Das Gedicht „An die Sonne“ von Ingeborg Bachmann wird in der Literatur häufig als Preislied bezeichnet. Andere Interpreten dagegen sehen in den Schlussversen von „An die Sonne“ eine einzige Klage über den Tod, der uns von der schönen Sonne trennt.
Bei genauerer Lektüre des Gedichts zeigt sich jedoch, dass in „An die Sonne“ Licht- und Schattenseiten eng verknüpft sind – ebenso wie in Bachmanns Werk allgemein. So durchzieht der Gegensatz Licht (Lob) – Dunkel (Klage) alle Gedichte des zweiten, 1956 erschienenen Lyrikbandes „Anrufung des Großen Bären“, welcher sich in vier Teile gliedert: Während im zweiten, aus dreizehn Gedichten zusammengesetzten Teil der Weg der „Landnahme“ vom „Nebelland“ des Nordens in den Süden führt, stellen die zwölf sogenannten Italiengedichte des dritten Teils eine Südwelt mit dem Schlussgedicht „An die Sonne“ vor. Doch der Süden ist im Werk Bachmanns nicht eindeutig positiv konnotiert wie beispielsweise das Gedicht „Das erstgeborene Land“ aus der Gedichtsammlung „Anrufung des Großen Bären“ zeigt: „In mein erstgeborenes Land, in den Süden / zog ich und fand, / nackt und verarmt / und bis zum Gürtel im Meer, / Stadt und Kastell.“ (Vers 1). In dem Gedicht „Herbstmanöver“ aus der „Gestundeten Zeit“ ist der Süden ebenso ambivalent wie die Schönheit klassischer Kunstwerke: „und manchmal / trifft mich ein Splitter traumsatten Marmors, / wo ich verwundbar bin, durch Schönheit, im Aug./“ (1, 6-8). Schönheit – auch die Schönheit der Sprache („traumsatter Marmor“) – wird hier zur Gefahr für den Dichter, sie blendet ihn.
In der folgenden Interpretation soll gezeigt werden, dass Ingeborg Bachmanns Gedicht „An die Sonne“ weder als ein reines Lob- noch als ein Klagelied zu sehen ist, sondern dass in das Bachmann-Gedicht – betrachtet man es auch im Kontext anderer Publikationen der Autorin – sehr viele ambivalente Aussagen enthält.
Inhaltsübersicht
I. Einleitende Bemerkungen
II. Hauptteil
II.1. Formale Aspekte des Gedichts „An die Sonne“
II.2. Inhaltliche Analyse des Gedichts „An die Sonne“
II.2.1. 1. Strophe: Das Paradigma der Anbetung der Sonne
II.2.2. 2. Strophe: Die Ambivalenz des Sonnenkreislaufes
II.2.3 3. Strophe: Ohne die Sonne
II.2.4. 4. Strophe: Infragestellung des Lobpreises
II.2.5. 5. Strophe: Höhepunkt des Gedichtes
II.2.6. Strophen 6 und 7: Der Blick vom Nahen zum Fernen
II.2.7. Strophe 8: Blaue Poetik
II.2.8. Strophe 9: Die unersättlichen Augen
III. Abschließende Betrachtungen
IV. Literatur
I. Einleitende Bemerkungen
Das Gedicht „An die Sonne“ von Ingeborg Bachmann wird in der Literatur häufig als Preislied bezeichnet.[1] Andere Interpreten dagegen sehen in den Schlussversen von „An die Sonne“ eine einzige Klage über den Tod, der uns von der schönen Sonne trennt.[2]
Bei genauerer Lektüre des Gedichts zeigt sich jedoch, dass in „An die Sonne“ Licht- und Schattenseiten eng verknüpft sind – ebenso wie in Bachmanns Werk allgemein.[3] So durchzieht der Gegensatz Licht (Lob) – Dunkel (Klage) alle Gedichte des zweiten, 1956 erschienenen Lyrikbandes „Anrufung des Großen Bären“, welcher sich in vier Teile gliedert: Während im zweiten, aus dreizehn Gedichten zusammengesetzten Teil der Weg der „Landnahme“ vom „Nebelland“ des Nordens in den Süden führt, stellen die zwölf sogenannten Italiengedichte des dritten Teils eine Südwelt mit dem Schlussgedicht „An die Sonne“ vor. Doch der Süden ist im Werk Bachmanns nicht eindeutig positiv konnotiert wie beispielsweise das Gedicht „Das erstgeborene Land“[4] aus der Gedichtsammlung „Anrufung des Großen Bären“ zeigt: „In mein erstgeborenes Land, in den Süden / zog ich und fand, / nackt und verarmt / und bis zum Gürtel im Meer, / Stadt und Kastell.“ (Vers 1). In dem Gedicht „Herbstmanöver“[5] aus der „Gestundeten Zeit“ ist der Süden ebenso ambivalent wie die Schönheit klassischer Kunstwerke: „und manchmal / trifft mich ein Splitter traumsatten Marmors, / wo ich verwundbar bin, durch Schönheit, im Aug./“ (1, 6-8). Schönheit – auch die Schönheit der Sprache („traumsatter Marmor“) – wird hier zur Gefahr für den Dichter, sie blendet ihn.[6]
In der folgenden Interpretation soll gezeigt werden, dass Ingeborg Bachmanns Gedicht „An die Sonne“ weder als ein reines Lob- noch als ein Klagelied zu sehen ist, sondern dass in das Bachmann-Gedicht – betrachtet man es auch im Kontext anderer Publikationen der Autorin – sehr viele ambivalente Aussagen enthält.
