drei Zeitebenen gezeigt. 1953 zieht Agnes Nielsen mit ihrem Sohn Tronte in ein Zimmer in dieses Haus zur Untermiete ein; Egon und Doris Tiedemann wohnen dort mit ihrer Tochter Claudia und vermieten ein Zimmer. 33 Jahre später ist das großzügige Backsteinhaus im Besitz der Familie Nielsen, Tronte und Jana Nielsen bewohnen es mit ihren Kindern Ulrich und Mads. Im Jahre 2019 wiederum wohnt Ulrich mit seiner Frau Katharina und seinen Kindern Mikkel, Magnus und Martha im selben Haus. Anhand der wechselnden Inneneinrichtung, welche der jeweiligen Zeit entspricht, kann man den Verlauf der Zeit beziehungsweise die Entwicklung des Hauses erkennen.

3. Eine Reise durch die Zeit

Der allgemeine Konsens bezüglich des Wesens der Zeit wird durch vier grundsätzliche Annahmen verkörpert. Zum einen geht man davon aus, dass sich die Zeit in eine einzige Richtung mit einigermaßen gleichbleibender Geschwindigkeit bewegt. Zum zweiten nimmt man an, dass man in der Zeit nicht entgegen dieser Richtung gehen kann. Des Weiteren gehen Auswirkungen immer Ursachen voraus. Zuletzt ist Vergangenes beziehungsweise die Vergangenheit nicht veränderbar.[4]

[...]


[1] Vgl. Burch, Noël: Theory of Fiini Practice. Kapitel 1: Spatial and Temporal Articulations. New York, 1973.

[2] Vgl. Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte, s. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1994, s. 90-135.

[3] Аши.: Der Neologismus »intertemporal« bezieht sich auf die deterministischen Handlungszusammenhänge zwischen den Zeitebenen, z. Bsp. wenn Ulrich Nielsens Handy aus 2019 im Jalu1953 ־ zum entscheidenden Bauteil von Tannhaus’ Zeitmaschine wird.

[4] Vgl. Heinze, Rüdiger: Temporal Tourism: Time Travel and Counterfactuality in Literature and Film, in: Counterfactual Thinking-Counterfactual Writing, de Gruyter, Berlin, 2011, s. 216.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Die fiktive Kleinstadt Winden in der Netflix-Serie "Dark" als "Nicht-Ort"
Hochschule
Freie Universität Berlin
Note
1,3
Autor
Jahr
2018
Seiten
18
Katalognummer
V429193
ISBN (eBook)
9783668728349
ISBN (Buch)
9783668728356
Dateigröße
780 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
winden, netflix-serie, dark
Arbeit zitieren
Jasper Graeve (Autor:in), 2018, Die fiktive Kleinstadt Winden in der Netflix-Serie "Dark" als "Nicht-Ort", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/429193

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