II. Hauptteil
II.1. Formale Aspekte des Gedichts „An die Sonne“
In einigen formalen Elementen findet sich die ambivalente Grundaussage des Gedichts gespiegelt.
Die Strophen sind symmetrisch um die fünfte Strophe „Nichts Schönres unter der Sonne, als unter der Sonne zu sein...“ (V.15) als Mittelachse angeordnet.[7] So wie die ersten vier Strophen auf den Mittelvers zuzulaufen scheinen, da sie an Versanzahl immer um eins abnehmen – die erste Strophe besteht aus fünf Versen, die zweite aus vier Versen, die dritte aus drei Versen, die vierte Strophe besteht aus zwei Versen, die fünfte Strophe aus einem Vers – nimmt umgekehrt nach Strophe 5 die Anzahl der Verse pro Strophe um eins zu. Jeder Strophe kann somit gewissermaßen eine „Partnerstrophe“ zugeordnet werden: Durch die Spiegelung der Strophe 1 mit Strophe 9 stehen sich beispielsweise die beiden Zentralbegriffe „Sonne“ (Vers 5) und „Auge“ (Vers 29) gegenüber.[8]
Der Mittelvers spiegelt nicht nur die vorangehenden mit den nachfolgenden Strophen, sondern ist auch, ebenso wie Vers 14 („Schönes Licht, das uns warm hält, bewahrt und wunderbar sorgt, / daß ich wieder sehe und daß ich dich wiederseh!“) in sich selbst gespiegelt, was sich als tautologische Doppelung deuten lässt.
Ebenso wie die Zahl der Zeilen in den einzelnen Versgruppen verschieden ist, unterscheidet sich auch die Länge der Verse in den Versgruppen: Die Silbenzahl innerhalb der Verse verringert sich unregelmäßig bis zur Mitte des Gedichts hin und steigt von der Mitte bis zum Schluss wieder an. Das Anschwellen der Verszahl am Ende des Gedichts könnte – entgegen der häufig vertretenen Meinung, es handele sich am Schluss um eine Klage – für ein Lob am Gedichtende sprechen. Allerdings kann die Stellung des Gedichts innerhalb der Gedichtsammlung – es ist das letzte der Anrufung des Großen Bären – wiederum auf ein Klagelied hindeuten[9].
Die einzelnen Verse beginnen meistens mit einem Auftakt und enden mit einer betonten Silbe.[10] Feierlich lange Sätze und Zeilen, gehobene Wortwahl und zahlreiche Stilmittel wie Alliterationen und Assonanzen könnten als Indizien für einen Preisgesang gelesen werden. Beispielsweise wird das Schlüsselwort „Schönheit“ zehn mal anaphorisch wieder aufgenommen (Polyptota[11]): Allerdings tritt die Anapher „schön“ in der ersten Strophe stark gehäuft, dann deutlich seltener auf. In Strophe drei und sieben erscheint sie gar nicht, was den Preisgesang schwächt und auf ein Vergehen der Schönheit hinzudeuten scheint. Auch das zentrale Objekt die „Sonne“ wird sechs mal genannt, „sehen“ und „blau“ erscheinen je viermal.
II.2. Inhaltliche Analyse des Gedichts „An die Sonne“
II.2.1. 1. Strophe: Das Paradigma der Anbetung der Sonne
1 Schöner als der beachtliche Mond und sein geadeltes Licht,[12]
2 Schöner als die Sterne, die berühmten Orden der Nacht,
3 Viel schöner als der feurige Auftritt eines Kometen
4 Und zu weit Schönrem berufen als jedes andre Gestirn,
5 Weil dein und mein Leben jeden Tag an ihr hängt, ist die Sonne.
Die erste aus fünf Versen bestehende reimlose Strophe besteht aus einem einzigen durchlaufenden Komparativsatz, in welchem „die Sonne“ nachgestellt und mit dem Mond und den Sternen verglichen beziehungsweise davon abgegrenzt wird. Mond, Sterne und Komet stehen vom stärkeren zum schwächeren Ausdruck angeordnet. Der „beachtliche Mond“ (1,1) mit seinem „geadelte[n] Licht“ (1,1), die Sterne als „berühmte Orden der Nacht“ (1,2) und die Kometen, die traditionell auf besondere Ereignisse hinweisen, werden mit ehrwürdigen aber auch distanzierten Attributen charakterisiert, die dem Militärwesen entnommen zu sein scheinen. Dagegen findet sich umgekehrt im dritten und im vierten Vers das anaphorische „schöner als“ (1,2) – ähnlich dem ‚crescendo‘ in der Musik – zur steigernden Preisung „viel schöner als“ (1,3) und schließlich „zu weit Schönrem berufen als“ (1,4) verstärkt. „Viel schöner als der feurige Auftritt eines Kometen / Und zu weit Schönrem berufen als jedes andere Gestirn, / Weil dein und mein Leben jeden Tag an ihr hängt, ist die Sonne“, (1,4; 1,5). Dieser letzte Vers der ersten Strophe ist durch die „ei“-Assonanz geprägt, was ihm zusätzlich Nachdruck verleiht. Die Sonne wird hier ihren Abbildern vorgezogen: Abbilder, da der Mond kein selbstleuchtender Himmelskörper ist, denn er wird von der Sonne angestrahlt und ist damit von der Sonne und deren Stellung abhängig.[13]
Besonders betont durch die wiederholten Komparative und Inversionen bewegt sich die Strophe weiter hin ‚ans Licht‘: von der Nacht zum Tag, von dem eher kühlen Licht des ‚Mondes‘ zu dem ‚feurigen‘ Licht „eines Kometen“, von den umliegenden Sternen zum zentralen Mittelpunkt der Sonne. Diese wird von der Dichterin gelobt, da sie ihr „Werk“, die Erde, „nicht vergessen hat“ (2,1). Somit wendet sich Ingeborg Bachmann direkt gegen die Verherrlichung der Nacht durch die Romantiker.[14] „Mond“, „Sterne“ und „Nacht“ dienen in „An die Sonne“ vielmehr der Bildung eines dunklen Rahmens, in welchen die Helligkeit der Sonne eingebettet ist.
Ihre Legitimation erfährt die Sonne dadurch, dass sie die menschliche Existenz überhaupt erst ermöglicht. So spricht Ingeborg Bachmann in Vers vier sogar von der Berufung der Sonne, die durch die Kraft der Schönheit die Aufgabe hat, Leben zu schenken und zu erhalten. Vielleicht handelt es sich bei der Wahl des Begriffes der ‚Berufung‘ (1,4) auch um einen Hinweis auf das dichterische Selbstverständnis Bachmanns, wobei hiermit zum ersten Mal die unter der reinen Beschreibung der „Sonne“ liegende Aussage des Gedichts angesprochen wird: die der künstlerischen ‚Berufung‘. Die Berufung der Sonne, Licht und Leben zu schaffen, beinhaltet die Aussage, Kunst als Berufung aufzufassen. Und genau hier ruht die Kraft, welche die Sonne „schöner“ (1,1; 1,2; 1,3) erscheinen lässt als alles andere, was am nächtlichen Himmel zu finden ist: Denn die Sonne, „zu weit Schönrem berufen als jedes andre Gestirn“ (1,4), bewältigt den Tag wie die Nacht (2,1-2), und erzeugt damit auch bei dem, der dieser Kraft ausgesetzt ist, neues Leben. In dem Gedicht Bachmanns kommt die Sonne somit einer Göttin der dichterischen Inspiration gleich. Das lyrische Ich erfährt die im Bild der Sonne enthaltene schöpferische Kraft als die Grundvoraussetzung für das künstlerische Schaffen.
Übertragen auf den dichterischen Prozess unter dem Einfluss des Südens formuliert Huml folgende Deutung: So wie die Sonne fraglos ihr Werk jeden Tag aufs Neue verrichtet, ist auch in Italien die Kunst als Schaffenskraft für Ingeborg Bachmann nicht fragwürdig an sich, sondern Teil ihrer Selbst, ihrer täglichen Aufgabe geworden.[15] Gerade in den 1950er Jahren, als die Frage, ob Lyrik nach Ausschwitz überhaupt noch möglich sei[16], diskutiert wurde, ist diese Selbstverständlichkeit und Hochachtung, die Bachmann hier ihrer Dichtung beimisst, bemerkenswert.[17] Die Kahlschlaglyrik als Programm einer extremen Ausnüchterung der Sprache ist zusätzlich als Hintergrund für die Sensationalität Bachmanns zu sehen, die (wie in „An die Sonne“ besonders deutlich wird) Mut zu gewaltigen Bildern, zu einer Sprachgewalt zeigt, die beispielsweise in ihren Genitivmetaphern (z.B. „Tausendeck meines Lands“, 7,2; „Blau der Fernen“, 8,2; „Zonen des Glücks“ 8,2) zum Ausdruck kommt.
II.2.2. 2. Strophe: Die Ambivalenz des Sonnenkreislaufes
6 Schöne Sonne, die aufgeht, ihr Werk nicht vergessen hat
7 Und beendet, am schönsten im Sommer, wenn ein Tag
8 An den Küsten verdampft und ohne Kraft gespiegelt die Segel
9 Über dein Aug ziehn, bis du müde wirst und das letzte verkürzt.
Die aus vier Versen bestehende, reimlose zweite Strophe führt zunächst die Preisung, wie sie in der ersten Strophe begonnen wurde, fort. Hier wird das Attribut „schön“ (2,1) der Sonne, die „Ihr Werk nicht vergessen hat“ (2,1) allein zugestanden.
Es folgt die Beschreibung eines Tages; gleichzeitig handelt es sich Huml zufolge um eine Werkbeschreibung der Dichterin (2,1), die den Bogen von der Natur zur Kunst und zurück spannt.[18] Zeitlich wird die Sonne im „Sommer“ (2,2) – poetische Kraft wie die natürliche Energie der Sonne entfaltet sich am besten, „[...] am schönsten im Sommer“ (2,2) – und räumlich an „den Küsten“ (2,3) konkretisiert.
Einerseits weckt die Sonne, wie man in der ersten Strophe deutlich erkennen konnte, das Leben, andererseits kann sie das Leben auch „verkürzen“, kann den Tag auch „beende[n]“ (2.2); der Tag „verdampft an den Küsten“ (2,3). Das Loblied an die Sonne wird hier – wie Attribute wie „ohne Kraft“, „müde“ verdeutlichen – durchbrochen und die Ambivalenz des Sonnenkreislaufs tritt hervor: Die Sonne hat auch die Kraft, den Tag zur Nacht zu machen (2,2; 2,3), den Wachenden zum Schlaf zu bringen (2,4), Leben in seiner letzten Konsequenz in den Zustand des Todes zu überführen (2,4). Dies kann auch Zerstörung von Kunst und Kreativität bedeuten (vgl. 3,1).
In Vers vier wird zum ersten Mal das Motiv „Sehen“ explizit angesprochen, durch welches viele der zentralen Einsichten und Begebenheiten im Werk von Ingeborg Bachmann ausgedrückt werden.[19] Im Bild des Auges konzentriert sich die jeweils beschriebene Persönlichkeit und deren Welterfahrung. Ebenso drücken die Augen die unterschiedlichen Zugangsweisen des Ichs zum Weltgeschehen aus.[20]
[...]
[1] Z.B. Barbara Ratecka: „Ich will versuchen, es [die Hymne An die Sonne ] als einen Lobpreis auf die Schönheit der Natur zu interpretieren, [...]“. Ratecka, Barbara: Ingeborg Bachmann „An die Sonne“ - Versuch einer Interpretation. In: Wolfgang Braungart (Hrsg.): Über Grenzen. Polnisch-deutsche Beiträge zur deutschen Literatur nach 1945. (Giessener Arbeiten zur neueren deutschen Literatur und Literaturwissenschaft. Bd. 10). Frankfurt a. M., Bern, New York, Paris 1989, 166.
[2] „Aber erst die Schlußverse der Hymne werden diejenige Klage anstimmen, die Bachmann im weiteren Verlauf ihres Werkes an verschiedenen Stellen wieder aufnehmen wird.“ Huml, Ariane: Silben im Orleander, Wort im Akaziengrün. Zum literarischen Italienbild von Ingeborg Bachmann. Göttingen 1999, 298. „Bachmanns Hymne An die Sonne basiert spätestens ab dem letzten Vers der achten Strophe auf einer besonderen Erfahrung des Weltschmerzes, der auf einer nicht wiedergutzumachenden Verlusterfahrung beruht: dem ‚Verlust der Augen‘ (9,5) [...]. Huml, 286.
[3] So weist Ute Maria Oelmann darauf hin, dass Gegensätze wie Norden und Süden, Kälte-Wärme, Vereisung-Tauen, Tod-Leben, Schuld-Unschuld das Werk Bachmanns prägen. Vgl. Oelmann, Ute Maria: Deutsche poetologische Lyrik nach 1945: Ingeborg Bachmann, Günter Eich, Paul Celan. Stuttgart 1980, 7.
Hans Höller weist im Zusammenhang mit dem Titelgedicht des Zyklus Anrufung des Großen Bären darauf hin:
“Vor dem Wissen um diese Nachtseite der Welt, um den ‚finstergesprenkelten Weltgang‘ (Ernst Bloch), ist die großartige und zugleich bescheidene Verherrlichung der Wahrnehmung bei Ingeborg Bachmann zu sehen, sowohl als Thema des Gedichts – ‚Du wachst und siehst im Dunkeln nach dem Rechten, / dem unbekannten Ausgang zugewandt‘ - wie als sprachlich realisiertes Weltverhalten, am augenfälligsten in An die Sonne. Menschliche Wahrnehmung, das ist Sehen, Umsicht, Nach-dem-Rechten-Sehen, die Haltung dessen, ‚der in der Dunkelhaft der Welt nicht aufgibt und nicht aufhört, nach dem Rechten zu sehen‘. Das Gedicht Anrufung des Großen Bären läßt sich, nicht anders als die Utopie einer menschlich wahrgenommenen Welt, vielleicht erst ganz aus der geheimen Spannung zu diesem anderen großen Anrufungsgedicht des zweiten Lyrikbandes verstehen, dem hymnischen An die Sonne. Die Schönheit einer Welt, die durchleuchtet ist von menschlichen Beziehungen [...] - diese Utopie muss auf dem Hintergrund der verantwortungslosen Gewalttätigkeit des Großen Bären gelesen werden, der wüsten Schrecken- und Nachtseite der Welt, die sich über die Menschen fremd hinwegsetzt, um zu begreifen, welcher Erfahrung dieses Weltverhältnis abgerungen ist, dieser Preis eines menschlichen Lebens mit der abschließenden unaussprechlichen Trauer über den ‚unabwendbaren Verlust‘ der Augen.‘ Höller, Hans (Hrsg.): Der dunkle Schatten, dem ich schon seit Anfang folge. Ingeborg Bachmann - Vorschläge zu einer neuen Lektüre des Werks. München, Wien 1982, 164.
[4] Ingeborg Bachmann: “Das erstgeborene Land”. In: dies. Sämtliche Gedichte. München 2004, 129.
[5] Ingeborg Bachmann: „Herbstmanöver“. In: dies. Sämtliche Gedichte, 46.
[6] Vgl. „Herbstmanöver“: „Die Flucht vor der Wahrheit, vor Leiden und Tod in eine schöne Scheinwelt des Vergessens, in die klassische Harmonie, ist dem Dichter untersagt, „[...] der Fluchtweg nach Süden kommt uns nicht, / wie den Vögeln, zustatten.“ (1, 4-5).
[7] Höller, Hans: Ingeborg Bachmann - das Werk. Von den frühesten Gedichten bis zum Todesarten-Zyklus. Frankfurt am Main, 1987, 65.
[8] Vgl. Huml, 292, Anm. 51. Inwiefern sich die Strophen inhaltlich näher zueinander verhalten, wird unter II.2. gezeigt werden.
[9] Vgl. Koch, Manfred: Augenwende. Ingeborg Bachmanns Gedicht An die Sonne. In: Sprache und Literatur Bd. 26 (1995), 208.
[10] Die Zahl der Versfüße steht nicht fest (es können vier oder auch fünf Takte sein); die Taktfüllung wechselt von zwei bis fünf unbetonten Silben. Auch der Auftakt hat nicht nur jeweils eine unbetonte Silbe; mehrere Zeilen beginnen mit zwei Senkungen am Anfang des Verses.
[11] Vgl. Oberle, Mechthild: Liebe als Sprache und Sprache als Liebe. Die sprachutopische Poetologie der Liebeslyrik Ingeborg Bachmanns. Frankfurt am Main 1990, 100.
[12] Zwar spricht der Titel „An die Sonne“ – in Anlehnung an Friedrich von Schillers’ gleichnamige Hymne – für ein Loblied, bedenkt man jedoch, dass die Gedichtstrophen bei Bachmann häufig eine Gegenbewegung zum Titel bilden, kann auch dieses auf eine Ode hinweisende Indiz in Frage gestellt werden.
[13] Vgl. Meyers Lexikonredaktion: Duden (Hrsg.): Das neue Lexikon: in 10 Bänden. Mannheim 1996, Bd. 6, 2269. Die meisten anderen Sterne sind, nach dem heutigen Kenntnisstand im Aufbau und in der Energieerzeugung der Sonne nachempfunden. Ebd, Bd. 9, 3303.
[14] Vgl. Novalis (Novalis: Hymnen an die Nacht. In: Deutsches Gedichtbuch. Berlin und Weimar 1972, 29) der sich in seinen Hymnen an die Nacht von Tag und Licht abwendet und verzweifelt fragt: „Muß immer der Morgen wiederkommen? / Endet nie des Irdischen Gewalt?“.
[15] Vgl. Huml, 293.
[16] Die Frage einer Möglichkeit von Lyrik nach Auschwitz spricht deutlich Adorno an: “Je totaler die Gesellschaft, um so verdinglichter auch der Geist und um so paradoxer sein Beginnen, der Verdinglichung aus eigenem sich zu entwinden. Noch das äußerste Bewußtsein vom Verhängnis droht zum Geschwätz zu entarten. Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben. Der absoluten Verdinglichung, die den Fortschritt des Geistes als eines ihrer Elemente voraussetzte und die ihn heute gänzlich aufzusaugen sich anschickt, ist der kritische Geist nicht gewachsen, solange er bei sich bleibt in selbstgenügsamer Kontemplation.” Adorno, Th. W. Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft. Frankfurt 1976, 30f.
Dagegen bejaht wohl kaum ein Gedicht die Frage nach der Möglichkeit von Lyrik nach Auschwitz so herausragend wie Nelly Sachs’ Gedicht “Chor der Gezeiten”, in welchem – wie in “An die Sonne” ebenfalls die Sonne als Lebenselixier gesehen wird. Strophe 2: “Wir Geretteten, / Immer noch essen an uns die Würmer der Angst. / Unser Gestirn ist vergraben im Staub. / Wir Geretteten / Bitten euch: / Zeigt uns langsam eure Sonne. / Führt uns von Stern zu Stern im Schritt. / Laßt uns das Leben leise wieder lernen. / Es könnte sonst eines Vogels Lied, / Das Füllen des Eimers am Brunnen / Unseren schlecht versiegelten Schmerz aufbrechen lassen / Und uns wegschäumen – “ Nelly Sachs. Gedichte. Frankfurt 1986, 27f.
[17] Einer der poetologischen Texte Bachmanns, das Gedicht “Ausfahrt” zeigt, dass Dichten etwas ist, was die Gemeinschaft braucht: „Da ist etwas mit den Tauen geschehen, / man ruft dich, und du bist froh, / dass man dich braucht.“ (7,1-3). Ingeborg Bachmann: Sämtliche Gedichte, 30. In den 60er Jahren schrieb Bachmann allerdings nur noch ein paar Gedichte und brachte ihre schmerzhaften Erfahrungen auf die Formel: „Nichts mehr wird kommen“. Bachmann, Ingeborg: Werke. Bd. 4. Hg. von Christine Koschel u.a. München/Zürich 1978. Von 1957 bis 1964 schrieb sie ein einziges Gedicht. Vgl. Bartsch, Kurt: Ingeborg Bachmann. Stuttgart/Weimar 1997. 1968 erschienen im Enzensbergerschen Kursbuch die Gedichte „Keine Delikatessen“, „Enigma“, „Prag Jänner 64“ und „Böhmen liegt am Meer“ (Bachmann 1978, 91-95). Bachmanns Zweifel äußerten sich zum einen darin, dass sie kaum noch Gedichte schrieb, andererseits zögerte sie Veröffentlichungen heraus oder sperrte sich gegen Gedichtpublikationen. Vgl. Korte, Hermann: Deutsprachige Lyrik seit 1945. Stuttgart/Weimar 2004, 93. Ihre Skepsis thematisierte Bachmann selbst in dem Gedicht „Keine Delikatessen“: „Nichts mehr gefällt mir gefällt mir. / Soll ich / eine Metapher ausstaffieren / mit einer Mandelblüte? / die Syntax kreuzigen / auf einen Lichteffekt? / Wer wird sich den Schädel zerbrechen / über so überflüssige Dinge – /“ Im Schlussteil des Gedichts spitzt die Autorin ihre Vorbehalte noch weiter zu, indem sie ihre eigenen Anstrengungen ironisiert und im Pathos einer Verweigerungsgeste auflöst. Das „Nichts mehr gefällt mir“ des Anfangs erreicht im Vernichtungswunsch seinen Endpunkt: „Mein Teil, es soll verloren gehen.“ Bachmann, Ingeborg: Sämtliche Gedichte, 182. Mit Höller formuliert, war Bachmanns Kritik „ihre Absage an die ästhetizistische Vermarktung“ von Lyrik und „von der Weigerung getragen, die Unverbindlichkeit der Kunst in der Gesellschaft zu akzeptieren“. Vgl. Höller, Hans: „Schallmauer“ und „In Feindesland“. Zwei späte unveröffentlichte Gedichte von Ingeborg Bachmann. In: Kuchler, Primus-Heinz/Reitani, Luigi (Hrsg.): „In die Mulde meiner Stummheit leg ich ein Wort...“. Interpretationen zur Lyrik Ingeborg Bachmanns. Wien u.a. 2000, 255. 253-263.
[18] Vgl. Huml, 295-6.
[19] Hierfür finden sich in dem Werk Bachmanns viele Belege. Z.B. drückt sich die Not des lyrischen Ich im Gedicht „Nach grauen Tagen“ im Großwerden der Augen aus: „und, oh Gott, nichts wissen mehr / von der Bitterkeit langer Nächte, / in denen die Augen groß werden / vor namenloser Not.“ (Verse 10-13). In: Ingeborg Bachmann: Sämtliche Gedichte, 12. Auch die Liebe drückt sich bei Bachmann in den Augen aus, so z.B. in dem Gedicht „Reigen“: „Reigen – die Liebe hält manchmal / im Löschen der Augen ein, / und wir sehen in ihre eignen erloschenen Augen hinein.“ (Strophe 1). „Wir haben die toten Augen / gesehn und vergessen nie. / Die Liebe währt am längsten / und sie erkennt uns nie.“ (Strophe 3). Ingeborg Bachmann: Sämtliche Gedichte, 45. Im Gedicht „Fall ab, Herz“ wird das Fallen der Blätter von den Ästen (Geschehen in der realen Welt) mit dem Fallen der Tränen aus den Augen (inneres Geschehen) in Verbindung gesetzt: „Fall ab, Herz, vom Baum der Zeit, / fallt, ihr Blätter, aus den erkalteten Ästen, / die einst die Sonne umarmt’, / fallt, wie Tränen fallen aus dem geweiteten Aug!“ Ingeborg Bachmann: Sämtliche Gedichte, 41.
[20] Vgl. Huml, 309, Anm. 77.
- Arbeit zitieren
- Daniela Becker (Autor:in), 2004, Ingeborg Bachmanns 'An die Sonne': Lob- oder Klagelied?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/43078
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